Von Kornelia Wulf

28.03.1947

„Tanz, Sigrun tanz!“

Helga zerrt an Sigruns Ärmel, geschneidert aus echter Kamelhaarwolle, die den Körper der Freundin warm einhüllt.  An diesem grauen Frühlingsabend, an dem Windspitzen in Stirn und Wange beißen – wohl trotzige Sprösslinge des beharrlichen Winters, der partout nicht abtreten will – auch wenn Krokus und Narzisse schon im Wettstreit blühen. Sigrun und Helga wirbeln kreischend, wie zwei putzige Mädchen im Garten der Kindheit, in dem Seelenknospen noch bunt aufspringen. Sigrun streicht über üppigen Flausch, zieht den Ärmel des Mantels glatt, den sie gegen ein Stück Butter auf dem Schwarzmarkt eintauschte. Omas Kette musste sie in die Waagschale legen – noch hört sie sie rasseln an ihrem Herzen – für ein Stück Fett, das nur ein wenig ranzig riechend für zwei Wochen ausreichen sollte. Noch spürt sie das Schmuckstück auf ihrer Haut. Feingeschmiedet, die Panzerglieder, an denen ein glänzender Anker baumelte. Aber Gold und Silber in diesen Tagen liegen erheblich schwer im Magen. Sigrun schlägt den Kragen hoch, als eine eisige Böe den Nacken trifft. Wie eine zweite Haut sitzt das gute Stück. Helgas Finger schlüpfen in Sigruns Hand. Rissige Schwielen auf ihrer Haut. So fühlen sich Trümmerfrauenfäuste an, denkt Sigrun. Im Gleichsprung hüpfen sie über die Deichpromenade. Splittersteinchen dringen durch löchrige Sohlen – wen stört das heute schon – an den Fassaden der Villen entlang, wuchtig und weiß, die wie Zahnkronen aus Ruinen ragen, denen der Krieg den Lebensnerv raubte. Noch scheint Fäule durch Schutt und Asche zu kriechen. Ein Geruch ganz dezent, falls man ihn kennt, vereint in Harmonie mit kaltem Rauch. Zwei Möwen steigen zum Himmel auf, fliegen vorbei an den alten Buchen, die den Bomben standhaft trotzten, gepflanzt vor den Häusern der feinen Leute. Bis sie die Schnäbel im Sturzflug gesenkt ihr Ziel anpeilen, ein gefiedertes Kampfgeschwader sozusagen, während Sigrun und Helga die Hände über dem Scheitel zusammenschlagen – sagte man nicht, sie hätten ganz tief in einen Kindskopf gepickt – dann zarte Spatzen auffangen. Oh ja, denkt Sigrun, in Hungerzeiten folgt man halt der zweiten Wahl. Ihr Blick gleitet den grünen Hügel hinab. Dort unten schwappt der Fluss an den Badeplatz. So allein und verlassen schlägt er die melancholische Seite in ihr auf.

„Komm, Sigrun komm!“

Wieder zieht Helga am Kamelhaarärmel, hoffentlich hat sie die Hände gründlich gewaschen und schleift Sigrun um die Biegung des Osterdeichpfades. John steht schon da – und Sigruns Herz gerät in Fahrt – vor den Panoramafenstern, bereits hell erleuchtet. Das Licht hinter den Scheiben soft und warm erinnert sie an einen honigfarbenen Schleier, in dem sich ein dürrer Körper wiegt, von zwei Trompeten eingerahmt. Gedämpfte Töne dringen durch Fensterritzen. Der Dünne singt – „Swinging on a star“ – so gewaltig klingt sein Bariton – für Eisbein mit Sauerkraut extralarge. Eben eine echte Männerportion, sagt John. Sein Strahlen glüht auf Sigruns Haut, bis Helga die Magie des Momentes versaut.

„Hey John“, selbst ihre Stimme klimpert, „wo ist Dave?“

„Uuh, den hat der Alte zur Nachtwache verdonnert.“ Und sein Bananenmund entblößt schneeweiße Zähne, als John die Arme über den gewaltigen Brustmuskeln öffnet.

