Von Solveig Bleyl

Holly dümpelte auf ihrer Luftmatratze dahin.

Es war ein fantastisches Teil. Silbern, mit speziell beschichteten Gucklöchern im Kopfteil und einer Kordel an der Seite, mit der man die Matratze bequem hinter sich her ziehen konnte.

Das Meer war wunderschön an diesem Morgen: Silbrig, leicht verspielt und angenehm warm.

Holly nahm sich vor, bis zu ihrem Lieblingsplatz zu paddeln: Einer flachen Steinansammlung im auslaufenden Atlantik, mit einer ausgedehnten Sandbank nahebei.

Nur wenige Urlauber schwammen hierher, denn die Sandbank war von Seegras umgeben und in der Nähe der Felsen gab es viele Seeigel.

Holly hangelte sich jedes Mal direkt von ihrer Matratze herüber auf den flachen Fels, sonnte sich da ein Weilchen und ließ sich von der Strömung zurück an den Strand treiben.

Schon oft hatte sie winzige Grundelfische beobachtet, Krabben und auch feine hauchzarte Quallen.

Die „Fenster“ der Luftmatratze waren eine Innovation der modernen Aquanautik. Sie beschlugen nicht und vergrößerten auf wundersame Weise die Unterwasserwelt, ohne sie zu verzerren.

Molly hatte sich schon vor Tagen gerötete Schultern geholt, weil sie über dem Beobachten des Meeres und seiner Bewohner die Zeit vergessen hatte.

Meg und Sue, ihre beiden Freundinnen, die mit ihr diesen Urlaub teilten, hatten sie ordentlich ausgeschimpft und sie anschließend Tag für Tag ermahnt, sich ordentlich einzucremen und am Besten noch ein Tuch auf ihre nautischen Ausflüge mitzunehmen. 

Holly musste leise schmunzeln. Sie liebte diese Mädels, die auf sie aufpassten. Vielleicht weil sie die Jüngste war in diesem Trio?

Mutmaßten sie etwa, sie hätte Flausen im Kopf?

Holly streckte sich auf dem steinigen Untergrund aus, legte sich ihren leichten Schal über 

Gesicht und Hals und döste ein paar Minuten vor sich hin. 

Die Temperaturen waren auszuhalten, denn unter ihr, in einer flachen Felsmulde, hatte sich ein kleiner Meereswasser-Tümpel gebildet, der ihr das Gefühl gab, nicht zu überhitzen.

Nach einer Weile fühlte sie sich jedoch beobachtet. Und tatsächlich: Genau wie an den beiden letzten Tagen näherte sich ihr eine Gruppe junger Männer.

Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, den Felsen, auf dem sie so gemütlich lag, zu umrunden, sich dabei laut zuzurufen und sie dennoch keinen Moment aus den Augen zu lassen.

Andere hätten sich vielleicht belästigt gefühlt, doch Holly verkroch sich wieder unter ihrem leichten Tuch und schmunzelte zufrieden. 

Nach wenigen Minuten kehrte wieder Ruhe ein: Die Bande war abgedreht, so wie auch an den vergangenen Tagen.

Wenn sie zu dröge waren, sie endlich einmal anzusprechen, konnte man ihnen nicht helfen. Phantasielose Kerle hatte Holly noch nie gemocht.

Sie ließ ein paar weitere Minuten verstreichen – vorsichtshalber – und setzte sich dann langsam auf. 

Ja, die Jungs waren weiter gezogen. Als Holly ihre Augen mit der Hand beschirmte, konnte sie sie am Strand Volleyball spielen sehen. Recht so, sollten sie anderen Sand in die Augen streuen! 

Holly gluckste.

Dann zog sie an der Kordel, mit der sie ihre Luftmatratze an einer vorwitzigen Felsnase festgemacht hatte und kletterte vorsichtig auf die schaukelnde Unterlage.

Schnell hatte sie sich ausbalanciert und stieß sich vom Felsen ab. Ruderte ein paar Züge mit beiden Armen und ließ sich dann in der Nähe der Sandbank treiben.

Kleine Luftbläschen, die an die Oberfläche stießen, kündigten nahende Meeresbewohner an. Holly hoffte auf einen Tintenfisch. Doch ein einheimischer Fischer hatte ihr einmal erzählt, die kämen nur nachts an die Oberfläche.

Also legte sich Holly bequem auf dem Bauch zurecht und lugte durch das Sichtfenster. Sie sah wogenden Tang, Muscheln und feine Rillen, die die Wellen in den unterseeischen Sand gegraben hatten.

Mini-Fischschwärme schossen vorbei und schließlich glitzernde Seepferdchen.

Seepferdchen? So weit in Ufernähe?

