Von Maria Lehner

Im nordwestlichsten Zipfel von Wien, in der Augustinerwaldgasse, ducken sich die Einfamilienhäuser diskret hinter Ligusterhecken. Für gewöhnlich ist es hier ruhig. An diesem Tag aber schwärmten Ermittlungsbeamte in der Nachbarschaft aus und sicherten Spuren im Haus des Legationsrats; der Rechtsmediziner tat seine Arbeit. Das Frühstücksgeschirr vom Vortag stand noch auf dem Esstisch. Davor saß eine junge Frau in schlaffer Haltung, abgekämpft, blass, Ringe unter den Augen. Es war ein mehr als außergewöhnlicher Fall, wie sich im Laufe des Nachmittags herausstellen sollte.

 

„Sie ist eine einfache Frau“, sagte die Nachbarin. „bescheiden, freundlich, hilfsbereit, fest im Glauben…“

„Hören Sie auf“, meinte der Inspektor „Heilige sind selten!“ Aber jeder Befragte beschrieb die Frau ähnlich: aufopfernd, treu, über jeden Verdacht erhaben. Das machte die Sache nicht leichter, ganz im Gegenteil. Sie hatte unumwunden gestanden, dass sie die Schlinge zugezogen hatte. Mit der gleichen Mühe und Anstrengung wohl wie alles, was sie je für ihren Gatten getan hatte.  Für ihn, der sie trotz ihrer „himmelschreienden Blödheit“, wie er immer betont hatte, „ausgehalten“ hatte. Über die Doppelbedeutung hatte er schäbig gegrinst, ihr war das Wortspiel nie aufgefallen.

 

Weniger gut fiel die Charakterisierung des Verblichenen aus: herrschsüchtig und misstrauisch. Er soll seine Frau in der Öffentlichkeit stets nur „das Dummchen“ genannt haben: „Wir alle haben uns gefragt, was die junge hübsche Frau an ihm gefunden haben konnte. Das Geld konnte es nicht sein. Er hielt sie kurz“, sagte jemand.

 

Ja: Er hielt sie kurz – mit Geld, mit Lob, mit Liebesbezeugungen, mit Dankbarkeit oder Freundlichkeit. Das tat er, nahm sie an, weil sie nichts anderes verdient hatte. Sie forderte nichts, war zufrieden und betete ihn an, wie sie aus frommer Seele den Herrn anbetete. Ihr Herr hier auf Erden hatte nur einen Konkurrenten: den Herrn im Himmel. Doch der Herr Legationsrat vermutete vielmehr einen anderen Konkurrenten und der, das schwor er sich, sollte seine Frau nicht kriegen. Und sie ihn nicht. Dafür würde er sorgen. Wie bei fast allem, das er sich vorgenommen hatte, würde er auch in dieser Sache seinen Willen kriegen. Schließlich sollte es ihm sogar gelingen, den Herrn im Himmel „auszustechen“.

 

 

Da sie ihm blindlings vertraute, blickte sie scheu auf, als er sagte: „Du bist bekanntlich blöd wie die Nacht und ich alt. Da du allein nicht lebensfähig bist, muss ich wohl für dich wieder jung werden“. Dass sie ihn liebte, wie er war – mit Gehstock und schütter gewordenem Haar – konnte er nicht glauben. Umso mehr jetzt, da er seit der Vorwoche wusste, wie es um seine Gesundheit stand. Das behielt er aber für sich.

 

Schließlich gelang es ihm, ihr weiszumachen, dass es eine – aber eben nur diese eine – Möglichkeit gebe und dass sie, wenn sie ihn liebe, genau „das“ für ihn tun würde, da er es ja im Grunde für sie täte. Und schließlich willigte sie ein.