„Come on, girls. Hier finden auch zwei deutsche Fräulein Platz.“

Kaum, dass sie den Gastraum betreten haben, gleitet der Mantel an Sigruns Armen hinab. Die Heizkörper bullern im River Club. Und Zentimeter für Zentimeter tankt ihr Körper die Wärme auf. Zu Haus jeden Tag der Kampf mit den Kohlen, so oft hört man dort die Zähne klappern. An Johns Schulter gelehnt, denkt sie an Vater. An die heißen Strandbadetage. Wie er seine Hand auf verweinte Wangen legte, bevor er den Wasserball zurück aus den Wellen holte, ihr hier ein Eis spendierte. Nun haben die Amis es übernommen, ihr Schlaraffenland, in dem die Kindheit Gast sein durfte. Die Kontur der Erinnerung verliert sich im Rauch, während Sigrun an Johns Pall Mall saugt. Auch die Süße des Rheinweins, von ihm geordert, bricht die letzten Schranken des Tages. Als die Kellnerin Canapés serviert, dick bestrichen mit Mayonnaise und Shrimps, versucht sie sich in einen eisernen Reifen zu zwängen – jetzt nur nicht schlingen, manierlich essen! – obwohl sich zwischen den Rippen ein Hohlraum ausbreitet, der nach Gestopftwerden schreit. Die letzte Krabbe noch auf der Zunge, holt John sie auf die kleine Tanzfläche. Sie wiegen sich in Trompetenklängen. Besame Mucho füllt die Stille.

John will sie mit nach Wisconsin nehmen, auf die Farm seines Vaters. Dort weiden die Kühe auf saftigem Gras. So schön dieses Bild, das Sigrun sich malt. Ein Land, in dem Milch und Sahne fließen. Zu Hause hält sie es nicht mehr aus. Er sitzt in der Ecke, Tag für Tag, und wenn nur ein Fünkchen Licht durch die Vorhänge bricht, hört sie Papa weinen. Alles soll im Dunklen bleiben. Und in jedem Raum regiert das Schleichen. Als Sigrun neulich den alten Milchtopf zerbrach und sein Scheppern in die Stille stach, begann dieses Schreien. Und Mama wiegte Papa in ihrem Arm, Stunde um Stunde, bis sie ihn, bereits taub und lahm, nicht mehr spürte. Weil Papa den Frieden nicht finden kann. Und vor jeder Tür das unsichtbare Schild: Lachen bei Strafe verboten.

Ganz fest hatte John es versprochen. Nachdem er auf ihrem Leib zusammenbrach, der auf dem grauen Laken im Hinterzimmer lag. Dort, wo es dumpf und schweißig roch. Und Sigrun verbarg ihren Kopf unter dem Kissen, als dieses Keuchen begann und eine Möwe ihre Sturzbahn vom Himmel nahm. In ihre Augen blickte. Schmutz von der Scheibe pickte. Feuchtwarm klebte Johns Körper auf ihrer Haut, auf dem es so viel zu entdecken gab. Er drückte ein Parfum in ihre Hand – und Vanille und Fliederduft schwängerten die Luft – bevor sie den Schlüpfer bis zu den Achseln hochzog. Bald reise John zu seinem Vater. Doch er komme zurück, schwor „Je reviens und hole dich nach!“

Sigruns Gedanken feiern ein Sehnsuchtsfest, als sie ein kicherndes Klatschen hört

„Damenwahl!“

Sigrun unterdrückt ein genervtes Stöhnen, während Helgas Hüften drängend wippen. „Okay“, brummelt sie, „die Nächste bitte.“ Sie schlendert an den Tischen entlang. Spürt, wie klebriger Schweiß sich zwischen den Brüsten ausbreitet und eine Pall Mall in der Hand, tritt sie vor die Tür. Schaut dort den kleinen Rauchwölkchen nach, die gen Himmel kreiseln, bis ein Windstoß sie zurück in die Clubwärme treibt.

***

„Warte, Sigrun warte!“

Sigrun dreht sich zu Helga um.

