Von Barbara Maahs

„Susanne, der Harry sitzt in der Küche, redet unverständliches Zeug und guckt nur blöd auf den Kühlschrank!“, schreit Oma Elke aufgeregt ins Telefon.

„Hast du getrunken?“, frage ich irritiert. „Warum ist mein Mann um diese Zeit in der Küche?“

„Du musst sofort kommen. Ich weiß nicht was ich machen soll!“, höre ich noch, dann ist die Leitung tot.

 ‚Mist‘, denke ich, ‚das kann ich jetzt nicht gebrauchen.‘

Ich sitze an meinem Schreibtisch und überlege nervös was ich nun tun soll, denn ich habe gleich einen wichtigen Kunden, dem ich meinen Entwurf für den Umbau seiner Geschäftsräume präsentieren möchte.

‚Was ist denn nur zuhause los? Wieso ist Harry denn schon da? Der hatte doch heute wichtige Kundengespräche in der Bank? Und wieso hat Oma Elke aufgelegt? Die ist ja immer hektisch, wenn es um ihren Sohn geht, aber einfach aufgelegt hatte sie noch nie. Nein, ich habe keine Ruhe, bis ich mich selbst vergewissert habe, was dort los ist.‘

Ich schnappe meine Tasche und gehe in die Teeküche, in der mein Assistent Günther gerade den Kaffee für die Besprechung kocht.

„Günther, kannst du die Präsentation übernehmen? Du kennst sie so gut wie ich. Ich muss nach Hause. Irgendetwas stimmt da nicht“, bitte ich ihn.

„Aber sicher kann ich das. Fahr los!“

Ich atme auf und renne in die Tiefgarage. Ich setze mich in mein Auto und fahre los. Ich achte auf keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Freizeitfahrer, die glauben, dass in der Innenstadt die Höchstgeschwindigkeit 20 km/h beträgt, werden erbarmungslos von mir zur Seite gehupt. Mein Adrenalinpegel treibt mich an. Meine Gefühle befinden sich im Wechsel zwischen Zorn und Angst.

In der Einfahrt unseres Grundstückes endlich angekommen, parke ich rasant neben dem Auto meines Mannes. Der Kiesbelag auf dem Hof spritzt hoch. Schnellen Schrittes gehe ich ins Haus.

Komisch? Alles ist ruhig. Ich atme langsam aus und gehe weiter. Erst als ich an der Küche ankomme höre ich leises Brabbeln, wie von einem Kleinkind und zwischendurch wirres Gekicher. Ich gehe hinein.

Harry sitzt mit dem Rücken zu mir auf einem Stuhl und es sieht so aus, als ob er mit dem Kühlschrank redet. Oma Elke kommt mir entgegengelaufen und spricht unverständliche Wortfetzten.

„Guck Harry… dir an schlecht…“

‚Häh?‘

Statt einer längeren Antwort gehe ich an ihr vorbei zu Harry. Der steht gerade auf, streichelt den Kühlschrank und gibt ihm einen Kuss. Ein weißer pudriger Abdruck bleibt zurück. Ich bekomme eine Gänsehaut. Vorsichtig fasse ich ihn an und führe ihn zurück zum Stuhl. Ich gehe in die Hocke und mit einem unguten Gefühl sehe ich Harry an.

„Harry, was ist los mit dir?“

Er hebt den Kopf und schaut durch mich durch, er nimmt mich gar nicht wahr. Seine Krawatte ist verschmiert und hat einen großen Fleck, der aussieht wie Konfitüre. Er knabbert an einem Keks. Der ist voller Puderzucker, welcher auf sein Hemd gerieselt ist.

‚Aha, das klebt auf dem Kühlschrank.‘

Verletzungen scheint er keine zu haben. Harry fängt an zu singen:

„Sugar in the Morning…“

‚Ist das nicht Dinner for one?‘, denke ich noch überflüssigerweise, als ich mich erhebe und zu Oma Elke schaue.

Diese hat sich an den Küchentisch gesetzt, reibt sich nervös die Hände und sieht mich an.

„Seit wann ist er so?“, frage ich sie ungehalten.

„Weiß ich nicht genau“, sagt sie nervös. „Ich war im Garten und als ich wieder hereinkam saß er schon so da.

“ Wieso ist Harry überhaupt hier?“

„Weiß ich auch nicht. Was machen wir denn jetzt?“ fragt sie verzweifelt.

„Wir müssen einen Arzt rufen“, sage ich energisch zu Oma Elke.

Während ich das ausspreche, fällt mein Blick auf den Küchentisch und ich sehe, dass dort mehrere Keksdosen stehen.

„Hast du wieder gebacken?“, frage ich.

„Ja, Kekse für den Altentreff morgen.“

Ich öffne eine Dose. „Warum riechen die so komisch?“

„Wie komisch?“

Wir hören beide, wie jemand die Haustür aufschließt, und mein Sohn Jens betritt die Küche. Er kommt gerade vom Joggen und schaut uns verschwitzt an.

„Mama, wieso bist du denn hier?“, fragt er verdutzt, und als er unsere verwunderten Blicke sieht, fügt er hinzu: „Was ist denn los?“

„Deinem Vater geht es nicht gut“, entgegne ich ihm.

Erst jetzt sieht Jens seinen Vater vor dem Kühlschrank sitzen.

