Von Birgit Wolf

Während Hanna mit entschlossenen Schritten die Straße entlang ging, befühlte sie den Stein in ihrer Jackentasche, drehte ihn langsam hin und her, ließ ihn weich durch ihre Finger gleiten, spürte nach dem Loch in der Mitte, glitt mit den Fingerkuppen über die kleinen Ecken und Unebenheiten und fand so auch die glatten Stellen, die sie so gerne berührte. Eine beruhigende Angewohnheit. Den Stein trug sie immer bei sich, hatte ihn vor Jahren von ihrem Mann geschenkt bekommen, ein Fundstück während eines gemeinsamen Spaziergangs am Ostseestrand. 

„Für immer wir, so wie dieser Stein für immer dieses Loch trägt“, das wusste Hanna von diesem Moment an, auch wenn Ole das so nicht ausgesprochen hatte, sie wollte für immer mit diesem Mann zusammenbleiben. Damals waren sie noch nicht verheiratet gewesen und Ole hatte ihr erklärt, dass man solche Steine mit einem Loch in der Mitte Hühnergott nennt. Was für ein lustiges Wort, so gar nicht passend zu einem Stein, hatte sie gesagt. Aber durchaus passend zu ihrer Verbindung, leicht und offen mit einem Gefühl der Verbundenheit von Beginn an. Sie waren zu der Zeit noch nicht sehr lange ein Paar, schwebten während dieses sonnigen Wochenendes am Meer auf einer Wolke der ersten großen Verliebtheit. Viele hätten es kitschig gefunden, aber der Stein, dieser Hühnergott war für Hanna das Symbol ihres Glücks geworden. Er war die Verbindung zwischen Ole und ihr, hielt sie als Paar zusammen wie ein Ring durch sein Loch in der Mitte, das so unendlich viele Jahre gebraucht hatte, um sich zu bilden. Viel länger als mehrere Menschenleben, viel länger als viele glückliche Beziehungen je dauern konnten.

 

Oh, beinahe stieß Hanna mit einer Frau auf ihrem Fahrrad zusammen, weil sie ohne richtig zu schauen, völlig in ihre Gedanken versunken, eine kleine Nebenstraße überquerte. Die Frau kam gehörig ins Schlingern, konnte sich aber gerade noch fangen und machte mit einem laut fluchenden „Meine Güte…geht’s noch!? Passen Sie doch auf!“, ihrer Verärgerung Luft. „Sorry, tut mir leid“, rief Hanna ihr hinterher, während sie immer wieder fest nach dem Stein griff, wie um sich zu vergewissern, dass ihr nichts Schlechtes passieren konnte. Sie fühlte nun ihre Aufregung, denn sie war auf dem Weg zu Ole, der etwa zwanzig Fußminuten von ihr entfernt vor vier Monaten in eine eigene kleine Wohnung gezogen war. Für eine Trennung auf Zeit, darum hatte Hanna diese Wohnung auch nie sehen wollen. Sie hätte das als schlechtes Omen empfunden. Heute war sie auf dem Weg zu ihrem ersten Wiedersehen seit der Trennung. Ole hatte vor zwei Tagen angerufen und gemeint, er wolle sie gerne treffen, mit ihr reden, und sie hatte sich unbedarft und voller Vorfreude auf das Treffen in seiner Wohnung eingelassen. 

 

Hanna blieb einen Augenblick stehen, um sich zu sammeln, bevor sie nun viel langsamer als vorher weiterging. Trennung auf Zeit, zum ersten Mal dachte sie bewusst darüber nach, was daraus auch werden konnte. 

Sie hatten sich in den Jahren ihrer Ehe, die Hanna immer als glücklich erschienen war, irgendwann doch aus den Augen verloren und eine vorübergehende Trennung beschlossen. Denn natürlich herrschte während dieser langen Zeit auch in ihrer Beziehung nicht nur eitel Sonnenschein. Es gab kleine Krisen wie bei anderen Paaren auch, aber die hatten sie immer gemeistert. Doch irgendwann machte Ole mehr und mehr sein eigenes Ding, arbeitete lange, ging dann häufig noch zum Sport oder verschwand stundenlang in seinem Arbeitszimmer. Hanna tat es ihm gleich und unternahm viel ohne ihn, warum auch nicht, wurde aber immer unzufriedener. Sie stritten nun häufig und irgendwann stellten sie fest, es musste etwas geschehen, wenn sie wieder zueinander finden wollten. 

