Von Max Siegel

„Was war das gestern Abend? Du hast mir erzählt, dass dein Bruder etwa zur gleichen Zeit das Internat „Lyceum Alpinum“ in Zuoz besuchte wie ich?

„Ja, ich habe ein Diplom in deinem Büro gesehen, welches mich sofort an meinen Bruder erinnerte.“

„Hmm, wie war denn sein Name?“

„Walter Gebhard!“

„Walter…Walter Gebhard? Ohh ja, „Gebi der Stinker“, so nannten wir ihn. Jetzt erinnere ich mich. Er hatte immer ein bisschen übel gerochen, ich glaube er hatte eine Krankheit mit der Leber oder der Niere, welche seine Ausdünstung beeinflusste. Aber sag mal, dein Nachname ist ja nicht Gebhard, sondern Wittlin, wie kann er dann dein Bruder sein?“

Sie sass auf der kleinen Mauer, welche die Terrasse abschloss. Hinter ihr sah man in der Frühjahressonne den Lago Maggiore glitzern und die Berge des Monte Rosa Massives strahlen. Vor zwei Monaten stand sie vor seiner Türe. Sie stellte sich als Patrizia Wittlin vor, Kunststudentin an der „Scuola dai pittore e scultore“ in Villa. Sie klaubte einige Bilder hervor, welche sie in einer Mappe bei sich trug und von Tür zu Tür verkaufen wollte. Ein Bild gefiel ihm besonders gut und sie wurden schnell handelseinig. Er fragte sie, ob sie nicht mit ihm zu Mazzotti komme, um einen schönen Rahmen für das Bild zu kaufen? Dies war aber mehr ein versteckter Flirtversuch, um sie wieder treffen zu können. Denn Patty sah nicht übel aus. Nein, sie wirkte sogar sehr attraktiv und sympathisch auf ihn. Schwarze lange Haare die sie zu einem Rossschwanz zusammen gebunden hatte, blaue schelmische Augen und sie trug ein weisses weites Herrenhemd über sehr engen zerrissenen Jeans. Sie passte genau in sein Beuteschema. Er freute sich deshalb als sie einwilligte.

Er traf sie zwei Tage später in Locarno auf der Piazza Grande. Sie gingen ins Rahmengeschäft und suchten einen schlichten Goldrahmen mit Passpartout aus. Anschliessend offerierte er ihr ein Nachtessen in der „Osteria del Centenario“, einem 15 Punkte Schuppen nach Gault Milleau Bewertung. Während sie Risotto mit Meeresfrüchten assen und dazu einen Pinot grigio genossen erzählte sie viel über sich.

Ihre Eltern wären reich, sie wollen ihr das gewünschte Kunststudium aber nicht finanzieren, da sie lieber hätten dass sie Jura studiere. Patty solle einst die Anwaltskanzlei ihres Vaters übernehmen. Da ihr zehn Jahre älterer Bruder in den Bergen tödlich verunfallte, konnte nicht wie vom Vater geplant die Kanzlei an ihn vererbt werden. Deshalb ist der sehnlichste Wunsch der Eltern, dass sie einst als zukünftige Chefin von Wittlin & Partners Anwaltskanzlei AG die Nachfolge antrete.

„Verdammt ich will das aber nicht“ ihre Stimme überschlug sich als sie dies erzählte. Sie hat deshalb ihren Willen gegen den Wiederstand ihrer Eltern durchgesetzt und sich an der Academia d’Arte angemeldet. Ihr fehle aber klar die finanzielle Unterstützung der Eltern. Sie arbeitet aus diesem Grunde zwischendurch in einer Bar, oder lebe vom Verkauf ihrer Bilder. Patty schaute ihn mit traurigen Augen an:

„So ein Essen wie jetzt mit dir ist deshalb wie Ostern und Weihnachten zusammen. Vielen Dank.“

Er schlug ihr vor in sein Haus in Vira zu ziehen, als sie erzählte in einer alten Bruchbude in Bellinzona zu hausen.

