Von Julia Kalchhauser

Mia sitzt im Schatten des Baumes, am Ufer des kleinen grünen Sees. Neben sich der schwere Rucksack, mit dem sie nicht ganz zwei Jahre zuvor in dieses Land gekommen war. Wie ein vorheriges Leben kommt es ihr nun vor, so weit entfernt. Wie nervös sie damals war. Ohne das Land, die Sprache oder Leute zu kennen, ist sie eingereist. Bloß der dritte von geplanten neun Stops hätte dieses Land auf der Route ihrer zwölfmonatigen Reise sein sollen. Ein bisschen Sprachkurs, ein bisschen soziales Engagement, ein bisschen vom Land sehen. Das waren die Ziele. Und doch kam alles anders. Ganz anders.

 

Sie beobachtet einen Wasserläufer, wie er flink über die Oberfläche gleitet. Zu schnell, um mit den Augen wahrzunehmen, bewegen sich seine fragilen Beinchen. Kurz ist sie neidisch auf dessen Unbeschwertheit.
Weit und breit kein Zeichen menschlicher Existenz. Keine Bauwerke, keine Geräusche, kein Lärm, keine Zerstörung. Nur die Natur. Die Natur und sie. 

 

Geliebter Arthur,

diese Zeilen zu schreiben schmerzt mich physisch und doch hoffe ich, dass du, wenn sie langsam ausklingen, verstehen und verzeihen kannst. Ich muss dies schriftlich tun, da ich persönlich, Dir gegenüberstehend, dazu nicht in der Lage wäre. Zu schwach meine Selbstdisziplin, zu stark mein Wunsch dich nie verletzt oder leidend sehen zu müssen. Zu menschlich meine Sehnsucht nach Nähe, nach deiner Nähe. Zu selbstsüchtig mein Verlangen nach dir, nach unserer gemeinsamen Zukunft, nach dem Gefühl, das du mir gibst. 

 

Ich weiß, dass du diese Verbindung genauso sehr willst wie ich. Ich weiß, dass du alles erdenklich mögliche tun würdest um mich glücklich zu machen. Und seitdem wir uns begegnet sind, hast du dies auch jeden einzelnen Tag versucht, wofür ich Dir unendlich dankbar bin. 

 

Sie blickt auf die glatte Wasseroberfläche, die jetzt durch schwache Windstöße zerrissen wird. Kreisförmige Wellen werden auf ihren Weg geschickt, breiten sich aus, wie Duftschwaden eines abkühlenden Kuchens. Die Brise bringt das Blattwerk ringsum zum Rauschen, vereinzelt vernimmt Mia den Ruf eines Vogels, spürt die Härchen auf ihren Unterarmen im Wind tanzen, riecht das Wasser und die noch leicht feuchte Erde, auf der sie sitzt. 

 

 

Dennoch. 

Ich könnte es mir niemals verzeihen, dich aus dieser wunderschönen Umgebung, die du kennst wie jede Sommersprosse auf meiner Nase, wegzureissen. Ich sehe den Ausdruck in deinem Gesicht, wenn du die mächtigen Gipfel siehst, die in den frühen Morgenstunden blass rosa leuchten. Die brennen zu scheinen wie das Funkeln in deinen Augen, wenn du weißt, ein Tag an der Luft, in den grünen Hängen und klaren Wäldern liegt vor dir. Ich kenne die Kleinigkeiten, die dich strahlen lassen. Die Momente, in denen du deinen Sohn beim Erkunden seiner eigenen kleinen Welt beobachtest, so sehr zufrieden und versunken, dass du nichts um euch herum wahrzunehmen scheinst. 

Ich sehe dich. Du gehörst in seine Nähe. Du gehörst hierher.

 

Vielleicht war es die schwerste Entscheidung, die sie in ihrem Leben treffen musste. Eine Entscheidung aus Liebe, wie sie weiß. Eine Entscheidung gegen die Liebe, wie es von außen wirken möge. Doch die wahre Erkenntnis der Liebe, oder zumindest der für sie unumstößlichen Wahrheit, machte es ihr unmöglich, die Entscheidung nicht zu treffen.

