Von Christina Sutter

Es sollte ein herrlicher Tag werden. Der erste Frühlingstag des Jahres. Es war erst Ende März, aber die Luft glitzerte bereits wunderbar warm und voller Vorfreude auf den Sommer. Man konnte die Sonne förmlich schmecken. Ihre goldenen, wärmenden Strahlen fühlten sich nach Kindheit und zu Hause an. Nach jenen strahlenden Sommertagen, an denen man abends dreckig, glücklich und mit leuchtenden Augen nach Hause kam, ohne zu bemerken, dass ein kostbarer Tag wieder viel zu schnell verflogen war. 

Diese wunderbare Leichtigkeit aus Kindertagen, die viel zu schnell vergangen war, ohne, dass die Frau, die drinnen am Fenster stand, es bemerkt hatte. Sie blickte nach draußen, sah all das, aber nahm es nicht wahr. Es fröstelte sie ein wenig. Sie zog sich eine dünne Strickjacke über ihr kurzes Schlafshirt und drehte die Heizung auf die nächsthöhere Stufe. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und Gänsehaut breitete sich an ihrem zerbrechlichen, viel zu dünnen, bleichen Körper aus. 

Manchmal kam sie sich vor wie eine Ekel erregende, dürre Spinne, die jeder abscheulich fand und die von der ganzen Welt brutal gemieden wurde. Eine Spinnenfrau, die vollkommen isoliert und einsam lebte und starb, ohne jemals gesehen oder beachtet zu werden. Sie war unsichtbar und widerwärtig. Wer wollte sich schon mit einer solch abscheuerregenden, schauderhaft grässlichen Person abgeben? Niemand. Außer ihm, ihrem Mann. Seine Liebe zu der Frau fühlte sich wohltuend wie goldener Honig an: warm, weich und sie vollständig einschließend und umhüllend. Durch ihn durfte sie immer wieder erfahren, was Vertrauen, Geborgenheit und Sicherheit bedeuteten. Aber auch nach all den Jahren, konnte sie nicht begreifen, warum er an ihrer Seite sein wollte. Sie fühlte sich abstoßend und hässlich, war kompliziert, manchmal garstig und zu oft launisch. Die Frau trug viel zu viele Lasten mit sich herum. Diese Lasten glichen einem Berg, den sie mit sich herumschleppte, anstatt ihn zu besteigen und zu überwinden. Einem Berg, den sie bis ans Gipfelkreuz hätte erklimmen und bezwingen können. Sie hätte ihre Fahne in den Gipfel rammen und so dem Berg den finalen, den tödlichsten Stoß versetzen können. Aber dazu fehlte ihr jegliche Kraft.

Draußen zwitscherten derweil die Vögel, Schmetterlinge machten sich auf die Jagd nach dem goldenen Nektar der rosafarben blühenden Magnolienbäume und das Lachen, das heitere Glucksen und die Fröhlichkeit spielender Kinder hallte durch das Kleinstadtstraßenidyll. 

Ihr Mann hatte sie vor ungefähr zehn Minuten verlassen. Wie jeden Samstagmorgen ging er nämlich zum Bäcker zwei Straßen weiter. Da gab es die besten Croissants der Stadt. Die Frau liebte es, am Wochenende ausgiebig mit ihrem Mann zu frühstücken, Kaffee zu trinken, zu erzählen und dabei französische Chansons zu hören. Von Zeit zu Zeit sang sie auch beherzt mit, wenn es ihre Französischkenntnisse zuließen. So konnte sie den Stress der vergangenen anstrengenden Arbeitswoche hinter sich lassen.  Und alles ging ja direkt so viel leichter zu dem berühmten Chanson, in dem es darum geht, nichts zu bereuen. Die Frau wollte es auch einfach so sehr: nichts bereuen müssen.

