Von Franck Sezelli

Versonnen blickte ich auf den Hintern der jungen Frau, die aus dem Fenster aufs Meer schaut. Er zeichnet sich unter dem Stoff ihres einfachen blaugrauen Kleides deutlich ab und erinnert mich immer wieder auch an die kraftvollen weiblichen Figuren, die Aristide Maillol gestaltet hat.

Ich dachte daran, wie Elisabeth und ich ganz bewusst dieses Bild gewählt hatten, um die weißen Wände unseres neuen Domizils zu schmücken. Die gerahmten Poster sollten typisch für unsere neue Heimat am Mittelmeer sein. So kamen wir auf Salvador Dalí, der schließlich nicht sehr weit entfernt von  hier gelebt und gearbeitet hat. Während eines früheren Urlaubs beeindruckte uns besonders der Besuch in seinem Theatermuseum in Figueres. Also suchten wir nach geeigneten Bildern des großen Künstlers.

Immer noch auf das Bild an der Wand schauend, freute ich mich über diese Wahl, die wir damals unabhängig voneinander getroffen hatten. Wir hatten das Gemälde nie zuvor gesehen. Es schien wie für unsere Situation und unseren Geschmack gemalt worden zu sein. Wie gesagt, ein Mädchen, das auch Aristide Maillol, ein anderer bedeutender Künstler der Region, gemalt haben könnte, schaut aus dem Fenster auf das Meer. Sofort war uns klar, wo das Bild hingehört: an die Wand direkt neben unserem Fenster auf der Meerseite. Denn obwohl unser Häuschen nur etwas über hundert Meter vom Strand entfernt steht, sehen wir durch Oleanderbüsche und an Palmen und Platanen vorbei auf eine sonnengelbe Hauswand, die uns den Blick aufs Meer versperrt. Mit diesem Gemälde würden wir uns den Meerblick nach Hause holen, so empfanden wir das beide. Und darüber freuen wir uns noch heute, so sinnierte ich bei dem verträumten Blick auf den Rücken des Mädchens, an dem vorbei ich durch das Fenster das Meer sah.

Als ich meinen Blick von dem Gemälde löste, wäre ich vor Schreck beinahe vom Stuhl gefallen. Mir gegenüber saß auf einmal ein Mann. Er musterte mich mit stechenden Augen. Auffallend war sein gezwirbelter schwarzer Schnurrbart. Ich wollte auffahren und ihn zur Rede stellen, was er hier bei uns mache. Da fiel mir auf, dass er wie Salvador Dalí aussah. Wie man ihn von Bildern aus den Sechziger- und Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts kennt.

Aber das konnte nicht sein! Er war doch schon lange tot …           

»Du wirkst etwas verstört, Franck«, meldete sich der unheimliche Fremde. »Das geht mir immer so, wenn ich unangekündigt auf Besuch komme. Ich bin es wirklich, Marqués de Dalí de Púbol. Wahrscheinlich kennst du mich besser als Salvador Dalí. Zum Marquis hat mich der König ja erst gemacht, als meine geliebte Frau Gala nicht mehr war und ich sehr krank geworden bin.«

Wie sollte ich reagieren? Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und tat, als sei es ganz normal, einen solch großen Künstler in meinem Haus zu empfangen, noch dazu einen aus dem Jenseits. »Ja, Sie und Gala, das war ein unzertrennliches Paar, Ihre große Muse. Ich habe darüber gelesen.«

»Sie war meine Muse, ich habe sie unsterblich geliebt. Und wir gehörten immer zusammen, sogar in der Zeit, in der wir nicht mehr so eng verbunden waren wie damals, als Amanda Lear in mein Leben getreten war.«

»Und vor Gala? Hatten Sie da auch eine Muse?«

»Das weißt du nicht? Muse ist vielleicht nicht ganz die richtige Bezeichnung. In meiner Jugend war meine Schwester Ana Maria mein einziges Modell. Damals habe ich mich mit ihr noch sehr gut verstanden. Bis … aber darüber will ich nicht reden. Dort auf dem Bild, das ist sie mit siebzehn Jahren. Es war vor fast hundert Jahren, 1925, in unserem Elternhaus. Es ist der Blick auf die Bucht von Cadaqués, wo wir damals gewohnt haben.«