 

 

Sie frühstückten. Der umgetauschte Toaster stand auf dem Sideboard. Den anderen hatte sie zurückbringen müssen. Er hatte damals gesagt: „Tickst du noch richtig! Bring gefälligst einen mit einem überlangen Kabel, sodass ich mich nicht mit einem Verlängerungskabel abmühen muss!“ Er herrschte sie an: „Heute. Jetzt. Hier“. Und ihr schossen die Tränen in die Augen. „Sei nicht feige“, sagte er streng. „Es geht nur so und nur auf diese Art!“

 

Sie wusste: Es würde die größte Überwindung und Anstrengung ihres Lebens sein. Denn es würde nur funktionieren, wenn sie – gerade gegen seinen Widerstand, wie er gesagt hatte – „dranblieb“. Sie sollte ihn mit dem Toasterkabel erdrosseln. Nur dann, erklärte er ihr mehrmals, könnte sein Körper transformiert werden in einen jungen Körper. Sich quasi wandeln an Ort und Stelle. Es wäre kein Mord, denn es gäbe keinen Toten. Und für alles sei vorgesorgt.

 

„Wie soll das funktionieren?“, hatte sie leise gefragt und er hatte ihr herablassend erklärt: „Also, Dummchen, noch einmal zum Mitschreiben: Ich habe das vorbereitet, wie ich alles in unserem Leben organisiere. Es gibt einen Brief im Safe, aus dem hervorgeht, dass ich dich verlasse, um mit einer anderen Frau zu leben. Und es gibt einen Packen Geld im Safe, den ich – ebenso in einem Brief – dir überlasse. Es wird dann noch ein paar Fake-Postkarten aus Kanada geben, das habe ich beauftragt. So werden alle glauben, dass ich noch am Leben bin. Du bist dann die Verlassene. Mein altes Ich wird sich aber in ein junges gewandelt haben – und ich bin dein Neuer. Ich bin dann so alt wie du und schon heute Nacht wirst du merken, wie ich das meine“, schmeichelte er. Als sie meinte, dass Töten doch aber Sünde sei, wurde er laut: „Du begreifst es noch immer nicht, was? Du tötest mich doch nicht, du verhilfst dir zu meiner Jugendlichkeit. Wenn du mich so liebst, wie du mich mit deinen schmachtenden Rehaugen glauben machen willst, fragst du nicht weiter und legst Hand an!“

 

Das tat sie dann, die sie sich selbst als ein Dummchen fühlte. Er hatte ihr sogar noch erklärt: „Und: weitermachen, auch wenn ich um mich schlage. Weiter zuziehen“. Er dozierte über reflektorische Verlangsamung des Herzschlags, Blutdruckabfall und akuten Sauerstoffmangel im Gehirn. „Dann nicht aufhören, sonst überlebe ich, bin so alt wie jetzt und sitze womöglich im Rollstuhl“. Schauer liefen ihr über den Rücken. „Ich werde hyperventilieren“ (sie hielt die Luft an) „und erst, wenn ich ganz ruhig bin, hörst du auf. Dann ist die Kompression des Kehlkopfes erfolgt, die venösen Blutleiter des Halses sind komprimiert und die Carotiden“ (sie wagte nicht, nachzufragen…) „sind, wenn du es gut gemacht hast, abgeschnürt. Du stellst dich also hinter mich, legst mir das Kabel um den Hals und ziehst mit aller Kraft nach beiden Seiten die Hände auseinander“. Er demonstrierte es an einem der knopfartigen Enden der Sessel-Rückenlehne, die als Hals galt. Sie nickte und streichelte ihm über den Rücken.

 

Das Kabel legte sie über den hochgestellten Hemdkragen des Legationsrats. Das war das Einzige, das sie sich wünschte: „Nicht auf der nackten Haut, das schmerzt sonst“. Er seufzte innerlich: so dumm war sie! Dadurch hatte es später die Gerichtsmedizin schwer, denn die Strangmarke war undeutlich. Im Bericht stand „Diskrete Drosselmarke, Fraktur des stark verknöcherten Kehlkopfskeletts“. Kein Wunder, hatte sie ihn doch über fast fünf Minuten hinweg und unter großer Kraftanstrengung von hinten stranguliert. Als er bewusstlos wurde, hörte sie auf. Danach wartete sie stundenlang, dass er jung wurde. Nichts geschah. Sie rief einen Krankenwagen, die Sanitäter riefen die Polizei.

