Von Anne Zeisig

„Bergleute haben einen ausgeprägten Stolz, mein Kind, und eine tiefe Verbundenheit zu ihrem Beruf. Auch wenn man längst Rente bezieht. Da steht die Kameradschaft an erster Stelle, denn wegen der Sicherheit unter Tage ist Teamarbeit unerlässlich. Das Vertrauen, sich auf die anderen verlassen zu können, falls es mal brenzlig wird, hat mich in all den Jahren ruhigen Gewissens auf Zeche einfahren lassen.“

 

Opa Wilhelm Kwiatlovski blickte seine Enkelin traurig an.

 

„Und nun bin ich der letzte vom Kumpel-Stammtisch, der noch lebt.“

 

Dann blickte er über seinen Schrebergarten. Die roten Kletterrosen waren inzwischen verblüht. Seine Frau hatte sie vor vierzig Jahren an die Südseite gepflanzt.

 

„Rosen brauchen Sonne, Wilhelm, genau hier gehören sie hin.“ So stand sie einst, die eine Hand auf den Spaten gestüzt, die andere fest an ihre Hüfte gestemmt. „Und der Löwenzahn muss weg! Nein! Sag mir nicht wieder, dass man ihn als Salat verzehren kann.“

 

Widerrede war zwecklos, wenn Gertrud etwas beschlossen hatte, dann musste das auch so geschehen.

 

„Erdbeerpflanzen benötigen auch Sonne“, hatte Wilhelm in seinen Bart gegrummelt. Er fand, dass es sinnvoller sei, wenn der Garten die Familie mit Essbarem versorgte. Frisches Gemüse, Obst und Wildkräuter.

Rosen! Welch ein Luxus!

 

Nun lag seine Gertrud seit drei Monaten unter der Erde.

Der Großvater zündete sich die Pfeife an, blies den Qualm kräftig heraus, so dass die Rosenbüsche diffus im Nebel versanken.

 

„Kind, wir hätten Omas Urne bei den Rosen bestatten sollen. Jetzt muss ich immer den beschwerlichen Weg zum Friedhof machen. Und wohlfühlen tu ich mich da auch nicht, inmitten von all den Toten.“

 

Die Enkelin erklärte ihm, dass das in Deutschland verboten sei. Da hätte man den Weg über das benachbarte Ausland machen müssen. Zudem gab sie zu bedenken, was denn mit Omas Urne nach Opas Ableben geschehen soll, wenn es für den Garten neue Besitzer gäbe.

Er solle sich nur mal vorstellen, sie gestalten den Garten um, ackern und buddeln, und stoßen dabei auf Omas Urne.

 

„Omas Totenruhe soll doch bestimmt nicht gestört werden.“ Sie tätschelte seine faltige Hand. Er entzog sie ihr.

 

„Du und Deine Eltern, ihr habt ja leider kein Interesse an dem Garten, obwohl er das Lebenswerk von Oma und mir ist. Hier gab es früher nur Brachland! Schotter, Schutt und schwarze Asche, so weit man sehen konnte.“

Er zeigte mit seinem Krückstock in die Ferne. „Bis zur Hecke und noch viel weiter. Den Weg gab es seinerzeit ja auch noch nicht, nur Lehm, und wenn es geregnet hatte, stand man mit den Gummistiefeln fast bis zu den Waden im Morast.“

 

Die Enkelin streichelte seine Wange. Der Opa blickte verlegen zu Boden. „Jetzt erzähl mir nicht, dass deine Urne hier im Garten beigesetzt werden soll.“ Sie lachte. „Wundern täte es mich nicht. Da müssten wir dich in Holland einäschern lassen, da darf man die Urne dann mitnehmen.“

 

Wilhelm schüttelte energisch den Kopf. „Das würde mir Gertrud nie verzeihen. Sie zwischen all den Toten und ich hier zu Füßen ihrer geliebten Rosen. Das wäre nicht gerecht.“

 

Mühsam, auf den Krückstock gestützt, stand er auf. „Außerdem. Das mit der Totenruhe, das stimmt. Sollen uns fremde Gartenbesitzer einmal ausgraben womöglich?“ Er hustete und legte die Pfeife beiseite.

Setzte sich wieder stöhnend auf die Gartenbank, rieb sich mit beiden Händen den schmerzenden Rücken. „Zudem karrt man einen Bergmann, der in diesem Lande sein Brot ‘vor Kohle’ verdient hat, nicht ins Ausland in ein Krematorium, weil es dort andere Gesetze gibt!“

 

Sie erschrak, weil er nun so laut geworden war.

 

Die Enkeltochter beschwichtigte ihn: „Weißt du was? Wir fahren morgen in die Gärtnerei und kaufen für Omas Grab einen kleinen Rosenstock.“

 

Wilhelm nahm seine Enkelin in den Arm. „Bist ein gutes Mädchen.“ Dann bat er sie in die Laube, weil er etwas Wichtiges zu besprechen hatte.

 

* * *

 

Die Nacht war kalt.

Hell und klar stand der Vollmond am Himmel. Unzählige Sterne glitzerten. Wilhelm Kwiatlovskis Enkelin Sandra machte eine kurze Pause, sog die erfrischende Luft tief ein und blickte zum Firmament. „Opa, ich habe es dir versprochen.“ Dann rieb sie sich die Hände.

 

„Du bist ja verrückt! Dass ich das überhaupt mitmache!“ Ihre Freundin lamentierte.