 

Wiederholt hast du versucht mich Gegenteiliges glauben zu machen, mir zu versichern, dass du dich für mich gerne von hier weg bewegst. Dich in die Stadt begibst. In die Umarmung einer dir beinahe gänzlich fremden Kultur; einer Welt voller Menschen, Moderne und Hektik. Dennoch weiß ich, dass dies nicht deine Welt ist und vermutlich auch niemals werden würde. Ich könnte es mir selbst nicht verzeihen, dieses Funkeln in deinen Augen langsam aber sicher erlöschen zu sehen. Ein Spiegel, der mit der Zeit matt und blind wird, sodass man sich selbst nicht mehr darin erkennt. Zu beobachten, wie du mit den Dingen zurechtkommst, weil du musst. Oder weil du denkst zu müssen. Hassen würde ich mich selbst früher oder später dafür. 

 

Eine Koralle wird nie so farbenfroh leuchten, nie so schön und prächtig strahlen, wie an dem Riff, auf das sie gehört, an dem sie wächst und gedeiht. Klar, man kann sie abbrechen, dem Ozean entreißen und versuchen sich ihre Schönheit eigen zu machen, sich selbst zu schmücken, sie um den Hals tragen. Und ganz gleich, wie schön sie jemandem erscheinen mag, der sie nur als Schmuckstück kennt; derjenige, der um ihre einzigartige Pracht unter Wasser weiß, wird sie für immer dorthin zurück wünschen.

 

Mia erinnert sich an ihre erste Begegnung mit Arthur. Als sie nach Luft japsend die Treppe in dem kleinen Bergdorf hochstieg, in jeder Hand ein schwerer Kanister mit Trinkwasser, so sehr konzentriert das Bisschen Sauerstoff in ihre Lungen zu pumpen und auf die steten Schritte um weiterzukommen, dass sie den Mann, der neben der Treppe in einem kleinen Garten stand, gar nicht bemerkt hatte.
„Te ayudo?“ Wie aus dem Nichts stand er plötzlich neben ihr und war schon dabei ihr einen Kanister aus der Hand zu nehmen. Mias Spanisch war zu dem Zeitpunkt nach wie vor rudimentär, aber dass ihr hier Hilfe angeboten wurde, soviel verstand sie dann doch. Als deren Blicke sich trafen, war Mia als hätte sie der Blitz getroffen. Kein Wort brachte sie heraus, die Luft blieb schlicht weg.

 

Ich zweifle nicht an deiner Liebe. Ganz im Gegenteil. Noch nie habe ich mich so verstanden gefühlt. Noch nie so geborgen, meine Anwesenheit so geschätzt wie von dir. Deine Gabe mich in einem Raum mit hundert anderen Personen dennoch wie der einzige Mensch auf diesem Planeten fühlen zu lassen, allein mit der Art, wie du mich ansiehst. Wie du mir zuhörst. Die Gewissheit, dass ein Tag so schlecht überhaupt nie sein könne, solange ich ihn an deiner Seite beenden würde, deine Haut an meiner spüre. 

Durch dich habe ich erfahren wie es sich anfühlt, wenn man etwas bewundernswert findet, das man zuvor noch als Schwäche bemängelt hätte. Du hast mich gelehrt zu lieben und zu akzeptieren, mich selbst miteingeschlossen. So wie ich bin und damit andere, so wie sie sind. 

 