Ihr Blick viel auf den Toaster und sie dachte an ihn. Den anderen Mann. Diesen Mann, der ihr so viel Leid zugefügt hatte. Er hatte seinen Toast jeden Morgen gebuttert gegessen. Die Butter hatte sich ekelerregend und widerlich in die immer mehr vor Fett triefende, labbrige Toastscheibe eingefressen. Jedes Mal aufs Neue hatte er das herabtropfende Fett mit seinen wulstigen Fingern aufgefangen bevor es auf den Teller tropfen konnte und genüsslich abgeleckt. Mit den gleichen Fingern, mit denen er sie anfasste, ihr Innerstes und Kostbarstes berührte und so ihre Blume verwelken ließ. Die Erinnerung beim Anblick des Toasters traf sie wie ein Blitz.  

Der Gedanke an diesen Mann schmerzte noch so sehr und lähmte sie völlig. Die Frau fühlte eine bleierne, ohnmächtige und steinerne Leere, die sich in ihr Herz fraß und ihr beinahe gänzlich jedes Fünkchen Luft, das sie so dringend zum Atmen brauchte, mit aller Grausamkeit raubte.

Die Frau schaute an sich herunter: sah die ausgemergelten, bleichen Spinnenbeine, die bis zu den Oberschenkeln von dem dünnen und abgewetzten, fast schon durchsichtigen Schlafshirt bedeckt waren. Sie versuchte den grauen Stoff weiter herunter zu ziehen, um so das, weswegen sie sich brennend schämte und verachtete, zu bedecken. Aber es gelang ihr nicht, so sehr sie auch zog und zerrte. Ihre schmächtigen Oberschenkel waren bis zu den Knien übersät mit unzähligen hauchzarten Narben, kleinen feinen Schnitten, Krusten immer wieder aufgekratzter Wunden, die einfach nicht heilen wollten. 

Wie die dünnen silbrigen Fäden eines Spinnennetzes bedeckten diese Verstümmelungen ihre zierlich fragilen Schenkel. Immer wenn sie diese qualvolle Leere gespürt hatte, damals, diese bittere unendliche Einsamkeit, diese existentielle und unentrinnbare Angst um sich selbst, diese steinerne Erkenntnis nicht genug zu sein, nicht schön zu sein, für ihn, hatte sie diese Gefühle zu betäuben versucht. Durch Schmerzen, die die Frau sich selbst zugefügt hatte, mittels kleiner Schnitte mit Hilfe einer scharfen Klinge in ihr eigenes Fleisch, bis das Blut kam und der Schmerz, der ihre Seele so quälte, nachließ und sie die sehnlichst erwartetet Linderung und Erleichterung fühlen ließ. Sie wollte sich endlich wieder spüren, lebendig sein, gegen die Hilflosigkeit und Erschöpfung ankämpfen. Manchmal schnitt und ritzte sie sich mit einem scharfen kleinen Küchenmesser, einem alten Teppichmesser oder Glasscherben, wenn sie wieder einmal etwas zerbrochen hatte, es ihm wieder einmal nicht recht gemacht hatte, sie ihn wieder einmal bei seinem Mittagsschlaf gestört hatte. Er fuhr dann förmlich aus seiner Haut und schlug zu. Wie von Sinnen prügelte er auf die Frau ein, die weinend, schluchzend und winselnd wie ein alter, schwacher Hund vor seinen Füßen auf dem kalten Steinboden zusammenbrach. Die Frau war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Noch schlimmer war es, wenn er getrunken hatte. Dann pisste er nachts ins Bett, weil er die Kontrolle über sämtliche Körperfunktionen, einschließlich seiner Blase, verloren hatte. Am nächsten Morgen verlor er dann vollends die Beherrschung. Er schlug sie beinahe tot. Lediglich die Ohnmacht rettete sie vor seiner blinden Raserei. 

Plötzlich hörte die Frau, wie der Schlüssel ins Türschloss gesteckt und herumgedreht wurde. Die Tür öffnete sich und ihr Mann stand vor ihr, mit einer Tüte duftender Croissants in der Hand. Ihr Blick fiel darauf und in Gedanken verschlang sie bereits eine dieser warmen und luftig leichten, buttrigen Köstlichkeiten. Die Spinnenfrau war hungrig. 

