Von Juliane Soain

Als die Sonne untergeht, den Himmel lila färbt und glaubt mir, dieser Anblick ist eine Reise wert, erreicht Sael endlich das Gasthaus. Bevor er die Tür aufdrückt, dreht er sich noch einmal um: Das Tal, was er durchritten hat. Den Fluss, den er überquert hat. Den Pfad, den er beschritten hat. All das wird durch die Dunkelheit verschlungen. Die Sonne versucht, mit letzter Kraft, Licht ins Dunkle zu bringen, aber sie wird den Kampf verlieren.

Zeit hineinzugehen, um der Gefahr zu entrinnen.

Sofort richten sich alle Augen auf ihn und davon gibt es hier mehr, als Personen im Raum. Mit klackenden Schuhen betritt er den Gastraum, lässt seinen Rucksack fallen und setzt sich auf einen freien Platz.

Die Musikanten klatschen und fangen wieder an zu spielen. Daraufhin wenden sich alle von Sael ab und widmen sich ihren ursprünglichen Tätigkeiten.

Die Bedienung kommt auf Sael zu.

Dunkelblaue Augen.

Blaues Haar.

Hochgewachsen, wie Elfen nun mal sind.

Zu gepflegt. Zu durchtrainiert. Ein Stilett zeichnet sich im Strumpfband ab, auch wenn sie es sehr gut versteckt.

Lächerliche Fassade. Das hier kaufe ich ihr nicht ab. Sie verfolgt andere Ziele.

„Ich bin Selina und bediene heute. Was darf ich dir bringen, Reisender?“

Der Klang ihrer zarten Stimme entspannt Sael: „Ich brauche ein Zimmer für die Nacht und ein Bad würde mir auch mal wieder guttun.“

Sael zeigt auf die Speisekarte: „Das Abendmahl auf mein Zimmer.“

Selina nickt und verschwindet wieder.

Sael ruft ihr hinter: „Selina, ich habe Durst! Bring mir doch bitte einen Rubinroten.“

Ein Mann mit einem dunklen Umhang, der mit dem Rücken zu Sael sitzt, ruft in den Raum: „Was bist du denn für ein schräger Vogel?“

Sael steht auf, geht ganz nah an das Ohr des Fremden ran und flüstert: „Ich bin Sael. Fahrender Händler.“

Misstrauen schwingt in seiner Stimme: „Ich hab draußen keinen Karren gesehen.“

Dann wechselt er auf die andere Seite: „Ich bin nicht so ein Händler.“

Sael wendet sich vom Fremden ab und ruft in den Raum: „Ich verkaufe Geschichten, Träume und Unterhaltung.“

Er stößt sich an der Bank ab und springt auf den Tisch. Nun hat er die volle Aufmerksamkeit der Leute im Gastraum. „Ich habe gehört, dass es hier einen Geist geben soll. Ich möchte ihn kennenlernen.“ Auf einmal ist Stille im Raum. Selbst die Gaukler haben aufgehört zu spielen. Dann wird es wieder etwas unruhiger.

„Geh nach Hause.“

„Wir wollen die Musik weiterhören.“

Einige Unkenrufe muss unser Sael einstecken. Aber das ist er gewohnt. Enttäuscht steigt Sael vom Tisch. Er hat den Geist erwartet.

Der Unbekannte dreht sich zu ihm um: „Trinkst du auch was anderes als Kirschsaft?“

Er setzt sich zu ihm. Ein unbehagliches Gefühl überkommt Sael, doch die Neugier ist stärker.

„Du wolltest etwas über den Geist wissen?“

Wie kann dieser Mann eine solche Gelassenheit ausstrahlen?

Sael rutscht auf seinem Hintern hin und her, wie ein kleines Kind, mit zu viel Energie.

Er haut die Ellenbogen auf den Tisch, verschränkt seine Hände und legt sein Kinn drauf ab. Gespannt sieht er den Fremden an, der ihn auf die Folter spannt, indem er genüsslich an seinem Getränk nippt.

