Von Björn D. Neumann

Der Raum war in rotes Licht getaucht. Ein schrilles Alarmgeräusch betäubte Changs Ohren. Er saß inmitten eines Scherbenhaufens. Sinnbild seines Lebens. Wie paralysiert blickte er auf die Innenfläche seiner Hände. Blutverschmiert. Zum einen sein eigenes aus vielen kleinen Schnittwunden. Da war aber auch anderes. Wie konnte es nur so weit kommen? Eine Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

„Chang! Kommen sie raus! Sofort!“

***

„Sehen, wir uns heute Abend?“, fragte Chang hoffnungsfroh, als er gemeinsam mit Beixing auf dem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Er hatte diese Nacht mit ihr verbracht. Das erste Mal und er schwebte auf Wolken.

„Mal sehen“, gab sie kühl zurück.  Beixing war das, was man eine Schönheit nennt. Eigentlich spielte sie in einer ganz anderen Liga, als der Nerd mit dem Einheitshaarschnitt und der dicken Hornbrille.

„Du bist heute aber wieder garstig zu deinem Schatz“, quengelte er gespielt, während Beixing nur seufzend mit den Augen rollte.

„Können wir jetzt an die Arbeit denken? Wir stehen so kurz vor dem Durchbruch.“

„Nicht ganz ohne mein Zutun, Schatz.“

Vor anderthalb Jahren hatte er seinen Abschluss in Virologie an der Universität Peking gemacht. Als Jahrgangsbester bekam er direkt eine Anstellung an einem der renommiertesten Forschungslabore des Landes zugewiesen. Er war an der Entwicklung eines universalen Grippe-Impfstoffs beteiligt und diese Arbeit erfüllte ihn mit Stolz. Zusätzliches Bonbon war, dass er mit Beixing zusammenarbeiten konnte. Sie war in seinem Alter und bei der Arbeit hatte er sich Hals über Kopf in sie verliebt.

„Ja, aber vergiss nicht, dass ich die Projektleiterin bin und ich bin dir auch sehr dankbar, dass du bei der Entwicklung des Serums mitgeholfen hast, aber …“

„Mitgeholfen? Ich habe es entwickelt!“

„Mag sein, aber ich bin die Leiterin der Forschungsgruppe, also ist es mein Impfstoff. Hör zu, wir hatten unseren Spaß, aber jetzt gehen wir getrennte Wege.“

Die Worte trafen Chang wie ein Faustschlag in die Magengrube.

Der Arbeitstag verlief quälend langsam und so recht konnte Chang sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Er musste nochmal einen Vorstoß bei Beixing wagen.

„Können wir heute Abend nochmal reden?“

 Seine Stimme klang durch die Maske des Ganzkörperschutzes gedämpft, aber in seinen Augen erkannte man die ganze Hoffnung und Erwartung, die er in die Frage legte.

„Nicht jetzt, Chang! Du weißt, dass ich bei der Arbeit nicht über Privates sprechen möchte.“

„Aber …“, Chang konnte den Satz nicht mehr beenden.

„Nichts aber! Ich setze wegen einer Liebelei doch meine Karriere nicht aufs Spiel. Du spinnst wohl!“

„Liebelei?“, Chang merkte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. „Ich liebe Dich.“

„Schluss jetzt. Xiansheng Zhao guckt schon.“ Beixing nickte unauffällig in Richtung des Mannes der am anderen Ende des Labortisches stand. Herr Zhao war der Laborleiter. Der 56-jährige zeichnete sich durch das aus, was man einen autoritären Führungsstil nannte. Ganz im Sinne der Parteilinie, führte er ein strenges Regiment.

„Chang! Beixing! Würdet ihr euch bitte um eure Arbeit kümmern!“, kaum hatte Beixing gewarnt, kam auch schon die Ermahnung von Zhao. Beide nickten kurz und widmeten sich wieder ihrer Tätigkeit. Mit geschickten Fingern fing Beixing eine Fledermaus aus einem der Käfige mit den Tieren für die Versuche. Behutsam hielt sie das Tier so in ihren behandschuhten Händen, dass die Flügel gefangen waren und Chang mühelos die Injektionsnadel ansetzen konnte.