„Ich habe genügend Platz, ich kann dir ein Zimmer mit separatem Eingang bieten, gleich neben dem Swimming-Pool.“

Er wartete auf ihre Antwort, aber sie zögerte. „OK, du zahlst mit symbolisch eine Miete von 5 Franken im Monat. Dafür kochst du ab und zu unser Nachtessen.“ Sie war einverstanden und schlug ein.

Zwei Wochen später zog sie bei ihm ein, mit Sack und Pack. Am meisten Umzugs-Aufwand boten all die Mal-Utensilien und Farbtöpfe, bei welchen er sie mit seinem Geländewagen tatkräftig unterstützte. Da Patty zum Malen Platz benötigte, räumte er das Gartenhaus auf und so wurde daraus ein kleines Atelier. So kam es, dass sie nun zusammen auf der Terrasse sassen, die Sonne genossen und einen Merlot probierten, der ihnen gestern der Weinbauer von nebenan vorbeibrachte.

„Mein Bruder hiess Gebhard, weil er eigentlich mein Halbbruder war. Meine Mutter war schon mal früher verheiratet gewesen und mein Vater wollte ihn nicht adoptieren. So kam es, das wir unterschiedliche Nachnamen hatten“ erklärte Patty. „Weisst Du überhaupt wie er gestorben ist?“

Lange überlegte er, denn er wusste was damals passiert war. Wie soll er dies Patty vortragen?

„Nicht so genau. Wir machten mit unserem Hauptlehrer Prof. Winkler eine Bergwanderung auf den „Piz Porchabella“. Als wir losmarschierten haben einige aus der Klasse Gebi aufgefordert, er solle zu hinterst in der Kolone laufen, da er ja wieder einmal unsäglich stinke. Sie würden es nicht aushalten und zudem verpeste er die frische Alpenluft. Gebi reihte darauf hin am Ende der Kolone ein. Als wir eine schwierige Passage begingen, an welcher zur Sicherheit der Berggänger am Fels Stahlseile montiert waren, wurde der Abstand zwischen uns und ihm immer grösser. Der Lehrer der voranschritt, drehte sich um und rief im zu er solle die Lücke schliessen. Als wir um den nächste Felsvorsprung kletterten und Professor Winkler feststellte, das Gebi nicht folgte, befahl er uns zu warten und ging zurück um nachzuschauen was los sei. Einige Zeit verging bis er zurückkam und uns mitteilte, dass er Walter Gebhard nicht gefunden hätte. Vermutlich sei er auf eigene Faust ins Lyceum zurückgekehrt. Wir setzten unsere Kletterpartie fort, bis hoch zum Piz auf 3079 Meter über Meer.“

Patrizia nippte an ihrem Glas, dann schaute sie ihm direkt in die Augen: „Im Polizeibericht steht aber vieles anders, als was du nun erzählt hast. Beispielsweise, dass Walter etwa 150m unterhalb des Sicherungsseiles von einem Senn gefunden wurde. Er lag auf einer Alpweide auf welcher der seine Schafe hütete. Laut Polizeibericht hatte er gebrochene Finger an seiner linken Hand, die nicht vom Sturz verursacht wurden. War er wirklich alleine unterwegs? Hinter euch Mopper, oder war noch jemand bei ihm?

Verdächtig Patty etwa ihn oder einer der andern Schulkameraden? „Nein, mit Bestimmtheit war er solo unterwegs. Hast du den Verdacht, dass jemand Gebi gestossen hat?“

„Ja! Mein Vater und ich hatten immer das Gefühl, dass Walter auf die Hände geschlagen wurde, als er sich am Sicherungsseil festgehalten hatte. Als er losliess ist er vermutlich ausgerutscht und abgestürzt.“ Patty hatte Tränen in den Augen, „und ihr Feiglinge habt ihn nicht gesucht und seid einfach weitergelaufen. Man hätte euch alle wegen unterlassener Hilfeleistung anklagen sollen.“

