Von Sabine Esser

Sechs Uhr morgens. Jan und Siegfried stapfen durch die morgenfeuchten Dünen. Sigi wie immer in Camouflage. Noch ist es nicht richtig hell. Immer wieder müssen sie ihre salzbeschlagenen Brillen trocknen.

Das schwere, sperrige Angelgerät erleichtert das Auf und Ab durch den Sand wahrlich nicht. Auch macht sich das gestrige Kutterangeln inklusive feuchter Nachbesprechung ‚Bei Ole‘ böse bemerkbar. Für heute ist Brandungsangeln auf Plattfisch angesagt.

 

„Scheiß-Tide“, keucht Jan ziemlich schnell. „Muss die unbedingt zu nachtschlafender Zeit auflaufen?“ Sigi hatte eigentlich keine Pause vorgesehen. Er gibt nach, wühlt in seinem Parker und kramt Zigaretten, Sturm-Feuerzeug und sogar einen Flachmann hervor.

„Man soll damit anfangen, womit man aufgehört hat.“ Er nimmt einen guten Schluck und reicht Jan die Flasche. „Der frühe Vogel fängt den Wurm. Los jetzt!“

Jan schlappt müde hinter ihm her. Düne rauf, Düne runter. Immerhin frische Luft.

 

Seit der Schulzeit sind sie engste Freunde, und ein Mal jährlich gönnen sie sich eine Woche Ehe-Urlaub auf einer Nordseeinsel. Alters- und wetterbedingt nicht mehr im Zelt, sondern in einer kleinen Pension, wo sie ihre Fänge selbst zubereiten und sogar einfrieren können. Niemand fragt, ob sie sich rasiert oder die Zähne geputzt haben, fast wie früher, nur bequemer. Morgens steht eine Thermokanne Kaffee bereit und für jeden sind zwei Leberwurstbrote eingewickelt. Den Kaffee trinken sie gleich, die Brote sind für unterwegs.

 

Oben auf der letzten Düne halten sie schnaufend inne. Unter dem Seenebel ist schon der Strand zu erahnen. Fasziniert beobachten sie, wie die Morgensonne den Dunst vertreibt und Schwaden für Schwaden den Blick freigibt.

 

Sigi traut seinen Augen kaum. „Was ist das denn?“

„Wieso was? Ich seh‘ nichts.“

„Na da! Das Riesenvieh! Bist du blind?“

Angestrengt starrt Jan auf den weiten Strand. Doch, ja, da ist etwas. Aber weit weg.

„‘Ne Kegelrobbe ist das nicht, die sind kleiner. Vielleicht ein angeschwemmter Wal?“

 

Selbst mit dem Fernglas ist nicht viel zu erkennen, außer dass das Tier noch lebt, den Kopf erhoben hat und langsam watschelt.

Sigi ist jetzt ganz sicher, dass es sich nur um einen verirrten See-Elefanten handeln kann. Vermutlich ein Klimawandel-Opfer.

Jan hält dagegen, dass es doch vielleicht eine kleinere Walart sein könne, die von U-Boot-Sonargeräuschen fehlgeleitet wurde.

 

Sie rutschen und stolpern die Düne hinunter zum Strand. Auf dem festen Sand knapp am Wasser marschieren sie vorwärts. Die Entfernung ist viel größer, als vermutet. Meter für Meter stapfen sie mit ihrer schweren Ausrüstung an der Flutkante entlang. Nur noch das Ziel im Blick. Eins zwei drei, eins zwei drei. Und noch ein Schritt und noch ein Schritt.

 

So lange, bis ihnen ein widerlicher Geruch von Fäulnis und Verwesung in die Nase steigt. Jan beginnt, zu würgen. Gott sei Dank hat er fast nichts im Magen. Der Gestank ist unerträglich. Sigi zückt seinen Flachmann und die Zigaretten. Lagebesprechung.

 

„Das Vieh muss tot sein, sonst würde es nicht so stinken.“

„Aber du siehst doch selbst, dass es sich bewegt!“

„Das ist tot! Hundertprozentig“, beharrt Sigi. „Achte mal auf die Brandung. Nur damit bewegt es sich.“

Jan borgt sich das Fernglas aus. „Das hat keine glatte Haut mehr, das wird aufgefressen! Bei lebendigem Leibe! Sieh‘ doch die weißen Stellen und wie es sich aufbäumt!“

 

Sie marschieren weiter, versuchen, nicht durch die Nase zu atmen. Immer noch sind sie mindestens 300 Meter von dem gestrandeten See-Elefanten oder was auch immer entfernt, da hören sie laute, stöhnende Schmatz- und Kratzgeräusche.

 

„Der lebt doch noch!“, keucht Jan.

„Quatsch! Der stirbt gerade.“

 

Egal, was für eine vorsintflutliche Kreatur oder klimawandel-verirrtes-mutiertes Wesen da herumkriecht, Jan will zurück, trottet aber weiter hinter Sigi her.