 

Später erzählte sie alles so, wie es sich zugetragen hatte. Die Ermittler hatten schon viel erlebt: eiskalte Reuelosigkeit, zur Schau gestellte Trauer, dreiste Lügen, freche Ablenkungsmanöver – aber noch nie so etwas. Der Code für den Safe, in dem Abschiedsbrief und Geld gelagert sein sollen, war offenbar auch geändert worden.

 

Den Notar nannte sie, der den Legationsrat betreute. Was jedoch – nach sofortigem Aufbruch eines Beamten, der sich gleich wieder telefonisch meldete – dort zum Vorschein kam, war mehr als belastend für sie: Das Geld war beim Notar; samt brieflicher Verfügung über den Verwendungszweck, falls er gewaltsam „und vermutlich durch die Ehefrau“ zu Tode gekommen wäre. Dazu gab es ein belastendes Schreiben, in dem der Legationsrat die Untreue seiner Frau und ihren Plan, ihn „loszuwerden“ dargestellt hatte. Man möge das bitte eingehend untersuchen.

 

Ebenso, wie sie zum Tisch des Herrn bei der heiligen Kommunion ging, würde sie mit gesenktem Kopf die Beamten begleiten. Bereit, sich in alles zu fügen, trauerte sie stumm. Dass sie ihr Leben, zumindest für lange Zeit, hinter Gefängnismauern verbringen würde, bedauerte sie weit weniger, als dass sie ihren geliebten Lebensmenschen verloren hatte.  Den einzigen, der – was sie stets gehofft hatte – sie, die sie doch so dumm war, „trotzdem“ liebte.

Gerade, als sie abgeführt werden sollte, läutete das Telefon. Einer der Ermittler meldete sich mit einem sonoren: „Ja, bitte?“. Was er zu hören bekam, da man ihn für den Toten hielt, war: „Herr Legationsrat, ich darf Sie mit dem Professor verbinden!“ Das war keine Frage, sondern eine Ankündigung, daher wurde auch keine Reaktion darauf abgewartet.

Und da war auch schon der Professor: „Servus, Herr Legationsrat. Das Labor hat sich noch einmal gemeldet: Das war nicht Ihr Befund, sondern der eines anderen Patienten. Nicht Sie sind der, der tödlich erkrankt ist! Sie können also mit Ihrer jungen Frau weiterhin gesund und glücklich leben. Ich dachte mir, das muss ich Ihnen sofort mitteilen. Sie waren so ratlos bei Ihrem Besuch bei mir und so voller Angst, es könne ein anderer Mann als Sie mit ihr leben. Es ist mir ein Anliegen, mich im Namen des Labors…“

„Danke“ sagte der Beamte und legte auf.

 

 

Was ist das jetzt? Mord? Tötung auf Verlangen? Verleitung zur Beihilfe zum Suizid infolge von Täuschung? Mitwirkung am Selbstmord eines Menschen, der sich todkrank wähnte? Im-Stich-Lassen eines Verletzten? Handelt es sich denn um Täterschaft oder um Mitwirkung? Wie ist die Rolle des Legationsrats einzuschätzen, der die Naivität seiner Ehefrau ausnützte? Inwiefern ist die Anstiftung zum Mord aus der Berechnung erfolgt, die junge Frau hinter Gitter zu bringen, sodass kein anderer sie „haben“ konnte? Ist die junge Frau nur einfältig oder eine geistig abnorme Rechtsbrecherin?

 

Der Fall wurde zu einem Lehrbeispiel mit der Bezeichnung „Legationsrat-Fall, BGH, Urteil vom 07.07.1985 – 1 StR 75/83“. Damit bereitet das „Dummchen“ (die verwitwete Frau Legationsrat, sie lebt nach ihrer Haftentlassung glücklich mit einem Heizungsinstallateur) so mancher Studentin und manchem Studenten der Jurisprudenz Kopfschmerzen. Wüsste sie das, wäre sie untröstlich. Und sie würde dem- oder derjenigen über den Rücken streicheln wie damals ihrem geliebten Gatten.

 

 

Version 2