Ihr Mann lächelte sie an. Er strahlte förmlich vor Freude, sie zu sehen. Seine Liebe zu der Frau war echt und rein. An ihr war nichts Unaufrichtiges oder Wertendes. Seine dunkelbraunen Augen blitzten unter den hellblonden, strähnigen schulterlangen Haaren hervor, die er sich manchmal mit der rechten Hand hinter seine Ohren strich, damit sie ihm nicht ins Gesicht fielen. “Ich bin wieder da, mein Herz!” , begrüßte er sie. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, ging in die Küche und begann den Frühstückstisch zu decken. Die Kaffeemaschine zischte und der Duft frischgebrühten Kaffees erfüllte den Raum. Wie schön und leicht war das Leben doch! 

Die Spinnenfrau fühlte sich jedoch kantig und steif. Unfähig sich zu rühren stand sie da. Unerträglich fehl am Platz. Erstarrt wie sie war, passte sie nicht in diese perfekte, idyllische Bilderbuchwelt.

Ihr Mann setzte sich an den Frühstückstisch und begann die Tageszeitung zu lesen, die er aus dem Briefkasten geholt und mit in ihre gemeinsame Wohnung im zweiten Stock eines etwas in die Jahre gekommenen Mehrfamilienhauses gebracht hatte. 

Die Spinnenfrau beobachtete alles ganz genau, sah jedoch anstatt ihres Mannes nur ihn. Seine kalten, wässrig blauen Augen, die sie anstarrten wie Stahl. Kalt und erbarmungslos. In diesen Augen erblickte sie ihre eigenen Abgründe. Sie sah seinen massigen, bulligen und schwitzenden Körper, wie er sich auf ihr abmühte und mit einem Stöhnen, das wie der letzte, röchelnde Atemzug eines Sterbenden klang, endlich von ihr abließ und sich von ihrem kaum mehr sichtbaren, zerbrechlichen Spinnenkörper herunterwälzte. Tonnenschwer. 

Ihr schossen heiße Tränen in die Augen und die Welt um sie herum verschwamm, so dass sie alles nur noch durch einen milchigen Schleier wahrnahm. Die Spinnenfrau zog den Stecker des Toasters aus der Steckdose, legte das Kabel um den Hals ihres Mannes und zog zu. So fest sie konnte. Sie war wie im Wahn, im Rausch, im Blutrausch. Sie wollte ihn töten, wollte, dass das alles endlich aufhörte. Sie war nicht mehr sie selbst, lediglich noch ein Schatten der wunderbar liebreizenden Frau, die sie einst gewesen war. Vor ihm. Damals. Es war viel zu lange her. Die Spinnenfrau hatte ihren Körper verlassen, um all dem zu entfliehen, was sie nicht mehr ertragen konnte. Manche Spinnenweibchen töten ihr Männchen nach der Paarung. Sie fressen es auf. Mit Haut und Haaren, bis nichts mehr von ihm übrig ist und niemand mehr an es denken muss.

Die Frau schreckte hoch. Sie fror und zitterte am ganzen Körper. Neben ihr am Bett stand ihr Mann mit einer duftenden, dampfenden Tasse Kaffee in der Hand, die er auf dem kleinen, hellgrün gestrichenen Nachttisch auf einem Stapel Zeitschriften abstellte. “Du hast eben geschrien im Schlaf. Hast du schlecht geträumt?” Besorgt sah er sie mit seinen dunklen, gutherzigen Augen an, setzte sich auf die Bettkante neben sie und zog sie zu sich heran. Sie legte den Kopf an seine Brust. Er fühlte sich so warm an. Fest und sicher, wie ein Zuhause. Seine gebräunte Haut war weich und sein Hemd roch ein wenig nach einer Mischung aus Waschpulver, Schweiß und Parfüm. “Ich gehe gleich zum Bäcker, Croissants kaufen, die liebst du doch so sehr”, sagt er mit einem Lächeln in der Stimme und streichelte ihr sanft übers Haar. Die Spinnenfrau setzte sich auf, sah ihren Mann mit eisigem Blick an und nickte. Sie hatte Hunger. 

 

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