 

„Jetzt hör auf zu meckern“, zischte sie, „und halte die Grubenlampe still. Schließlich muss ich gucken, wo ich schaufeln muss.“  Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich bin ja gleich fertig. Soooo tief sah die Urnengrube bei der Beerdigung schließlich nicht aus.“

 

„Das ist Grabschändung, was wir hier machen. Mir schlottern die Knie! Und unheimlich ist es auch.“

 

„Halte endlich Opas Grubenlampe ruhig.“

 

Sandra bemühte sich um Konzentration, Spatenstich für Spatenstich. „Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen“, flüsterte sie, „unter Bergleuten gilt ein Ehrenwort noch was. Aber das verstehst du natürlich nicht.“

 

„Muss ich das?“ Die Freundin fuchtelte wieder mit der Lampe umher. „Es gibt überhaupt keine Kohlenzechen mehr. Schnee von Gestern.“

 

Sandra packte sie am Arm. „Stillhalten, sagte ich.“ Und grub weiter. 

 

Endlich sah sie das schwarze Keramikgefäß mit dem goldfarbenen Emblem aus Hammer und Schlägel. Symbole für harte Arbeit. Sie bückte sich, nahm die Urne vorsichtig heraus und verstaute sie in einem Leinenbeutel. Dann schloss sie die Grube mit der Erde und richtete die Oberfläche plan. Geriet dabei außer Atem. „Morgen stellt der Steinmetz die Gedenktafel auf und dann kommen die Gärtner. Niemand wird Verdacht schöpfen.“ 

 

Ihre Freundin hakte sich ängstlich bei ihr unter, als sie den Friedhof verließen und über den Parkplatz auf ihr Auto zusteuerten. Eilig stellte Sandra den Beutel mit der Urne in den Kofferraum.

 

„Ich kann nicht fahren“, jammerte die Freundin, „ich bin fix und fertig. Muss ich jetzt wirklich noch mit hoch zur Halde?“

 

Ein Blick von Sandra genügte.

 

„Ist ja gut. Ja, ich leuchte, wenn du ihn, äh, deinen Opa dort oben.“ Sie schüttelte den Kopf. „Auf was für Ideen alte Leute aber auch kommen.“

 

Als sie einige Zeit gefahren waren, hatte die Freundin eine Idee: „Und wenn du da oben die Asche deines Opas verstreust? So machen die das in den Filmen doch auch immer. Dann kannst du dir das Urne-Vergraben ersparen!“

 

“Mein Opa wollte, dass er MIT seiner ‘Hammer-Schlägel-Urne’ auf der Abraumhalde  bestattet wird.“

 

* * *

 

Im unteren Bereich der aufgeschütteten Halde waren bereits Terrassen mit Spazierwegen angelegt, Mutterboden war aufgeschüttet, und es waren junge Bäume und Buschwerk angepflanzt worden. Aber je höher sie stiegen, umso unwegsamer wurde das Gelände. Schotter wechselte sich ab mit schwarzer Asche und grobem Gestein.

 

Der Dampf ihres Atems flog ihnen voraus.

Einmal knickte Sandra um und der Leinenbeutel fiel unsanft auf den Schotter, aber das Gefäß war heil geblieben.

 

„Ich ramponiere mir hier meine teuren ADIDAS-Schuhe“, jaulte die Freundin.

 

„Was hast du denn gedacht? Dass hier schöne runde glatte Eierkohlen für uns gelagert werden? Was hier liegt, ist Abraum aus Kokereien und Hochöfen. Unverkäuflich. In ein paar Jahren wird hier alles wunderbar bewachsen sein! Ein Eldorado für Spaziergänger! Mit einer tollen Gipfelaussicht über unsere grüne Heimat!“

 

Schweigend stiegen sie die letzte Etappe empor. 

 

Oben angekommen, entschlossen sich die jungen Frauen dann doch, einen Teil der Asche auf dem Gipfel zu verstreuen.

Sie sangen leise das Steigerlied: „Glück Auf, Glück Auf, der Steiger kommt … “ Und vergruben die Urne. Der sperrige, harte Untergrund machte das nicht leicht, also löste die Freundin Sandra am Spaten ab.

 

„Danke“, flüsterte die Enkelin gerührt. „Alleine hätte ich das nicht geschafft.“ Sie legte die Grubenlampe in den Beutel. „Sie bekommt einen Ehrenplatz in meinem Zimmer und in meinem Leben.“ 

 

Ihr Freundin wippte wieder nervös von einem Bein auf das andere, rutschte aus und fiel. Sandra wollte ihr hochhelfen, blieb jedoch gebannt stehen, starrte auf den schwarzen Boden, der im Mondlicht bläulich schimmerte und zartlila. 

 

Sandra zeigte hinunter. „Auf diesem Geröll blüht tatsächlich ein Löwenzahn.“

 

Ihre Freundin rappelte sich hoch und schüttelte verständnislos den Kopf. „Unkraut wächst überall.“ 

 

* * *

 

Fünf Jahre später setzt sich Sandra nach getaner Gartenarbeit mit einer Tasse Kaffee an den Tisch auf der Veranda des Schrebergartens. Wohlwollend fällt ihr Blick auf die roten Rosen, welche nun in voller Blüte stehen. Längst des Gartenzaunes gedeiht der Löwenzahn.

Sie blättert die Zeitung um: 

 

RUHR-NEWS:

 

Verloren auf Asche?

 

Beim Bepflanzen des Gipfelareals auf der Glückauf-Halde machten gestern die Arbeiter einer Gartenbaufirma einen sonderbaren Fund, als sie Pflanzgruben ausbaggerten.

Sie fanden ein schwarzes Urnengefäß, welches mit einem goldfarbenen Emblem aus Hammer und Schlägel verziert ist.

Die Kripo bittet um sachdienliche Hinweise. Wer kann Angaben über das Gefäß machen, dessen Herkunft und … 

 

***

Anmerkung: VOR Kohle = ein bergmännischer Begriff

 

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