 

Tief in Gedanken verlangsamte Hanna ihre Schritte noch mehr und blieb schließlich vor dem Schaufenster eines Reisebüros stehen. Als würde sie sehr interessiert sein, studierte sie die Reiseangebote, die dort angeschlagen waren. Dabei erfasste sie aber kaum etwas, sondern dachte an die letzten vier Monate ohne Ole. 

Ihr war die Trennung nur anfangs ein wenig bedrohlich erschienen, denn sie hatte ja den Stein, glaubte unerschütterlich an einen Neuanfang. Für sie hatte sich der Kreis nach jeder gemeinsamen Krise immer wieder geschlossen, so wie das Loch im Stein auch ein ewiger Kreis war. Natürlich würden sie das jetzt auch schaffen.

Hanna begann darum die Zeit allein tatsächlich zu genießen, schließlich hatte so ein Leben als Single auch seine Vorteile. Sie traf sich sogar ein paar Mal mit anderen Männern, einer von ihnen kam ihr dabei mehr als nahe. Freiheit, tun und lassen können was sie wollte, sie hatte ganz vergessen, wie gut sich das anfühlen konnte. Unbeschwerte Abende mit den Freundinnen, keiner, auf den sie Rücksicht nehmen musste, wenn sie alleine war. Es gab Schlimmeres. 

Ihr Stein, der schöne Hühnergott, war ja immer dabei und lag nun auch nachts auf dem kleinen Tischchen neben Hannas Bett. Er war ihre Sicherheit. Von Ole hatte sie während der ganzen Zeit weder etwas gehört noch gesehen, dem aber keine allzu große Bedeutung beigemessen. Es war schließlich so abgemacht, kein Kontakt in dieser Phase. 

 

Abrupt schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf und sie löste ihren Blick von den bunten Plakaten im Schaufenster des Reisebüros. Als sie sich umdrehte, um sich wieder auf den Weg zu machen, stolperte sie fast über eine hochstehende Gehwegplatte. Die Erkenntnis traf sie in diesem Moment hart, wie hatte sie so lange erfolgreich verdrängen können, dass Ole sie im Jahr vor der Trennung mit einer anderen Frau betrogen hatte?! Sie hatte das tatsächlich während der letzten Monate vollkommen ausgeblendet. Es war nur ein Ausrutscher gewesen, mehr nicht, sagte sie sich damals und sofort beschlossen, an nichts anderes, als einen Neuanfang glauben. Wieder blieb sie einen Augenblick stehen, zögerte kurz, setzte dann aber entschlossen ihren Weg fort. 

 

Zehn Minuten später war Hanna vor dem Haus angekommen, in dem Ole jetzt wohnte. Nur einmal hatte sie es sich von außen angesehen, als sie mit dem Auto daran vorbei gefahren war. Der Hauseingang stand offen und sie lief, ohne auf den Fahrstuhl zu achten, die vielen Stufen zu Oles Dachgeschoßwohnung mit schnellen Schritten nach oben. Wohl ein wenig zu schnell, denn dort angekommen schnappte sie mit klopfendem Herzen nach Luft. Aus der Wohnung klang Rockmusik und Hanna musste unwillkürlich lächeln. Ole liebte Rockmusik. Während sie an der Haustür klingelte, umfasste sie noch einmal fest den Stein und verdrängte mit dieser Geste erfolgreich eine erneut aufkeimende Unsicherheit. 

 

Da stand er, ihr Mann, für Hanna schien die Zeit der Trennung in diesem Augenblick wie weggewischt. „Hallo… da bist du ja“, sagte er und wirkte ein wenig verlegen, „danke, dass du gekommen bist“. „Warum danke?“, dachte sie irritiert während Ole einer Umarmung auswich. Er bugsierte sie sogleich am Wohnzimmer vorbei in die Küche und Hanna ließ im Vorübergehen neugierig ihren Blick durch den fast perfekt eingerichteten Raum schweifen. Ein bisschen zu perfekt, war das überhaupt sein Stil? Erst in der Küche nahm Ole ihr die Jacke ab und warf sie mit Schwung auf einen Hocker in der Ecke. Dabei fiel der Stein heraus. Da lag er nun vor ihnen auf dem Boden, ihr Hühnergott. Wortlos starrten sie ihn an. Hanna war wie gelähmt, denn schlagartig erkannte sie ihre eigene Naivität.