Von Andreas Schröter

Wenn ich gefragt werde – oder mich selbst frage –, ob ich nochmal 20 sein möchte, muss ich länger überlegen. Sicher, die verdammten Knieprobleme, die ich heute mit fast 60 habe, sind lästig. Auch konnte ich früher ziemlich schnell rennen, was ich vermisse. Und so viel Schlag bei Frauen wie damals habe ich heute zugegebenermaßen nicht mehr. Andererseits kann ich mich noch gut an die nervenzehrende Unsicherheit erinnern, die daraus resultierte, dass ich nach der Schule partout nicht wusste, welchen beruflichen Weg ich einschlagen sollte.

Ich weiß noch, dass es in meiner allerletzten Schulstunde um die Zukunftspläne der Schüler ging. Der Lehrer war nicht gerade ein Ausbund an Zuversicht, die ich in dieser Situation aber durchaus hätte gebrauchen können. Er vertrat die Ansicht, dass wir ja ohnehin alle zur No-Future-Generation gehörten. Und auch in späteren Jahren, als ich in einem Shopping-Center die Einkaufswagen auf dem Parkplatz einsammelte, war ich zu 100 Prozent sicher, dass dieser Studentenjob mangels Alternativen irgendwann in eine Festanstellung bis zur Rente münden würde.

Flugkapitän wäre was gewesen. In schicker Uniform mit den Stewardessen flirten und zwischendurch ein paar ultracoole Ansagen machen – mit tiefer Stimme und langen sinnstiftenden Pausen zwischendurch: „The weather … in our landing-destination … Santiago de Chile … is fine.“ Sowas halt. Der Ehrlichkeit halber hätte ich dann hinzufügen müssen: „Meine Damen und Herren, erstens habe ich Angst vorm Fliegen, zweitens wird mir bei Turbulenzen garantiert schlecht.“ Ich bin nicht sicher, ob das gut bei den Passagieren angekommen wäre. Und auch bei den Stewardessen womöglich nicht.

Elektrotechnik, was einer der Kumpels aus meiner Clique studierte, ging auch nicht, weil der liebe Gott leider bei mir den Teil im Gehirn vergessen hatte, der sowas verstehen kann.

Aus schierem Mangel an eigenen Ideen entschied ich mich, genau das zu machen, was 70 Prozent meiner Freunde taten: Betriebswirtschaft oder Wirtschaftswissenschaft studieren. „Damit kannst du dir nachher die Firmen aussuchen und mit den Millionen jonglieren“, sagten sie. Ich fand, das klang gut.

Los ging’s mit einem Mathe-Brückenkurs, der dazu diente, das Schulniveau der Teilnehmer auf Uni-Niveau zu hieven. Und weil der Dozent die Disziplin gleich mittrainieren wollte, begann der dreiwöchige Kurs jeden Tag pünktlich um 8 Uhr. Mit Letzterem hatte ich keine Probleme, mit den Mathe-Inhalten auch nicht. Ich hatte also alles richtig gemacht. Ich war auf einem absolut guten Weg und würde schon sehr bald die Millionen hin- und herschieben.

Dann begann die zweite Woche …

Ich will gar nicht sagen, dass ich nichts mehr verstand, aber ablenkungstechnische Probleme bereitete mir eine sehr gut gebaute Brünette in der ersten Hörsaalreihe, die zudem ein zauberhaftes Lächeln hatte. Nun fragen Sie sich sicherlich, was es im Mathe-Brückenkurs zu lächeln gibt. Nun, das frage ich mich auch gerade in diesem Moment. Jedenfalls schwirrten immer gleich mehrere Kerle um sie herum, und ich wollte die Lage im Auge behalten, um im geeigneten Moment zuschlagen zu können. Dem immer verwirrender werdenden Tafelbild widmete ich deswegen möglicherweise – im Nachhinein betrachtet – etwas zu wenig Aufmerksamkeit.