Holly stutzte und bewegte ihren Kopf. Tatsächlich! Da stießen sie an die Wasseroberfläche und nicht nur das: Mindestens fünfzig von ihnen umrundeten plötzlich ihre Matratze!

Holly sah hektisch um sich, bewegte sich gar so stark, dass sie fast ihren Halt verloren hätte. 

Sie blinzelte und spürte, wie ihr das Herz plötzlich bis hinauf in ihre Ohren pochte. Denn die Seepferdchen waren nicht allein: Winzige blau-silbern glänzende Figuren saßen auf ihnen, hielten klitzekleine Spieße in ihren Händen und drohten mit stummen Gebärden. Holly, die sich gleichzeitig des Irrsinns bewusst war und doch auch wieder nicht, stammelte Beschwichtigungen und versuchte, die kleinen Leute von ihrer Luftmatratze fern zu halten. Schließlich hatte sie keine Lust darauf, im Wasser zu landen und sich die Füße von Seeigeln zerstechen zu lassen.

Noch mehr Luftblasen stiegen an die Oberfläche, gefolgt von purpurnen Quallen, schwarzen Rochen und – man sehe und staune – einem Katzenhai. All diese Wesen gingen in Angriffsstellung. 

„Wenn ihr mich doch …“, stammelte Holly und versuchte aus ihrer ungünstigen Liegeposition heraus, die Arme friedvoll zur Seite zu strecken, um Kapitulation anzuzeigen.

Der Katzenhai schwamm näher. Seinen Kopf zierte ein goldenes Geschirr, an dem sich ein besonders interessantes Wesen festhielt: Es schien sich um eine Art General zu handeln.

Denn sobald er seinen rechten freien Arm ausstreckte, verharrten die anderen Figuren beinahe bewegungslos.

Das winzige Gesicht des Generals sah unerschrocken zu Holly auf. Er besann sich einen Moment und rief dann mit dumpfer Stimme: „Wer bist du und was willst du in unserem Land?“

„Ähm, eurem Land?“, machte Holly verblüfft.

„Jawohl. Du befindest dich im Staate Atlantis. Im Königreich Nestors, des 13.ten.“

„Oh, angenehm“, stammelte Holly.

„Was meinst du damit?“, brüllte der Mini-General.

„Ich meine … ich fühle mich geehrt, eure Bekanntschaft zu machen!“

„Du wurdest nicht eingeladen!“, blökte der Kleine zurück.

„Nein. Das ist mir schon klar. Aber ich wusste überhaupt nichts von eurem … Staat und selbstverständlich will ich euch nichts Böses“, erklärte Holly schnell.

„Selbstverständlich nicht. Wir würden dich vernichten!“

Oh je, dachte Holly bei sich. Dieses Land ist verrückt.

Was sollte sie jetzt tun?

„Wenn ihr mich einfach umkehren lasst, zurück in mein eigenes … Reich, dann verspreche ich, dass ich nie wieder hierher zurückkehre und natürlich auch niemandem von euch erzähle!“

„Schwöre!“, befahl der General.

„Ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist.“ Holly hob vorsichtig die rechte Hand.

„Schwöre gefälligst bei allem, was uns heilig ist!“

Natürlich, dachte Holly wiederrum.War ja abzusehen!

„Gut. Dann schwöre ich auf … Neptun?“

„Willst du uns veralbern?“, brüllte der General mit hochrotem Kopf und auch die anderen Wasserwesen begannen wild durcheinander zu brüllen und fuchtelten wütend mit ihren Waffen.

Herrje. Was sollte denn das wieder bedeuten?

Holly spürte eine herauf ziehende Migräne.

„Entschuldigung. Auf wen oder was soll ich denn bitte schwören?“, beeilte sie sich zu sagen.

„Unmissverständlich auf Nestor, den 13.ten. Dummes Ding!“

In Holly wuchs die Empörung. Doch der Wunsch, nicht doch noch in den Seeigeln zu landen, überwog.

„Na schön: Ich schwöre auf Nestor, den 13.ten, euren geliebten Herrscher, dass ich niemals wiederkehren werde. Noch werde ich einer Menschenseele von euch erzählen!“ 

Der General nickte und gab seiner Meute den Befehl zum Rückzug. In Null-Komma-Nichts waren alle abgetaucht und nur ein paar verlorene Blubberbläschen zeugten noch von ihrem Auftritt.

Holly schöpfte eine Ladung Wasser und ließ es auf ihren überhitzten Kopf herunterprasseln. 

Dann drehte sie benommen bei, ruderte mit lang ausgestreckten Bewegungen dem Urlaubsstrand zu und nahm sich fest vor, niemals ein Wort über das Geschehene zu verraten.

Und dennoch war ihr klar: In Zukunft würde sie das Meer und all seine Bewohner mit anderen Augen sehen.