Albert Einstein, die Zunge herausstreckend,prangte von ihrem Shirt, das so ausgeleiert und verwaschen war, dass sie es nur noch als Schlafshirt verwendete. Als Arthur sie damals, beim Morgenkaffee fragte, wer wohl der verrückte Alte auf ihrem Shirt war, lachte sie ihn erstmal aus. Sie konnte nicht glauben, dass ein Mann seines Alters und seiner Intelligenz noch nie von Einstein gehört hatte. Arthur war offen und interessiert, bat sie ihm von diesem Mann zu erzählen. Sie erkannte ihren Hochmut, und schämte sich dafür. Arthur wusste über jedes Kraut gegen alle erdenklichen Beschwerden, wusste, wie man Lebensmittel ohne Chemie oder ausgereifter Technik haltbar machte, konnte jedes Werkzeug, dass er auf den steilen Hängen brauchte, selbst bauen. Er erklärte ihr Sternbilder, erzählte oft darüber, dass bereits die Inka erdbebensicher gebaut hatten, über heilige Tiere und die Verbundenheit zur Erde. Nicht nur einmal geschah es, dass Mia sich als ungebildet und ignorant fühlte, neben ihm, doch niemals hätte er ihr Unwissen herablassend kommentiert oder sie gar ausgelacht.
In einem Dorf auf 4200m Seehöhe, mit 200 Einwohnern, einer kleinen Kirche, in der tagsüber der Schulunterricht stattfand, wusste vermutlich niemand wer Einstein war. Und es war auch vollkommen irrelevant.

 

Die letzten 20 Monate hier mit dir waren die schönsten, die ich bisher erleben durfte, und gleichzeitig gehörten sie auch zu den anstrengendsten. Wer vermutet denn schon ein Lungenemphysem aus heiterem Himmel bei sich selbst? „Um zu wissen, was einem guttut muss man‘s ausprobieren“, hat meine Oma immer schon gesagt. Ich weiß, wie gut du mir tust, genauso wie ich weiß, dass die Höhenluft mich mein Leben kosten könnte, würde ich bleiben. Genauso wie du mir beim ersten Augenkontakt den Atem geraubt hast, so hat die Luft deiner Heimat mich oft mit Atemnot zu Boden sinken lassen. Ersteres würde ich gern an allen weiteren Tagen wieder erleben, letzteres würde dies aber nicht zulassen.

 

Noch nie war mir jemand so wichtig wie du es bist. Und genau aus diesem Grund muss ich gehen. 

Alleine. 

Und dich der Person, mit der du für immer verbunden bleiben wirst, nicht wegnehmen. Deinen Sohn nicht ohne Vater aufwachsen lassen. Dich deiner Heimat, deiner Kultur, deinen Bergen, dem Hochland nicht entreißen. Dich in eine Welt zu zwingen, die nichts von dem innehat, was du so sehr liebst. Das möchte ich nicht. Das kann ich nicht.

 

Manchmal reicht Liebe wohl schlicht nicht aus.

 

Ich erwarte nicht, dass du meine Entscheidung verstehst oder gar meine Meinung teilst. Ich erwarte lediglich, dass du du selbst bleibst mit allem, was ich so sehr an dir liebe.

Mia

 

Den Blick nach wie vor auf‘s Wasser gerichtet, wischt sie sich eine Träne von der Wange. Gedankenverloren fasst sie immer wieder an die Stelle an ihrem Finger, an der sie bis vor wenigen Stunden noch einen Ring getragen hatte. Einen Ring, der soviel mehr sein sollte, als ein Schmuckstück. Ein Versprechen. Ein Zeichen der Zugehörigkeit. Das sichtbar gewordene Band, das die unsichtbare Verbindung zweier Menschen symbolträchtig zur Schau stellt. Ein Band, das unmissverständliche Signale an die Aussenwelt sendet und dennoch bei so vielen seiner Träger mehr Schein als Sein ist.

 

Nach einem Blick auf die Armbanduhr an ihrem Handgelenk, rafft Mia sich auf, und geht die drei Schritte zu dem Rucksack, der an dem Baumstamm lehnt. Sie schultert das schwere Stück, und dreht sich noch einmal um. 

 

Den Blick auf das Wasser gerichtet, schließt sie nun die Augen und füllt ihre schmerzenden Lungen bis in die verzweigtesten Verästelungen mit der aromatischen Bergluft. Tief in ihrer Brust fühlt sie eine Wärme, die sich auszubreiten beginnt, wie dickflüssige Lava, die gemächlich den Hang hinabrollt. Mit einem wehmütigen letzten Blick verabschiedet sie sich voller Dankbarkeit von diesem Abschnitt ihres Lebens, bevor sie sich mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen auf ihren Weg macht.
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