Von Lena Zimmermann

Mit schweren Händen streicht sie über den Sarg. An diesem Tag würde nicht nur er, sondern auch ein Teil von ihr für immer ins Jenseits gelangen. Eine unbekannte Welt, die für die Lebenden und für die Sterbenden verborgen bleibt. Nur den Toten steht sie offen. Endgültig.

Sie hatte alle anderen weggeschickt. Seine Freunde, seine Familie, selbst den Priester hatte sie nicht gewährt zu bleiben. Und sie sind alle gegangen. Denn auch sie wissen, dass sie am meisten verloren hat.

Warme Tränen rinnen über ihr sonst erstarrtes Gesicht und ihre Finger krallen sich schmerzhaft in den Sarg. Es ist schwer loszulassen. Die Erinnerungen bleiben ihr, aber sie würden nur Wunden in einem langen Leben seien.  Mit der Zeit würden diese Wunden zu Narben werden und schließlich zu winzigen Spuren einer längst vergangen Zeit. Aber dafür ist sie nicht bereit.

Sie will nicht untätig zusehen müssen wie ein Mensch voller Träume, Schmerzen, Leben und so viel anderem Dingen zu einer lausigen Anekdote auf Weihnachtsfeiern mutiert.

Wenn sie an dem Abend nur nicht „Nein“ zu seiner Liebe gesagt hätte. Doch die Angst vorm Versagen, vor den Enttäuschungen, die sie schon ihr ganzes Leben verfolgen, hielten sie zurück. Und diese Angst hatte alles auf immer ruiniert. Zerstört was sie beide im Leben wollten und für ihn wofür er gelebt hat.

Die Polizei hatte den Brief gefunden. Den Brief, der sagte er können nicht ohne sie leben. Das wäre es nicht wert. Wenn sie von diesem Brief nie erfahren hätte, dann hätte sie vielleicht nicht gedacht, es wäre ihre Schuld.

Nein, das ist nicht die Wahrheit. Sie hätte es dennoch gewusst, denn niemand kannte ihn so gut wie sie.

Ihre eigenen Fingernägel graben sich in ihre Brust, als würde sie ihr Herz herausreißen wollen. Denn wozu braucht man es noch, wenn es nicht mehr schlägt.

Mit Entschlossenheit zieht sie das Messer aus ihrer Tasche. Er hatte es ihr überlassen. Sie hatten es zusammen auf einem Flohmarkt gekauft. Für andere eine wertlose Erinnerung, doch es war der letzte Moment in dem sie wirklich gemeinsam glücklich waren. Der letzte für die Ewigkeit. Nie dürfte sie diesem Moment vergessen.

Wie in Trance sieht sie das Messer über den Sarg gleiten. Sie schnitzt ihren Namen, der nun mit diesem Menschen in der leblosen Dunkelheit verschwinden würde. Für andere war er ein vielleicht nur ein Schüler, ein Fußgänger oder ein einfacher Verkäufer. Doch in ihrem Leben hatte er immer einen ganz besonderen Platz gehabt. Er war ihr bester Freund. Und daran würde sich nie etwas ändern.

Sie will ihre Trauer in ihrem Inneren verschlissen, will stark sein. Doch wofür? Also lässt sie es raus und stößt einen gellenden Schrei aus. Oder denkt sie das nur? Sie weiß es nicht.

Das Messer glitzert im Licht der Abendsonne. Als wäre alles perfekt. Wut bricht hervor und sie schleudert es um sich. Mit einem dumpfen Klang landet im Gras, doch sie holt es sich mit langsamen Schritten zurück. Denn sei weiß, was sie jetzt zu tun hat. Nie soll sein Andenken

 

vergessen werden. Nie sollen die Spuren seines einfachen, dennoch wertvollen Lebens verblassen.

Es wäre eine Lüge zu sagen sie hätte keine Angst. Doch die Angst hat sie überhaupt hierhin

gebracht. Auch wenn er tot ist, will sie ihm und vor allem ihrer selbst beweisen, dass sie „Ja“ sagen wollte. Sie liebt Ihn. Das hat sie immer.

Die kalte Spitze des Messers schneidet in ihre Haut und Blut läuft über ihren Arm hinunter zum Sarg. Die Spuren im Sarg färben sich blutrot. Auf eine unglaubliche surreale Weise macht es sie glücklich. Sie atmet den metallenen Geruch ein, der beginnt die Luft um sie herum zu erfüllen. Eine Spur, jedoch nur flüchtig wie Sonnenstrahlen während eines Gewitters.

Schnitt für Schnitt. Tropfen für Tropfen. Buchsstabe für Buchstabe.

Bis schließlich sein Name dasteht. Erlöst und endlich, nur ein einziges Mal im Leben mit Stolz erfüllt, lässt die das Messer ins nasse Gras fallen.

Ein gequältes Lachen presst sie aus ihren aufgebissen Lippen hervor und trotz des tiefen Schmerzes ist sie für einen Moment glücklich.

Große Regentopfen beginnen aus den grauen Wolken zu fallen und verwischen das Blut auf dem dunklen Sarg.

Doch das ist egal, denn nun würde sie seinen Namen für immer bei sich tragen. Und immer, wenn sie den Namen sieht wird sie sich erinnern, an all die spaßigen Abende voller Gespräche, Filme und einem Haufen Fast Food. An die Geheimnisse, die nur sie beide miteinander geteilt haben und die beide für nichts verraten würden, mögen sie auch noch so im Streit verstrickt sein. An die einzig wahre Freundschaft zwischen den beiden, aus der bestimmt war mehr zu werden, als nur reine Freundschaft.

Hätte sei sich nur anders entschieden. Dann würden sie an diesem regenreichen Tag jetzt aneinander gekuschelt auf dem Sofa liegen und einen belanglosen Film zusammen schauen. Es würde nur zählen, dass sie zusammen sind, sicher und vor allem glücklich. Drei Dinge, von dem sie beide nur das erste in ihrem Leben erhalten hatten.

Betrug, Missbrauch und Sucht waren die drei Dinge, die sich wirklich durch ihr Leben zogen, untrennbar verbunden. Wie sich hassende siamesische Zwillinge, denen es dennoch verweigert wird zu gehen und glücklich zu seien.

Als sie an diesem Tage den Friedhof verlässt, mit nassen Klamotten und Blut, das von ihrem Arm tropft, ist ein Teil von ihr glücklich. Während der andere abwechselnd von der Realität erwürgt wird oder in ihren Gedanken, gefüllt mit tausend Emotionen, ertrinkt.

Aber nun kann ihr keiner mehr ihn wegnehmen. Sein Leben wird nicht wie das von tausenden anderen einfach verblassen, es wird in der lebenden Welt seinen Platz behalten.

Sie würde mit ihm auf den Spuren seiner Existenz wandeln.

Bis sie sich eines Tages wiedersehen. Auf der anderen Seite, auf der kein Verlust, keine Angst, keine Vergangenheit und Zukunft existiert. Nur das hier und jetzt. Dann können sie wieder zusammen sein. Das werden sie beide.

Jede tragische Geschichte findet ihr Ende.