Von Peter Burkhard   

Der verdrossen dreinblickende Kerl auf dem Bild bin ich. Elfie hat das Malheur kürzlich festgehalten, nachdem sie mir zuvor einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. Der ganze Vorfall war gewissermassen das i-Tüpfelchen auf zwei bereits schon irritierende Wochen.

* * *

Beim Erwachen am vorletzten Sonntagmorgen fragte ich mich ernsthaft, ob es in Costa Rica erlaubt wäre, Hunde kurzerhand zu erschiessen.
Der Gedanke kam mir nicht ohne Grund. Auf der Strasse vor meinem Fenster und in den Vorgärten der Nachbarschaft hatten die beschränkten Vierbeiner des Dorfes nächtens um die Wette geheult, gejault und gekläfft. Nicht die ganze Nacht, nein, sie hatten erst damit begonnen, nachdem ich mein Buch zugeklappt und das Licht gelöscht hatte. Wie wenn er auf dieses Zeichen gewartet hätte, eröffnete der Köter vor dem Haus gegenüber das Konzert. Und wie bei den Vögeln, die jeweils lustvoll den anbrechenden Tag begrüssen, stimmte zuerst einer, dann ein nächster und schlussendlich der hinterste und letzte Kläffer in die nächtliche Ruhestörung ein. Das Gebelle artete schliesslich in eine Kakofonie aus, die mir gewaltig auf die Nerven ging.

Ich muss hier etwas klarstellen: „Ich mag ohnehin keine Hunde. Ich habe sie noch nie gemocht, nicht einmal dann, wenn sie sich ruhig verhalten. Für mich sind sie schlicht und einfach unnütze Kreaturen, denen ich möglichst ausweiche oder von denen ich zumindest erwarte, dass sie mich ignorieren und mich in Ruhe lassen. Noch viel weniger mag ich deren Besitzer. Sie sind es letztlich, welche das Verhalten ihrer tierischen Begleiter zu verantworten haben und dabei meist versagen.“

Um nach dieser ruhelosen Nacht die Müdigkeit aus meinen Gliedern zu vertreiben, duschte ich. Anschliessend trat ich vor die Tür. Es regnete leicht, damit floss gleichsam Wasser auf die Mühle meiner schlechten Laune. Natürlich war jetzt nirgends einer der Ruhestörer zu erblicken, die feigen Hunde hielten sich wohlweislich versteckt. Vermutlich schliefen sie sogar, um sich von ihren schlafraubenden Eskapaden zu erholen.
Wenig später verliess ich meine Unterkunft. Dieses Haus am Ende der leicht ansteigenden Strasse gehört zur Sprachschule „Montaña Linda“, in welcher Studierende aus aller Welt ihre Spanischkenntnisse erweitern.
Als ich die Tür abschloss, drehten sich meine Gedanken bereits um das opulente Frühstück, das mich erwartete und auf welches ich mich trotz schlechter Laune freute.
Dann gefror meine Hand an der Türklinke.
An der Hauswand unter einem Rosenstrauch, keinen Meter von mir entfernt, lag ein Hund. Ein grosser, grauer, glatthaariger Jagdhund, der in gesundem Zustand ein stattliches Tier abgegeben hätte. Diesen Vierbeiner hatte ich zuvor noch nie gesehen. Erschrocken sprang er auf und entfernte sich einige Meter, um mich aus sicherer Distanz zu beobachten.
Noch immer durch die nächtlichen Unruhestifter aufgebracht, schnauzte ich ihn an: „Du elendes Mistvieh. Was wagst du dich hierher? Hau bloss ab!“ Dann, ohne dem Tier weitere Beachtung zu schenken, wandte ich mich ab und verliess das Grundstück über eine kleine steinerne Treppe.
Unweit meiner Unterkunft, nur zwei Parallelstrassen entfernt, befinden sich zwei der wenigen Gaststätten des Ortes. In der einen, unten an der Strasse, serviert Haydee lokale Gerichte, in der anderen am oberen Strassenende offeriert Luang, Haydees chinesischer Ex-Mann, Speisen seines Heimatlandes.
Ich esse lieber beim Chinesen. Aber an diesem Morgen, mit dem Gallo Pinto, dem traditionellen costa-ricanischen Frühstück vor meinem geistigen Auge, steuerte ich zügigen Schrittes auf Haydees Lokal zu.
Zwei Stunden später kehrte ich gesättigt und guten Mutes zu meiner Bleibe zurück. Der fremde Köter lag noch immer vor dem Haus. Wieder sprang er auf und lief einige Meter von der Mauer weg. Ganz offensichtlich plagten ihn Schmerzen am rechten Hinterlauf, es fiel mir auf, weil er humpelte. Diesmal strafte ich ihn bloss mit schweigender Verachtung.
In den folgenden Tagen wich der verdammte Störenfried nicht mehr von der Stelle. Sein Gesundheitszustand schien sich zusehends zu verschlechtern, eine Entwicklung, die ich erst kaum zur Kenntnis nahm. Allein schon die Anwesenheit des Tieres enervierte mich.
Wenn ich von nun an das Haus verliess oder betrat, vermochte das kränkelnde Wesen schon bald kaum mehr aufzuspringen, geschweige denn wegzulaufen. Manchmal, wenn es nicht im Schutz der Hausmauer lag, stand es einfach da, bis auf die Knochen abgemagert, die Vorderbeine weit gespreizt, das kranke Hinterbein seltsam verdreht. Mit der Zeit hob es nicht einmal mehr den Kopf, sondern schaute mich nur an mit seinen unendlich traurigen Augen. Ach jemine, welch erbärmliches, verachtenswertes Individuum!
Was dann geschah, bleibt mir bis heute unbegreiflich.
Mit einem Mal, ich habe nicht die leiseste Ahnung warum, begegnete ich dem dahinsiechenden Hundevieh mit anderen Augen. Ein bis dahin unvorstellbarer Wandel stellte sich bei mir ein, ich verspürte doch tatsächlich Mitgefühl mit diesem Geschöpf. Nicht, dass ich ihn fütterte oder ihm zu trinken gab, soweit reichte meine Anteilnahme nicht. Aber die Verachtung für den Vierbeiner wich einer gewissen Betroffenheit, der ich nichts entgegenzusetzen hatte. Sogar etwas Mitleid ergriff mich beim Anblick des Wracks. Sollte er halt hier sterben, solange er sich ruhig verhielt.
Aber ich blieb skeptisch. Aus irgendeinem Grund misstraute ich der Sache, und ich sollte mich nicht getäuscht haben. Der Kerl vor dem Haus entpuppte sich nämlich als elender Bluffer, als mieser Gauner, wie ich es von diesem Vierbeiner doch nicht anders erwartet hatte. Zwar lag er tagsüber weiterhin mit blutunterlaufenen Augen und leidendem Blick an der Hauswand und mimte den Sterbenden. Eines Nachts aber, ich ertappte ihn dabei in flagranti, hetzte und tollte er mit einem anderen Strassenköter durch den Garten und war behände wie ein junges Reh. Dieser jämmerliche Simulant hatte mich doch tatsächlich gelinkt!

