Von Gabriele Lengemann

Obwohl Luisa weiß, dass ihr kleiner Bruder Lorenz schläft, knallt sie die Haustür fest hinter sich zu.

Es ist ein brüllend heißer Augustnachmittag. So heiß, dass die Hitze des Straßenpflasters durch Luisas Schuhsohlen dringt. Seit Wochen hat es nicht mehr geregnet. In den umliegenden Gärten laufen die Wassersprenger.

An der Ecke wartet Jens auf sie. Er lehnt lässig rücklinks an einem Holzlattenzaun und trägt eine braune Decke zusammengerollt unter dem Arm.

„Du siehst aus, als müsst‘ ich mich vor dir in Acht nehmen“, sagt er in leicht spöttischem Ton.
Dabei legt er seinen freien Arm um ihre Schulter und drückt ihr einen Kuss auf den Scheitel.

Jens und Luisa sind beste Freunde. Kein Paar, aber Vertraute seit der Kindergartenzeit. Das soll sich nie ändern. Sie wohnen nebeneinander und besuchen dieselbe Schule. Außer Jens gibt es nur noch einen, der Luisa so viel bedeutet. Ihr Vater.  

Nun ist der aber seit einer Woche verschwunden. Immer häufiger hatten er und Mama gestritten und eines Abends dröhnte das Brüllen und Scheppern in der Küche so laut, dass der kleine Lorenz wach wurde und schrie wie am Spieß. Luisa hatte alles genau gehört. Plötzlich das Schlagen der Autotür und dann unheimliche Stille. Auch Lorenz hörte auf zu weinen.

„Gehen wir ein Stück“, schlägt Jens vor. „Erzähl mal“.
„Wir haben erfahren, dass Papa eine Freundin hat, bei der er jetzt auch wohnt“, sagt Luisa mit stockender Stimme. „Eine Arbeitskollegin. Ja, und jetzt ist Mama kurz vorm Durchdrehen. Sie will nach Frankfurt in die Nähe meiner Großeltern ziehen, damit die ihr mit Lorenz helfen können und sie arbeiten gehen kann. In Frankfurt hat sie eine Freundin, die kann ihr ruckzuck einen Arbeitsplatz in ihrer Firma vermitteln.   Als ich ihr gesagt habe, dass ich nicht weg möchte, hat sie gemeint, ich sei egoistisch. Gerade ich! Für mich ändert sich doch das meiste.“

Jens lässt Luisa reden. Die beiden schlendern zu einem nahegelegenen Waldstück. Von hier führen Spazierwege zu einer großen Wiese, durch die ein Bach fließt. An dessen Ufer breitet Jens die Decke aus und sie setzen sich darauf.

Luisa tut der Streit mit ihrer Mutter mittlerweile leid.  Sie döst mit geschlossenen Augen, angelehnt an den Rücken von Jens, vor sich hin. Es ist wunderbar ruhig und friedlich, nur das freundliche Plätschern des Baches ist zu hören. Plötzlich dringt Zigarettenrauch in ihre Nase. Luisa riecht das gern. Papa raucht auch.
„Ihr könnt doch nicht einfach nach Frankfurt ziehen“, sagt Jens. Luisa dreht den Kopf zu ihrem rauchenden Freund herum und sieht, dass er mit Streichhölzern Gräser ansteckt, um dann sofort die zündelnden kleinen Feuer wieder auszutreten.
„Hör auf damit, willst du uns abfackeln?“

„Du sollst nicht weg gehen“, sagt Jens noch einmal und tritt vehement mit seinem Fuß auf die angezündeten Gräser. Einige der brennenden Halme fliegen fort und setzen die nächsten strohtrockenen Grasbüschel in Brand. Plötzlich brennt eine Fläche, so groß wie die ausgebreitete Wolldecke. Beide springen auf. Jens stampft wie ein Besessener auf dem brennenden Stück Wiese herum. Luisa läuft zum Bach, taucht die Decke ins Wasser und schlägt damit auf das Feuer.  Es qualmt fürchterlich, dann züngeln die Flammen wieder empor und erobern ein weiteres Stück der Wiese. Ein trockener Busch lodert auf wie eine Fackel. Luisa fängt an zu schluchzen und Jens reißt ihr die Decke aus den Händen. Aber auch sein Versuch, die Flammen auszuschlagen, facht den Brand nur

noch mehr an. Resigniert und nach Luft ringend überlässt er die Decke dem Feuer.
„Es hat alles keinen Zweck. Ich ruf die Feuerwehr“, schreit er zu Luisa hinüber.