„Schau mal, die hat ein genauso süßes Näschen wie du, Beixing.“ Ihr strafender Blick, ließ allerdings sein Grinsen erfrieren und so redeten sie den Rest des Arbeitstages kein Wort mehr miteinander.

Chang ging alleine nach Hause. Es regnete in Strömen. Beixing ließ Chang buchstäblich im Regen stehen. Mit gesenktem Kopf schob er sein Fahrrad nach Hause. Die Tropfen, die aus seinen Haaren das Gesicht herunterliefen, vermengten sich mit den Tränen, die unaufhörlich aus seinen Augen rannen. An seinem Einzimmerapartment angekommen, dass in einem der vielen einheitlichen Wohnblocks lag, tastete er die Taschen seiner Jacke nach dem Zimmerschlüssel ab. „Verdammt, auch das noch.“ Chang musste seinen Schlüssel im Spind der Umkleide des Forschungslabors vergessen haben. Also machte er sich wieder zurück zu seiner Arbeitsstätte. Unaufhörlich prasselte der Regen nieder und mischte sich weiter mit Changs einsamen Tränen.

Angekommen, lehnte er das Fahrrad gegen die Mauer am großen Werkstor. Das Neonlicht der blauen chinesischen Schriftzeichen spiegelten sich auf der regennassen Straße.

„Guten Abend, Baihu. Ich muss nochmal ins Labor. Ich habe meinen Schlüssel vergessen.“

„Kein Problem“, antwortete der alte Pförtner. „Heute ist viel los. Herr Zhao und seine Assistentin sind auch noch da.“

Chang zog eine Augenbraue nach oben. „Das ist aber ungewöhnlich.“

Baihu zuckte mit den Schultern. „Herr Zhao ist der Laboleiter. Da stelle ich keine Fragen.“

„Dann bis später. Ich brauche nur ein paar Minuten.“ Vorsichtig zog er seine ID-Karte durch den Scanner. Die grüne Diode leuchtete auf und ein leises Surren gab die Bestätigung, dass die Tür nun entriegelt war. Der Gang zum Labor war dunkel. Nur aus dem Büro von Zhao drang ein schmaler Lichtschein durch die angelehnte Tür. Leise näherte er sich und nahm ein gedämpftes Stöhnen war. Durch den Türspalt sah er Beixing auf dem Schreibtisch liegen, die Beine um den vor ihr stehenden Zhao geschlungen, der in rhythmischen Bewegungen immer wieder in sie stieß. Für einen kurzen Moment traf ihn Beixings Blick. Anstatt zu erschrecken, lachte sie stumm. Sie lachte ihn aus. Eine unbändige Wut stieg in Chang auf. Er blickte sich um und sah den Feuerlöscher. Er riss ihn aus der Verankerung, stieß die Tür auf und stürmte auf das Paar zu. Noch ehe der überraschte Zhao sich umdrehen konnte, ließ Chang die Metallflasche mit voller Wucht auf dessen Kopf niedergehen. Als der Institutsleiter mit weit aufgerissenen Augen und einem lautlosen Schrei zu Boden ging, handelte Beixing blitzschnell. Noch ehe Chang sich ihr zuwendete, stieß sie ihn zur Seite und versuchte zu fliehen. Der Weg zum Ausgang war durch ihn versperrt, also rannte sie in Richtung Labor.

„Bleib stehen du Miststück!“ Chang wusste, dass sie in eine Sackgasse lief und folgte ihr in gemächlichem Schritt. Er sah, wie sie hektisch die vierstellige Zahlenkombination zur Schleuse des Schutzraums eingab. Bevor Chang bei ihr war, fiel die Glastür wieder ins Schloss. Während er seinerseits die Kombination eingab, durchwühlte sie verzweifelt die Schubladen auf der Suche nach irgendeinem Gegenstand, der ihr als Waffe dienen konnte. Als Chang den Raum betrat, hielt sie ihm zitternd am ausgestreckten Arm ein Skalpell entgegen. Eiskalt schlug er ihr es aus der Hand. Der schüchterne, zurückhaltende Nerd hatte sich in ein Monster verwandelt. Er fühlte das Blut in seinen Adern pulsieren und es zog ihn in einen Rausch. Einen Blutrausch.