Er stand aus seinem Korbsessel auf und ging zu Patty rüber, die ihr Weinglas auf der Mauer abstellte. „Sorry, wir waren Jünglinge und horchten auf den Professor, der befahl weiterzugehen. Klar hast du recht wir hätten umkehren sollen. Aber viel hätte es Gebi nicht genutzt, denn zu dem Zeitpunkt war er schon die 150 Meter in die Tiefe gestürzt und jede Hilfe wäre zu spät gekommen.“

Patty begann zu weinen: „Sowas hätte ich von dir nicht gedacht. Lass mich! Morgen werde ich ausziehen.“

Sein Gehirn begann zu rotieren und einige Gedankenfetzen ordneten sich zu einem Bild. „Warte mal, der Professor ging doch alleine zu Walter zurück um nachzusehen. Wir konnten von unserer Position nicht einsehen, was am Sicherungsseil passierte, da der Felsvorsprung die Sicht darauf versperrte. Wir warteten etwa 15 Minuten bis Winkler zurückkam und uns weiter vorantrieb. Er hätte genügend Zeit und Gelegenheit gehabt mit seinem metallenen Wanderstock auf Walter einzuprügeln und ihn an der Hand zu verletzen.“

Sie horchte plötzlich gespannt zu und stellte ihm die Frage: „Was sollte aber der Grund sein, dass der Lehrer Walter prügelte und sogar riskierte, dass er abstürzt?“

Wie ein Blitz raste die Erinnerung durch sein Hirn. Gebi der Stinker und er wurden zur Strafe zum Reinigen der grossen Treppen im Lyceum verdonnert, weil sie zu lange im „Cafe Zalino“ sassen und zu spät zum Unterricht erschienen. Er und Gebi stellten den Wasserkessel und die Besen in eine Ecke und Gebi zog einen Joint aus seinem Hemd.

„Willst du einen Zug aus der Tüte?“ Er willigte ein und so sassen sie auf der Treppe und kifften. Auf dem Korridor öffnete sich die Türe eines der Klassenzimmer und Professor Winkler trat heraus. Unordentlich hing sein Hemd aus der Hose und im Schlepptau hatte er „Rosie die Unersättliche“, mit völlig zerzausten Haaren. Rosie war die Ehefrau des Rektors und bekannt als Nymphomanin. Keiner, von der Unterprimaner an wurde von ihr verschont, küssen, grapschen und Petting waren an der Tagesordnung, wenn man Botengänge für sie machen oder auf Anweisung des Rektors im Haushalt mithelfen musste. Nun waren Gebi und er Zeuge, dass Rosie auch etwas mit ihrem Lehrer Professor Winkler hatte. „Glaubst Du, dass ich von nun an nur noch gute Noten bekomme!“ sagte damals Gebi und zückte sein Handy.

„Du Patrizia, ich glaube ich weiss nun wieso Walter sterben musste. Ich bin mir fast sicher, dass er Professor Winkler erpresst hatte. Dieser musste grosse Angst gehabt haben, dass er in einen Skandal verwickelt würde. Er benutzte die Gelegenheit einen Zeugen loszuwerden. In so einem anerkannten, hochangesehenen Internat, wo nur Söhne des Hoch- und Geldadels ausgebildet werden durfte sowas nicht passieren.“ Er schilderte Patty im Detail was er wusste und wie es zu dieser verzwickten Geschichte kam. Es dauerte 15 Sekunden, aber es schien ihm als vergingen Stunden, da stand Patrizia vom Mäuerchen auf und kam auf ihn zu. „Danke, vielen Dank…..das wollte ich schon lange wissen.“ Sie umarmte ihn und drückte ihren Kopf an seine Schulter.

„Ich fahre morgen heim nach Zürich zu meinem Vater. Ich will von ihm erfahren, ob der Fall verjährt ist oder ob man gegen Professor Winkler noch ein Verfahren eröffnen kann. Kommst Du mit, ich hätte gerne deine Begleitung.“ Er schaute sie an und nickte nur kurz mit seinem Kopf. Hatte sie sich bei mir eingeschlichen um mehr zu dem Vorfall zu erfahren? Diese Frage beschäftigte ihn noch eine ganze Weile.