Die zögert. Wie soll sie das nachher ihrer Mutter beibringen? Das jetzt auch noch. Sie kann nicht mehr.
Ohne zu überlegen dreht sie sich um, lässt Jens einfach stehen und läuft nach Hause. Als sie dort ankommt, hört sie die Sirenen der Feuerwehr. Sie duscht lange und riecht doch noch den Rauch.

In der letzten Woche der Sommerferien verlässt Luisa ihr Zimmer kaum. Während draußen dunkle Gewitterwolken vorbeiziehen und es endlich ausgiebig regnet, hockt sie zusammengekauert auf dem Bett. An der gegenüberliegenden Wand hängt zwischen den Postern ihrer Lieblingsfilme das Lebkuchenherz, das Papa ihr vor einem Jahr auf der Kirmes gekauft hat.
,Du bist mein Ein und mein Alles´ steht in Zuckergussschrift darauf. Luisa nimmt es ab, wirft es auf den Boden und kickt es unter ihr Bett. Sie fühlt sich allein. Vaterseelenallein.
, Ich hasse ihn und seine Freundin‘, schreibt sie in ihr Tagebuch und:
,Die dumme Kuh soll wieder verschwinden.‘
Weder mit ihrem Vater noch mit Jens will sie reden. Wie konnte der so unvorsichtig mit dem Feuer sein? Und wieso war sie so feige und ist einfach davongelaufen?

Am Abend des letzten Ferientages geht sie mit ihrer Mutter und Lorenz am Waldrand spazieren. Luisa schiebt den Kinderwagen, in dem ihr kleiner Bruder aufrecht sitzt und fröhlich vor sich hin brabbelt. Sie kommen an der abgebrannten Wiese vorbei und Luisa bleibt stehen.  Eine riesige verkohlte Fläche liegt vor ihr. Auch ein Baum hat Schaden genommen und seine schwarzen Zweige recken sich anklagend dem Abendhimmel entgegen. Luisas Magen krampft sich zusammen und sie kämpft gegen die aufsteigende Übelkeit.

„Jens hat mir alles erzählt“, sagt Mama. „Er hat die Feuerwehr gerufen und muss nun abwarten, was auf ihn zukommt. Schlimmer als das, trifft es ihn jedoch, dass du ihm aus dem Weg gehst.“
Da fängt Luisa hemmungslos an zu weinen. Die Tränen lösen ihre Wut auf und den Hass, in den sie sich hineingesteigert hat. Mama nimmt sie fest in die Arme und der kleine Lorenz sitzt ganz ruhig im Wagen und sieht seine Schwester mit großen Augen an. Als Luisa sich etwas beruhigt hat, macht ihre Mutter sie auf das frische Grün aufmerksam, das bereits hier und da unter den verbrannten Halmen hervorblitzt.
„Das wird schon wieder“, sagt sie. „Es dauert nicht lange, dann hat sich hier alles erholt. Du wirst dich selbst davon überzeugen können, denn dieses Jahr bleiben wir auf alle Fälle hier. Ich kann nichts versprechen, aber ich versuche, hier alles zu organisieren. Andere Frauen schaffen es auch und ich habe ja sogar noch Hilfe von meiner großen Tochter, oder? Geweint haben wir jetzt jedenfalls genug.“

Eilig nickt Luisa und wischt die letzten Tränen ab. Zwar kann sie an ihrem Horizont noch keinen deutlichen Silberstreif entdecken, aber es tut gut, dass Mama so verständnisvoll und die Sache mit dem Umzug zunächst vom Tisch ist.  Morgen in der Schule wird sie Jens wiedersehen. Er fehlt ihr, genau wie ihr Papa. Den möchte sie auch am liebsten morgen treffen. Aber nur, wenn die blöde Kuh nicht dabei ist.

 Sie schiebt den Kinderwagen weiter, nichts wie weg von der verbrannten Erde.
„Jetzt machen wir mal ein bisschen Tempo, junger Mann“, ruft sie Lorenz zu.
 Dann beschleunigt sie ihre Schritte, der Kinderwagen holpert über den unebenen Weg und lässt Lorenz auf- und abfedern. Dem kleinen Jungen gefällt das sehr, und er jauchzt laut auf vor Vergnügen.

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