Beim nächsten Zusammentreffen mit Haydee musste ich entsprechend Dampf ablassen: „Stell dir vor, wie mir zumute ist. Ich habe ihm grosszügig Gastrecht vor dem Haus gewährt und er missbraucht mein Vertrauen aufs Übelste! Kannst du dir vorstellen, wie hintergangen ich mich fühlen muss?“
Haydee nickte teilnahmsvoll: „Ich kann dich gut verstehen. Die Hunde sind zu einer wahren Plage geworden in unserem Dorf, aber das scheint niemanden zu kümmern.“ Sie bedeutete mir, mich zu setzen und verschwand wortlos in der kleinen Küche. Als sie kurz darauf mit einem erfrischenden Drink zurückkehrte, huschte ein kaum wahrnehmbares Lächeln über ihren Mund und ein listiges Funkeln entsprang ihren dunklen Augen.

Als ob der Übeltäter etwas geahnt hätte, liefen wir uns an diesem Abend – es war zu seinem Vorteil – nicht mehr über den Weg.

Am Freitagmorgen stellte der Chinese eine mit Kreide sauber beschriftete Werbetafel an den Strassenrand:
Súper oferta – 炒面 special Chow Mein – ₡ 2000 – te esperamos.
Dieses Angebot bot mir eine willkommene Gelegenheit, um den noch immer festsitzenden Ärger bei einem feinen Mahl und mit einem Schluck Bier hinunterzuspülen.
Luang, den ich schon eine Weile nicht mehr besucht hatte, war sichtlich erfreut über mein Erscheinen: „Ah Mister Joey, noch immer leben? Habe lange nicht gesehen, treten ein bitte!“ Er wies mir meinen Lieblingstisch zu und nahm lächelnd meine Bestellung auf. Er, der sonst nie lächelte. Nie. Dann entfernte sich der Chinese schlurfend in Richtung Küche.
Nur wenige Minuten später, mein Bierglas war noch halb voll, erschien Luang bereits wieder. Mit einer leichten Verbeugung stellte er einen grossen Teller dampfender Nudeln vor mich hin und wandte sich darauf lächelnd einer neu hinzugekommenen Gruppe hungriger Mäuler zu.
Als ich spätabends vom Ausgang heimkehrte, nahm ich erleichtert zur Kenntnis, dass der Hund, wie schon seit drei Tagen nicht mehr vor dem Haus lag.

* * *

Elfie hatte nicht locker gelassen: „Gut, wenn du heute Abend zum Chinesen gehst, dann kommst du halt morgen. Jetzt zier dich nicht, morgen abend bei mir, wir sind zu dritt. Ich habe Joanne noch eingeladen und mir den Kultfilm Big Fish ausgeliehen, also keine Widerrede!“
So sassen wir jetzt also zu zweit wartend vor dem angehaltenen Streifen bei Cerveza Imperial, gefüllten Crackers und matschigen Essiggurken, während Joanne auf dem Klo weilte. Unvermittelt stand Elfie auf, holte eine winzige Kamera aus einer Kommode und hantierte damit herum. „Wenn Joanne zurück ist, machen wir noch ein Selfie, bevor ich es vergesse. Übrigens, wie wars gestern beim Chinesen, haben die gebratenen Nudeln geschmeckt?“
„Ja, das kann man sagen, es war deliziös. Er muss ein neues Rezept oder andere Zutaten als üblich verwendet haben. Auf jeden Fall wars köstlich und zudem ein speziell günstiges Angebot!“
Sie schüttelte den Kopf: „Ich gehe lieber in lokale Restaurants, ich mag die asiatische Küche nicht besonders.“ Elfie richtete ihre Kleinbildkamera auf mich und linste durch den winzigen Sucher. „Fried Rice mag ja noch angehen, aber nachdem ich vor langer Zeit gelesen habe, welches Getier bei den Chinesen schon mal im Kochtopf landet …“
„Häääh?“ Mir stockte kurz der Atem, bevor ich heftigst auf den Cracker biss und Elfie abdrückte.

 

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