„Kleine Beixing. Warum hast du mir das angetan? Ich habe dich doch geliebt.“

„Lass uns reden, Chang. Du musst das nicht tun.“

„Zu spät. Die Lage ist außer Kontrolle. Es gibt kein Zurück.“  Mit diesen Worten legte er seine Hände um Beixings Hals. Den Hals den er letzte Nacht noch geküsst und liebkost hatte. Er drückte zu. Beixing wehrte sich verzweifelt. Mit den Armen trommelte sie gegen seine Brust. Er drückte ihren Oberkörper auf den Labortisch. In ihrem Todeskampf zersplitterten Petrischalen und Reagenzgläser. Substanzen rannen auf den Boden. Mit letzter Kraft gelang es ihr den großen, roten Pilztaster für den Alarm zu erreichen. Dann schloss sie für immer die Augen. Chang ließ sich langsam zu Boden gleiten und stierte ins Nichts.

***

„Chang, kommen sie raus! Sofort!“

Es war als wäre er aus einem Alptraum erwacht. Mit gesenktem Kopf bewegte er sich zur Tür des Schutzraums. Vor der Tür stand Zhao. Sein weißes Hemd war blutverschmiert. Um seinen Kopf hatte er einen behelfsmäßigen Verband gebunden, der ebenfalls rot durchtränkt war. In seiner Begleitung waren drei Polizeibeamte. Einer von ihnen war hochdekoriert. Orden und Auszeichnungen prangten an seiner Uniform. Chang sah durch die Glastür in zwei Läufe von Chan-Feng-Maschinenpistolen. Als er die Tür öffnete wurde er unsanft auf die Knie gedrückt. Dann klickten die Handschellen.

„Bringen sie Chang ins Büro!“

Dort wartend hörte er Fetzen des Gesprächs zwischen Zhao und, wie er inzwischen erfahren hatte, dem Polizeipräsidenten von Wuhan.

„..können uns keinen Skandal erlauben…Beixing aus dem Labor schaffen…Chang auf der Flucht…als Namenloser im Arbeitslager verrotten…Baihu wird schweigen…Geld…“

Chang war es gleichgültig. Ob Todesurteil, Arbeitslager oder was auch immer. Sein Leben war ohnehin vorbei. Karriere, Liebe – alles was noch vor einem Tag auf eine rosige Zukunft wies, war in einem Moment des Kontrollverlusts ein Trümmerhaufen.

***

Seit zwei Tagen wartete Chang in der Arrestzelle auf den Abtransport. Er wurde als wohnsitzloser Herumtreiber geführt. Ihm war es gleich. Die Alternative wäre ein Prozess und ein Todesurteil gewesen. Man hatte ihn in die traditionelle, blaue Arbeiterkleidung mit passender Mütze gesteckt. Niemand würde mehr den aufstrebenden Virologen erkennen.

„Du siehst heute schlecht aus, mein Freund.“ Sein Zellengenosse war ein altes, faltiges Männlein. Sein Lächeln gab einen Blick auf die letzten drei fauligen Zähne seines Gebisses. Er war Händler auf dem Tiermarkt von Wuhan und saß ein, weil er seinen Kautabak achtlos auf die Straße gespuckt hatte.

Chang fühlte sich Elend. Ihm war abwechselnd kalt und heiß und seine Stirn glühte. „Nur eine Erkältung“, wehrte er ab.

Knarrend drehte er sich ein Schlüssel in der Zellentür. Metall schlug auf Metall und die Tür öffnete sich quietschend.

„Li, raus mit dir! Und wehe wir erwischen dich nochmal.“

Li, er hatte bisher noch nicht mal nach dem Namen des Mannes gefragt, lachte krächzend, als er sich mühsam erhob. Er tätschelte Chang die Schulter und raunte ihm zu: „Die Erkältung ist nicht das Schlimmste, was dir bevorsteht. Davon geht die Welt nicht unter.“

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