Von Miklos Muhi

Mahmud musste warten. Hinter ihm lag eine lange Reise, deren Ziel er nicht selbst bestimmen konnte. Es sah so aus, als würde sie nun enden, aber er hatte schon einige Enttäuschungen diesbezüglich erlebt.

Draußen war es ungemütlich. Es war kalt und ein eisiger Wind wehte auf dem Strand von Rügen.

Als die Gestalt des Jungen in der Ferne auftauchte, schaute Mahmud interessiert zu. Bald strömte frische Luft hinein. Sie roch nach Schnee und nach Meer. Sie roch unverbraucht und nach Freiheit und Mahmud konnte endlich raus.

Da vergaß er sofort alles, was er sich vorgenommen hatte, um nicht gesehen zu werden. Viel zu viele Menschen hatten irgendwelche blöde Geschichten im Kopf, deshalb verlangten sie von ihm alles Mögliche. Öfters hatte er sich gefügt, nur um den lästigen und nimmersatten Idioten loszuwerden. Natürlich war damit eine Lektion für den Bittsteller verbunden. Diese empfanden die meisten als Verarsche. Mahmud kümmerte das nicht. Gegen Bescheidenheit und Respekt war er immer bereit auf das Austeilen der Lektion zu verzichten.

So wurde er wieder einmal gesehen. Vor ihm stand ein blasser Junge von etwa zwölf Jahren, winterlich angezogen und schaute ihn mit müder Neugier an.

»Hallo. Ich heiße Hannes. Wie heißt Du?«, fragte der Junge.

Da Mahmud weit gereist war, konnte er sich überall verständigen. Sein Aussehen kam jedoch vielen fremdartig vor. Doch für seine Hautfarbe konnte er nichts und seine für wärmere Regionen gedachte Kleidung war eine Art von Uniform, die er tragen musste.

»Hallo. Ich heiße Mahmud. Schön Dich kennenzulernen«, antwortete er und reichte dem Jungen die Hand. Der Händedruck fiel etwas schwächer aus als erwartet.

Hannes zog seinen Schal aus und reichte ihn ihm.

»Es ist sehr kalt hier. Du erkältest Dich noch«, sagte er.

Mahmud war überrascht. Noch nie wollte jemand ihm etwas geben.

»Danke Hannes, aber behalte es lieber an. Mir ist nicht kalt«, sagte Mahmud und schaute sich um.

»Wo ist Deine Familie? Was machst Du hier ganz allein?«

»Meine Familie ist bei meiner Schwester im Hospiz«, sagte der Junge und zeigte auf ein hohes Gebäude in der Ferne.

»Was hat sie denn?«, fragte er.

»Mukoviszidose. Der Arzt meint, dass das ihr letztes Weihnachten sein würde«, antwortete der Junge.

Plötzlich wurde Mahmud klar, warum der Strand so leer war.

»Es tut mir leid«, sage er.

»Meine Eltern sind Tag und Nacht bei ihr. Ich komme oft hierher. Hier ist es ruhig. Hier hustet und weint niemand. Hier piepsen keine Geräte. Hier stirbt keiner.«

»Brauchst Du etwas? Zu Weihnachten beschenkt ihr Christen doch einander.«

»Was ich haben will, was ich brauche, ist nicht zu bekommen. Was hast Du jetzt vor?«, fragte Hannes.

»Ich habe so viel vor, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.«

»Ich wünsche Dir alles Gute, Mahmud! Frohe Weihnachten!«, sagte Hannes, und ging weiter.

Mahmud schaute ihm lange hinterher, dann klatschte er zweimal in die Hände und verschwand. Die Flasche, in der er seit mehr als 300 Jahren auf den Weltmeeren unterwegs war, ließ er zurück.

*

Als Hannes auf den Flur, der zum Zimmer seiner Schwester führte, einbog, blieb er erschrocken stehen. Ärzte und Krankenschwester standen vor der Tür. Sein Magen verkrampfte und er machte sich auf das Unausweichliche gefasst. Er spürte jedoch, dass es in der Stimmung, die aus dem Zimmer strömte, keine Spur von Trauer oder Schmerz gab, dafür aber reichlich Freude und Hoffnung.

 

 

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