„Paps kam gerade nach Hause, als ich Joggen ging. Er hatte tierischen Hunger und wollte sich nur kurz ein Brot machen, zehn Minuten hinlegen und dann wieder ins Büro fahren. Was ist denn passiert? Wieso wirft er dem Kühlschrank Kusshände zu?“

Und wirklich. Harry wirft dem Kühlschrank mit der flachen Hand Kusshände zu und gluckst glücklich.  

Dann fällt Jens‘ Blick auf die geöffneten Keksdosen. Er wirkt erschrocken und weicht meinem Blick aus.

„Was ist mit den Keksen?“, will ich barsch wissen.

„Woher soll ich das wissen? Ich habe die doch nicht gebacken“, erwidert er trotzig.

„Die riechen nach Gras!“  

„Woher willst du denn wissen, wie Gras riecht?“, fragt er mich provozierend.

„Ich war auch mal jung“, kontere ich.

Harry kichert vor sich hin, als wenn der Kühlschrank ihm einen Witz erzählt hätte.

Oma Elke ist irritiert: „Wie Gras, was für Gras denn? Vom Rasen draußen?“

„Also ich warte auf eine Erklärung, bevor ich den Arzt anrufe und wir uns hier vielleicht alle lächerlich machen!“, sage ich gereizt zu meinem Sohn.

Er fährt sich mit den Händen durch seine kurzen Haare und windet sich.

„Also, äh …, die Oma hat doch immer erzählt, dass auf diesen Altentreffs die Alten immer nur über ihre Krankheiten reden. Und dass sie das so traurig macht. Und sie darüber nachdachte, nicht mehr dort hinzugehen. Also habe ich mir gedacht, dass ich in das Kürbiskernöl, welches sie als Geheimzutat für ihre Kekse verwendet, etwas Cannabis-Öl schütte, damit die Alten mal auf andere Gedanken kommen.“

Ich blicke ihn erstaunt an und mir fällt ein, dass Oma Elke letzte Woche gesagt hatte, dass im Altentreff getanzt wurde. Und sie wollen in die Spielbank nach Aachen fahren. Hatte mich damals schon gewundert, wie aktiv die Herrschaften geworden sind.

„Könnt ihr mal für 80jährige erklären, was hier los ist!“, fragt Oma Elke ungehalten.

„Dein Enkel hat Drogen unter dein Kürbiskernöl gemischt!“

 „Unter das Kürbiskernöl? Wieso? Aber…, aber davon habe ich heute mehr genommen!“, ruft Oma Elke entsetzt.

„Und wie kommst DU überhaupt an Cannabis-Öl?“, schreie ich meinen Sohn an.

Jens windet sich wieder und die Schweißperlen auf seiner Stirn stammen nicht mehr vom Joggen. „Ein Kumpel von mir stellt …“

„Ach, halt den Mund! Darüber unterhalten wir uns später. Viel wichtiger ist jetzt, wieviel Harry von den Keksen gegessen hat? Oma Elke?“, frage ich laut.

„Weiß ich nicht“, sagt Oma Elke und sieht sich den Inhalt der Dosen an.

„Eine Dose ist ganz leer, dann 20 Stück.“

“Was hat Papa denn?“, fragt Jens.

„Dein Vater ist stoned!“, schnauze ich ihn an.

„Aber doch nicht von 20 Plätzchen!“, erwidert pampig Jens.

„Dein Vater nimmt Medikamente, das hat wahrscheinlich die Wirkung verstärkt. Ich könnte dich ohrfeigen! Wie kommt man auf eine so beschissene Idee? Komm, hilf mir Papa ins Bett zu bringen. Und du, Oma Elke, entsorgst die Kekse! Dann rufe ich Onkel Manfred an. Der ist schließlich Arzt und muss wissen, was noch zu tun ist. Und als krönenden Abschluss, mein lieber Sohn, führen wir ein ernstes Gespräch über dich und deine guten Freunde.“

Jens und ich versuchen Harry aus dem Stuhl zu heben, aber dieser versucht den Kühlschrank zu umarmen und sich an ihm festzuhalten. Endlich schaffen wir es, ihn zwischen uns zu nehmen, und Richtung Schlafzimmer zu führen. Auf dem Weg dorthin flüstert Oma Elke ihrem Enkel Jens ins Ohr:

„Die waren wirklich besser drauf und keine Rede mehr von ihren Krankheiten.“

Jens zwinkerte ihr zu. Oma Elke dreht sich um und wartet bis alle aus der Küche gegangen sind. Sie geht zum Vorratsschrank in der Küche und holt vier Packungen mit gekauften Keksen heraus, die vom Äußeren her, den ihren sehr ähnlich sind. Sie öffnet den Abfalleimer und zerbröselt summend die gekauften Kekse. Danach schließt sie den Abfalleimer und nimmt ihre gefüllten Keksdosen mit in ihr Schlafzimmer.

 „Wäre doch zu schade, alle wegzuschmeißen, wo die doch eine so gute Stimmung verbreiten. Wer Medikamente bekommt darf halt nicht so viele essen. Und für die nächsten Kekse muss ich mal mit Jens sprechen. Als Azubi kann der einen kleinen Zuverdienst bestimmt gut gebrauchen.“

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