»Das wusste ich gar nicht! Aber Cadaqués kennen wir, ein wunderschöner Ort. Meine Frau und ich waren schon mehrmals dort, leider ist er oft von Touristen überlaufen. An diesem Gemälde Mädchen am Fenster bewundere ich die meisterhafte, realistische Maltechnik.«

»Danke sehr! In dieser Zeit habe ich vieles ausprobiert, das ist das Recht der Jugend. Erst später habe ich zum Surrealismus gefunden, wobei ich mich keinesfalls auf die Malerei beschränkt habe.«

»Das ist mir bekannt und ich bewundere Ihre Vielseitigkeit. Im Teatre-Museu in Figueres bekommt man davon einen Eindruck. Neben Gemälden, Zeichnungen und Grafiken habe ich dort über Skulpturen und Plastiken, Schmuck und andere Objekte gestaunt. Ich weiß auch, dass der Entwurf des Neuaufbaus dieses Hauses im Ganzen und vielen Details von Ihnen stammt. Bis zu den Eiern auf dem Dach, die in der ganzen Welt mit dem Namen der Stadt Figueres verbunden werden.«

Dalí sagte dazu nichts, sonnte sich wohl eher in dem Lob, welches er wohl auch zu Lebzeiten schon im Überfluss bekam. Ich versuchte, zu meiner Frau Blickkontakt aufzunehmen, aber Elisabeth schien den Besuch und das Gespräch gar nicht wahrgenommen zu haben und war mit ihrem Computer beschäftigt. Ich nahm allen meinen Mut zusammen und fragte: »Wie kommen wir eigentlich zu der Ehre Eures Besuchs, Marquis? Und wie ist das überhaupt möglich, wenn ich fragen darf?«

»Das lass nur meine Sorge sein. Es ist, wie es ist! Aber nenne mich nicht Marqués, einfach Dalí oder Salvador genügt, mein lieber Franck.«

Was sollte ich dazu sagen? Er kannte meinen Namen, sprach wie vertraut mit mir. Es berührte mich zutiefst auf eine eigenartige Weise. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Also tat ich, als sei alles ganz normal. »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Meine Frau macht Ihnen gern einen Espresso. Nicht wahr, Elisabeth?« Sie reagierte nicht. »Oder ein Glas Wein?«, wandte ich mich wieder an den doch etwas unheimlichen Besucher.

»Moltes gràcies«, antwortete der Gast auf Katalanisch und bemerkte dazu: »In meinem Zustand benötigt man dergleichen nicht mehr.«

Erst jetzt fiel mir auf, dass wir uns offenbar gegenseitig gut verstanden, obwohl Dalí meines Wissens Deutsch nicht beherrschte. Spanisch, Katalanisch sicher, wahrscheinlich auch Französisch, er war lange in Paris. Und Englisch natürlich, er lebte eine Weile auch in den USA. Aber ich habe es mit ihm weder auf Französisch noch Englisch versucht, sondern einfach auf Deutsch gesprochen. Wahrscheinlich hat man sowieso übersinnliche Kräfte, wenn man aus dem Totenreich zurückkommen kann …

»Ich muss jetzt aber auch mal etwas fragen, Franck«. Dalí zeigte auf den zweiten Bilderrahmen, der seitlich von ihm mit der Reproduktion seiner Paysage aux papillons hing. »Warum habt ihr dieses Bild für eure Wohnung ausgesucht? Es ist doch ein völlig anderer Stil als das Gemälde mit Ana Maria. Dazwischen liegen über dreißig Jahre!«