Dann begann die dritte Woche …

Ich kapierte rein gar nichts mehr und hätte mir vorher nicht denken können, welche undurchdringlichen Welten die Mathematik bereithält. Die Brünette war inzwischen mit einem blondgelockten Schönling liiert, der zu allem Überfluss durch seine gezielten Fragen kundtat, dass er sehr wohl noch immer den Hauch einer Idee hatte, wovon der Professor sprach.

Das war durchaus frustrierend, aber so schnell lässt sich ein Adam Schneider – also ich – nicht einschüchtern. Es handelte sich ja nur um ein vollkommen überflüssiges Vorgeplänkel. Das eigentliche Studium hatte noch gar nicht begonnen. Ich belegte im ersten Semester – soweit ich es heute noch rekapitulieren kann – Finanzbuchhaltung, Volkswirtschaft und noch irgendwas anderes. Es muss um irgendwelche T-Konten gegangen sein, in die man Einnahmen und Ausgaben eintragen muss. Soll und Haben. Außerdem gab es die Mikroökonomie und die Makroökonomie. Bei dem einen ging’s ums Kleine und bei dem anderem ums große Ganze. Das sind so ziemlich sämtliche Inhalte, die ich heute aus diesem Studium noch referieren kann. Das wäre ein recht kurzes Referat, oder? Ich hätte ja vermutlich die Fachbücher verinnerlichen können, wenn nicht das Vorwort gewesen wäre. Es war immer derart langweilig geschrieben, dass ich schon das nicht zu Ende lesen konnte, ohne zwischendurch ein ausgiebiges Nickerchen zu machen. Ich bin noch heute sicher: Mein Wirtschaftswissenschafts-Studium wäre mit Glanz und Gloria verlaufen, wenn ich einfach die Vorworte in den Fachbüchern weggelassen hätte. Gleiches gilt für den Mathe-Brückenkurs ohne die kurvige Brünette.

Aber wie schon gesagt: Ein Adam Schneider lässt sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. Ich hielt ganze sieben Monate durch und schrieb in dieser Zeit sogar drei Klausuren mit. Allesamt endeten mit einer glatten 5. Danach zog ich schwer geknickt einen Schlussstrich, wanderte ins Studenten-Sekretariat, beendete mein Wirtschafts-Studium und schrieb mich für Germanistik ein. Die Einkaufswagen-Zusammenschieber-Karriere war festbetoniert. Aber immerhin: Dort gab es einen kleinen Traktor, mit dem die langen Wagen-Reihen zurück zu einem Sammelpunkt gefahren wurden. Vielleicht hätte ich ja in fünf oder zehn Jahren mal diesen Traktor fahren dürfen. Wenn das keine rosigen Zukunftsaussichten waren!

In meinem ersten Semester Germanistik hatte ich montags um 17 Uhr, wenn die Sonne über der Ruhr-Uni Bochum langsam stilgerecht in den umliegenden Feldern versank, eine Vorlesung mit dem Titel „Kunstmärchen der Romantik“, die ich geradezu liebte. Wie herrlich war es doch, sich nach der Makroökonomie auf solche Inhalte einlassen zu dürfen! Schön fand ich auch, was der Professor gleich zu Anfang sagte: „Bitte wählen Sie Ihr Studienfach nicht – oder zumindest nicht ausschließlich – aus vermeintlichen Vernunftsgründen, also weil Sie damit vielleicht später viel Geld verdienen könnten. Wählen Sie es nach Ihrem Interessensgebiet. Dann werden Sie auch gut darin sein und später ebenfalls eine schöne Anstellung finden.“

Genau!

Ich fühlte mich wie am endlich gefundenen Ausgang eines Irrgartens oder wie beim Auftauchen aus sehr kaltem, dunklem und tiefem Wasser.

Der Professor hatte übrigens recht. Ich musste nicht mein Leben lang Einkaufswagen einsammeln – auch wenn es natürlich schade ist, dass mich meine Kündigung zugunsten einer interessanteren und besser bezahlten Arbeit ums Trecker-Fahren brachte.

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