In Sael brennt die Zündschnur ab. Er haut mit den Händen auf den Tisch. „Erzähl doch endlich!“

„Na gut.“, woraufhin er noch einen Schluck nimmt, bevor er sein Glas abstellt. „Auch wenn es nicht viel zu erzählen gibt.“

„Vor vielen Jahren tauchte ein Geist auf. Erst waren die Leute misstrauisch und schreckhaft, aber nach und nach verstanden wir uns mit dem Geist immer besser. Er lernte unsere Sprache und fing sogar an, mit uns zu trinken. Besonders die Geschichten haben ihm immer gefallen. Eine nach der Anderen hat er aufgesaugt.“

Sael rutscht immer weiter vor, bis sein Hintern nicht mehr auf der Bank ist, um besser hören zu können.

Der Fremde schwelgt in Erinnerungen. „Es war eine schöne Zeit. Irgendwann tauchte der Geist leider immer seltener auf und verschwand eines Tages ganz.“

Der Mann macht eine kurze Pause und seufzt. „Schon ein ganzes Jahr hat er sich nicht mehr blicken lassen. Ich glaube nicht, dass er zurückkommt.“

Enttäuscht lässt sich Sael zurückfallen. „Ich fasse zusammen: Er ist weg.“

Woraufhin der Fremde nickt.

„Aber, er liebt Geschichten.“

Erneut nickt der Fremde. Sael steht auf, stürzt seinen Kirschsaft hinunter, ballt seine Hand zu einer Faust und schlägt sie in die Andere.

„Verehrter Reisender. Ihr Zimmer ist fertig.“

Sie überreicht ihm einen Schlüssel: „Das Letzte auf der linken Seite. Ich komme in Kürze, um den Reisenden zu baden.“

Sael nickt, nimmt seine Sachen und geht nach oben.

Dort links. Schlüssel passt. Perfekt!

Knarrend öffnet sich die Tür und gibt Sael Einblick in das Zimmer. Enttäuschung steht in sein Gesicht geschrieben.

Hab schon schlechter geschlafen. Letztens, der Kuhstall. Der war noch spärlicher eingerichtet.

Er wirft seinen Reisesack in die Ecke und lässt sich aufs Bett fallen.

Was mache ich bloß? Der weite Weg hierher, um den Geist zu sehen, alles umsonst?

Sael wird aus seinen Gedanken gerissen, als jemand an der Tür klopft: „Reisender, das Bad ist fertig.“

Selina öffnet die Tür und bittet ihn herein: „Ich hole noch das Handtuch und die Bürste.“

„Gut.“, brummelt Sael und zieht sich aus. Sein Körper ist mit einigen Narben übersät. Narben aus seiner früheren Zeit, als er noch Krieger war.

Er steigt in die Wanne und legt sich in das wohlig warme Wasser. Er schließt die Augen und entspann sich, bis er einige Schritte hört.

Als Sael ihre Hände an seiner Brust spürt, setzt er sich wieder hin und schaut auf die vielen Döschen im Regal, die sich im Baderaum befinden. Selinas zarten Hände gleiten sanft über seine Haut und dennoch stark genug, dass er seine angespannten Muskeln spüren kann. Nachdem sie mit seinem Rücken fertig ist, lehnt er sich wieder zurück und legt den Kopf nach hinten, dass er in ihre Augen schauen kann. Sein Herz fängt an, schneller zu schlagen.

Diese wunderschönen Augen. Dunkelblau wie Saphire.

Sie kommen mir so bekannt vor. Wo habe ich sie schon mal gesehen?

Auf einmal fällt es Sael wie Schuppen von den Augen. Er dreht sich mit Schwung in der Wanne, dass das Wasser überschwappt, und blickt sie an.

Sael zeigt mit dem Finger auf sie: „Ich weiß jetzt wieder, wer du bist.“

Selina verschränkt die Arme vorm Körper und wartet gespannt auf die Antwort.

„Aniles, die Trickbetrügerin.“

Langsam fährt Aniles Hand zum Strumpfband.

Sael streckt die Hände von sich: „Nein, nein warte. Ich bin nicht hinter dir her.“

Sie lässt von ihrem Vorhaben ab und verschränkt wieder die Arme vor ihrer Brust: „Ich will nicht, dass jemand erfährt, wer ich bin.“

Provokativ schaut Sael sie an: „Vielleicht kannst du mir ja einen Gefallen tun und wir vergessen die Sache.“

Selina stellt ihren Fuß auf den Wannenrand, sodass ihr Rock etwas hochrutscht. Saels Blick wandert langsam an ihrem Fuß hoch und begutachtet, die nicht mehr bedeckten Stellen.