„Hau bloß ab!“

Keuchend rennt sie über den Deichpfad, begleitet von dem Sturmgetöse, das sein Spiel mit den alten Buchen treibt.  Ein scharfer Schmerz wühlt in ihrer Brust. Als zerreiße die Herzhaut in Zeitlupe. Wie ein hungriges Äffchen hatte Helga an ihm gehangen, die Arme fest um Johns Nacken geschlungen. Die Hüfte über die Stelle gerieben, mit der die Männer stöhnend lieben. So hatte Sigrun die Beiden vorgefunden, als sie sich auf der Tanzfläche wiegten. Und Johns Hand versank in Pepitafalten, ließ das Parfüm in Helgas Rocktasche gleiten. „Nein, das ist meins!“, wollte Sigrun schreien.

Neben ihr ein kraftvolles Trappeln. Helga stellt sich ihr in den Weg. „John will mich nach Wisconsin holen. Das lasse ich mir von Niemandem nehmen. Auch nicht von dir. Aber hey“, und wieder hört Sigrun das falsche Klimpern, „es gibt doch noch Dave.“

Ihr Zorn findet sein Ventil in einem Bruchstein, der im Gestrüpp neben dem Wegrand auf sie zu warten scheint. Schwer wiegt sein Schicksal in ihrer Hand, als sie weit ausholt,

„Nein, Sigrun nein“,

und ein Rausch durch Zweige und Glieder fährt, Sigrun ihr Kinn ruckhaft anhebt, den Blick in die blattlose Krone versenkt. Aus der löst sich ein mächtiger Ast.

Knackt einfach ab.

Dann nur noch ein furchtbares Krachen … pures Rot … auf dem Kamelhaar … meine Güte! …. Komplett versaut, das gute Stück …

***

28.03.2022

Anna betritt das Altenheimzimmer – Magensonde überprüfen: Sigrun Wagner – so steht es auf ihrer inneren To-do Liste. Mit geübtem Griff bewegt sie den Schlauch, streicht in sanfter Linie über pergamentene Haut. Endlich wieder mal eine ruhige Nacht. Sie atmet tief auf. Den Kopf gebeugt über das Gesicht der Alten, feingezeichnet im gedämpften Lampenschein, folgt sie dem Pfad verzweigter Falten. Seit ein paar Wochen liegt sie so da. Zwar wach, aber nicht ansprechbar. Entschwunden in einen Raum ohne Nischen und Schranken? Wer weiß das schon. Auf dem Friedhof wurde sie gefunden, in den frühen Morgenstunden. Was hat sie um diese Zeit bloß dort gemacht? Ebenda traf sie ein Schlag, von dem sie sich nicht erholen mag. Als sie ganz starr vor dem Grabstein lag, sei eine Möwe vom Himmel gekommen – die Kollegin einer Kollegin hat es ihr anvertraut, unter dem Siegel der Verschwiegenheit – habe in Sigruns Hand gehackt. Mit wilder Kraft. Anne winkt ab. Immer dieser Altenheimtratsch. Und nachdenklich an der Lippe nagend schaut sie auf den Verband um Sigruns Hand. Auf diese Wunde, die einfach nicht heilen mag.

Vom Bett her hört Anna ein leises Stöhnen. Eng umfasst sie die dünnen Finger – ach, wenn du es mir erzählen könntest – und wieder versucht sie den Blick einzufangen, der in der Leere zu schwimmen scheint – obwohl sie es doch besser weiß. Bis etwas aufblitzt in den alten Augen – nein, nein, nein, das kann nicht sein – und die Pupillen sich weit öffnen. Als sei ihr mentaler Deich komplett aufgeweicht, schwappt eine Welle zu Anna herüber. Sie fühlt, wie Sigruns Trauer in ihr aufschäumt und vom grauen Strom getragen, treibt sie vereint mit Erinnerungsleichen, die aus blauem Sediment aufsteigend sich an die Oberfläche wagen.

Zitternd lässt sie sich auf den Hocker fallen, der neben Sigruns Bett auf Einsatz wartet. Und den Rücken fest an die Wand gepresst, versucht sie ihren Atem einzuholen, als ein Duft an ihr vorüberschreitet und sich aufdringlich süß im Raum ausbreitet. Vanille und Flieder? Anna schnuppert. Rümpft dann die Nase. Gott, wie eklig. Dieser Geruch!

Irgendwie billig.

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