Ich überlegte kurz und entschloss mich dann, ehrlich zu antworten. »Das Mädchen am Fenster gefiel uns deshalb besonders, weil es eben aus Ihren jungen Jahren stammt, so im Stil der alten Meister, sagen wir der flämischen Künstler, gehalten ist. Um aber wenigstens ein bisschen Ihre ganze Bandbreite anzudeuten, haben wir nach einem völlig anders wirkenden Werk von Ihnen gesucht. Auch farblich sollte es einen Kontrast zum anderen Gemälde bilden. Bei dem Mädchen überwiegt das Blau in verschiedenen Variationen, das hier ist farbenfroh. Allerdings haben wir bei der Sichtung der Poster, die in Frage kamen, ich will ehrlich sein, bewusst die ganz bekannten Dalí-Figuren ausgeblendet. Wir wollten uns keine fließenden Uhren, keine Frauen mit Schubladen im Körper, keine brennenden Giraffen oder Elefanten mit dürren Spinnenbeinen ins Wohnzimmer hängen. Dieses Bild aber ist einfach schön! Das machen die klaren Farben, der blaue Himmel mit den weißen Wolken, die angedeutete Landschaft und natürlich die bunten Schmetterlinge. Weil das Gemälde irgendwie zweigeteilt ist, kann man auch hier lange darüber nachdenken, welche Symbolik dahintersteckt. Es gefiel uns damals einfach, da sind wir sicher in Ihren Augen echt spießbürgerlich.«

»Dazu sage ich mal nichts. Es freut mich, dass ihr dieses Bild nicht einfach als belanglos anseht. Gerade zu diesem Gemälde gab es viele Interpretationen, über die ich mich seinerzeit köstlich amüsiert habe. Man schrieb beispielsweise von einer Trennmauer zwischen zwei Welten, vom Wunder der Verwandlung oder einer Fata Morgana in der Hitze. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich, dass ich einmal gesagt habe, dass die Tatsache, dass ich selbst im Augenblick, wo ich male, die Bedeutung meiner Bilder nicht erkenne nicht heißt, dass sie keine Bedeutung hätten. Übrigens habe ich dem Bild gar keinen Titel gegeben, erst als es 1959 ausgestellt wurde, nannte man es Landschaft mit Schmetterlingen, allerdings auf Französisch.«

»Darf ich Ihnen noch sagen, dass ich von Ihren typischen Symbolen vor allem die Uhren liebe, die uns im Zerfließen die Vergänglichkeit zeigen. Als ich vor einigen Jahren bei einem Besuch in Andorra la Vella Ihre Skulptur La noblesse du temps, den Adel der Zeit entdeckte, war ich begeistert.«

»Da habe ich lange dran gearbeitet.« Dalí nickte versonnen, um dann enthusiastisch zu fragen: »Ihr seid doch öfter in Perpignan? Weißt du, was diese Stadt auszeichnet?«

»Ja, das habe ich in einem Reiseführer gelesen. Sie sehen sie als Mittelpunkt der Erde.«

»Nicht die Stadt, den Bahnhof! Und nicht der Erde, sondern des ganzen Universums!«

»Wie kommen Sie denn darauf? Klar, dass der Bahnhof von Perpignan bei Ihren vielen Reisen eine besondere Rolle in Ihrem Leben spielte, aber doch nicht für die ganze Welt!«

»Oh doch! Im September 1963 habe ich es erkannt. Ich begriff die Riemannsche Geometrie des gekrümmten Raums. Alles, was aus dem Unendlichen kommt, macht eine Schleife und endet im Bahnhof von Perpignan. Das ist das Zentrum der Welt!«

Ich verstand nur Bahnhof und wollte ihm etwas erwidern – aber da war er nicht mehr da.

»Weißt du was, Elisabeth, was du verpasst hast? Du wirst es mir nicht glauben! Salvador Dalí war hier und hat mit mir gesprochen.«

»Ja, ja, hast du was getrunken? Oder fängst du in deinem Alter an, Gespenster zu sehen?«

Auf diese Diskussion wollte ich mich nicht einlassen, aber ich nahm mir vor, zu recherchieren und zum Mittelpunkt der Welt mal eine Geschichte zu schreiben.

 

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