 

Nur noch hundert oder weniger Meter. Das ist kein See-Elefant und auch kein Wal. Schon gar keine Kegelrobbe. Es ist ein höchst lebendiges Monstrum, das sich mühsam, stinkend und lautstark über den Strand in Richtung Wasser schiebt.

 

Jan erbricht sich nun doch und dreht kommentarlos um. Er will nichts mehr sehen, hören und vor allem riechen. Ihm ist alles zu viel. Hauptsache duschen, um den Gestank aus der Nase zu bekommen. Und ganz schnell die Klamotten auf den Balkon!

 

Nur wenig später kommt Sigi in die Pension. Jans Fragen nach der merkwürdigen Kreatur beantwortet er nicht. Auch er flüchtet sofort ins Bad und schmeißt die gesamte Camouflage nach draußen.

 

Jetzt erst haben sie wirklich Hunger und Durst. Aber auf was Richtiges! Im Restaurant am Fähranleger gibt es fast rund um die Uhr Riesenportionen frittierten Backfisch mit Bratkartoffeln zu moderaten Preisen.

„Fisch muss schwimmen.“ Sigi ordert zwei weitere Gläser Bier und zwecks besserer Verdauung zwei Kurze.

Danach ist ausgiebiger Mittagschlaf angesagt.

 

Um 18 Uhr öffnet Ole. Jetzt endlich, am Tresen, beginnt Sigi zu sprechen: „Das war ein Monster! Riesig!“

Der Wirt bekommt lange Ohren und Opa Janßen bequemt sich von seinem Stammtisch auf den Barhocker. Das klingt nach reichlich Freibier.

 

Sigi ordert eine Runde und beginnt zu erzählen. Wie er und Jan auf der Düne waren, wie er das Ding entdeckte, wie weit sie mit der schweren Ausrüstung gelaufen sind, dass Jan den Anblick und den Geruch nicht ertragen konnte. Wie er, Sigi, trotzdem weiterlief. Wie groß diese Kreatur ist, wie sehr sie stöhnt und wie bestialisch sie stinkt. Dass sie entsetzliche Qualen erleidet, weil irgendwelche Muscheln sie laut schmatzend bei lebendigem Leibe auffressen. Wie hoch sie sich aufbäumt im Todeskampf, dass sie aussieht wie eine Riesenrobbe, die verzweifelt nach Luft schnappt. Jan würgt es bei der bloßen Erinnerung. Er muss nach draußen, bloß weg. Trotzdem bleibt er.

 

Mittlerweile ist kein Platz am Tresen mehr frei. Sogar an den Tischen wird getuschelt. Ein älterer Tourist mit sehr hübscher und sehr junger Begleitung schwört, er sei genau dort mit seinem Katamaran gewesen, sie hätten aber nichts gesehen. Ole und Opa Janßen grinsen und denken sich ihr Teil. Ein anderer Tourist widerspricht, er sei mit seinem Plattbodenschiff genau zu der Zeit dort gefahren, und er habe etwas Großes an Land gesehen, aber nicht darauf geachtet. Je mehr Bier fließt, desto mehr wird spekuliert. Sigi ist in seinem Element.

 

Opa Janßen kommt allmählich in Fahrt. Er hat für klimawandelnde See-Elefanten oder Robben und U-Boot-gestörte Wale grundsätzlich nichts übrig. So was gibt es einfach nicht. Er ist lange genug auf dem Kutter gefahren, hat große, tote oder halbtote Lebewesen, sogar Fliegerbomben vom letzten Krieg in seinen Schleppnetzen gehabt, manchmal sogar menschliche Leichen oder Teile davon.

„Nu‘ erzähl‘ ich euch, was das ist.“

 

In der Kneipe ist es plötzlich ganz still. Ein Handy bimmelt und wird sofort inaktiviert. Sogar die Zehen der Hübschen pausieren regungslos an den Waden ihres Katamaran-Kavaliers. Ole stellt die Musik ganz leise und schenkt aus, was das Zeug hält. Nach langer Pause und einem tiefen Schluck beginnt Opa Janßen:

 

„Ich war früher auf großer Fahrt, lange Jahre. Nich‘ immer nur Kutter. Ich hab‘ die ganze Welt gesehen, mehr als ihr euch vorstellen könnt! So was gibt es tatsächlich. Aber das sind keine Muscheln, das sind Krebse, die auf Treibholz leben. Sie sehen nur aus wie Muscheln. Und sie werden mit der Flut angeschwemmt und mit der Ebbe abgetrieben.“

 

Diese Erklärung ist viel zu einfach. Sigi beharrt auf seinem stinkenden, sterbenden Monster, Opa Janßen auf den Krebsen. Es wird heftig diskutiert, die Zehen wandern höher, Ole freut sich über den guten Umsatz und dass es keine Sperrstunde gibt.

 

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Quellen:

http://www.telegraph.co.uk/news/2016/12/11/mysterious-object-washed-new-zealand-beach-divides-opinion/

 

https://web.de/magazine/wissen/wales-komisches-ungeheuer-strand-gespuelt-32508902

 

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Version 2