„Meine Augen sind hier oben!“, ruft sie ihm zu.

Sofort wandert Saels Blick hoch.

Selina schaut bedrohlich: „Warum sollte ich drauf eingehen?“

„Weil, weil ich ein lieber Kerl bin.“, zwinkert er ihr zu.

Selina fängt an zu lachen. „Dann erzähl mal!“

„Ich will den Geist treffen!“

Sie beugt sich vor: „Na seinetwegen bin ich doch auch hier, aber egal was ich mache, er lässt sich einfach nicht blicken lassen.“

Sael riskiert einen Blick in ihren Ausschnitt und kassiert sogleich eine Kopfnuss.

„Autsch.“, reibt er sich seinen Kopf.

Selbstverständlich, als ob es ihre Idee war: „Ich schlage vor, wir arbeiten zusammen!“

Genau das hab ich doch vorgeschlagen, aber bevor ich sie noch mehr verärgere.

Mit einer Handbewegung winkt sie ihn zu sich heran, woraufhin Sael aufspringt.

Sie errötet und stottert die ersten Wörter heraus, bevor sie ihren Blick abwenden kann und sich wieder fasst. Sie stecken ihre Köpfe zusammen und tüfteln einen Plan aus.

„Genauso machen wir das. Wir treffen uns gleich unten!“

Kurze Zeit später, findet sich Sael im Gastraum ein.

 „Aus dem Weg!“, schiebt er einen Betrunkenen zur Seite. Das Geschirr fliegt hinterher und zerbricht am Boden.

Verwunderte Augen blicken ihm entgegen, als er auf den Tisch springt: „Meine Damen und Herren. Das wird die Aufführung ihres Lebens!“

Er zeigt auf die andere Seite des Raums: „Seht, die liebreizende Selina wird heute die Darbietung, mit mir zusammen aufführen.“

Gläser klirren, als er mit dem Fuß auf den Tisch stampft: „Wir werden eine Geschichte erzählen.“

 „Eine Geschichte, die lange verborgen war. Der Reisende hat einen weiten Weg auf sich genommen, um diese Geschichte mit euch zu teilen.“

Sobald Selinas zärtliche Stimme erklingt, zieht sie alle in ihren Bann. Währenddessen weist Sael die Gaukler an, eine traurige Melodie anzustimmen.

Ein Lächeln huscht über Saels Gesicht, als er sieht, wer sich dazugesellt: „Dieser besondere Moment ist nun gekommen. Es wird Zeit die Geschichte zu erzählen, die so lange in Verborgenheit geschlummert hat.“

„Verehrtes Publikum. Trauer überschattet eine kleine Stadt…“

Dann beginnt die Vorstellung. Sael und Selina erzählen eine dramatische Geschichte über ein Liebespaar in einer provinziellen Stadt, die sich nur heimlich treffen können.

Saels Vorstellung ist grandios. Er ist in Hochform. Immer mehr Leute schauen ihm zu. Selbst die Zweifler, die von ihm anfangs genervt waren.

Überglücklich zieht Sael alle in seinen Bann. Er erzählt die letzten Sätze seiner Geschichte. Dann blickt er zu seiner Assistentin.

Selina ist fantastisch. Als hätte sie nie etwas anderes gemacht.

Sael sieht, wie der Geist aufsteht und etwas in die Ecke stellt, muss sich aber im nächsten Moment wieder konzentrieren, um nicht vom Tisch zu fallen.

Sael und Selina nehmen die finale Pose ein. Schweißperlen laufen an ihrer Stirn herunter. Die Anstrengung hat sich gelohnt. Der Applaus spricht für sich. Die Zuschauer jubeln.

Völlig erschöpft geht Sael mit seinem Hut durch die Reihen und sammelt Geld ein. Immer noch von Adrenalin durchströmt schaut er sich um, kann den Geist aber nicht finden. Verzweifelt schaut er sich im Gastraum um.

Der Geist, ich hab ihn gesehen. Ich hoffe ich kann, ihm wieder begegnen.

 

Version 2