Von Marie Masse

„So, Schluss für heute!“ Kati legt ihren Stift weg, neben zwei Stapel Arbeitsblätter. Die schon korrigierten wird sie in ihrem Fach dalassen, die anderen steckt sie in ihre Tasche ein.

Sie dreht sich zu ihrer Kollegin und Freundin Anja, die etwas weiter im Lehrerzimmer auch fleißig arbeitet. „Kommst du mit? Wir holen die Kinder ab und gehen zusammen in den Park, solange das Wetter noch hält.“ Es ist ja praktisch, dass Anjas Tochter und Katis Sohn dieselbe Tagesmutter haben.

„Nein, ich will heute alle Aufsätze benoten. Frau Kiesel weiß Bescheid, dass ich Kiara erst spät abhole.“

„O, schade! Kannst du nicht morgen weitermachen? Du hast das ganze Wochenende vor dir und findest irgendwann Zeit dafür.“

„Samstag muss ich an meiner Doktorarbeit weiterarbeiten, und Sonntag meine Bewerbung für diese freie Stelle an der Uni auch noch schreiben. Nee, es geht nicht, ich will jetzt die Korrektur fertighaben.“

Kati schüttelt den Kopf. „Ich werde nie verstehen, warum du dir das antust.“

Anja zuckt mit den Schultern, als ob sie resignierend ihr Schicksal hinnähme: „Du weißt, ich will Karriere machen.“ 

„Nur weil du denkst, du musst Matthias imponieren. Aber er liebt dich und ihr seid auch so eine tolle Familie.“ Aber Kati will nicht hier alles erörtern. Es ist weder die richtige Zeit noch der richtige Platz. Die beiden Freundinnen haben sich wiederholt lange darüber unterhalten, über Anjas Zwiespalt zwischen ihrem Ehrgeiz, eine höhere Position zu erlangen, und ihrem Wunsch, mehr Zeit mit ihrem Kind zu verbringen, in dem Bewusstsein, dass diese Zeit zu schnell vorbei sein wird und nie zurückkehren kann. Auch über die Gründe Anjas, die sich ihrem Freund, einem erfolgreichen Chirurgen, oft unterlegen fühlt. Mit dem Verstand weiß Anja zwar um den Wert ihres Berufs, den sie liebt, mit dem Gefühl Matthias gegenüber ist es da schwieriger. Kati beneidet ihre Freundin um ihren Konflikt nicht. Und wenn sie bedenkt, dass ursprünglich Anja diejenige war, die die meisten Zweifel gehabt hatte, als sich die beiden Freundinnen entschieden, früh nach Ende des Mutterschaftsurlaubs an die Schule zurückzukommen! 

Kati kennt auch Anjas Liebe für die Natur und deren Bedürfnis nach Bewegung: „Komm, danach ärgerst du dich, weil du Kiara irgendein Naturphänomen nicht gezeigt hast.“ Bis vor ein paar Monaten sind sie oft zusammen mit den Kindern in den Wald gegangen und haben sich stundenlang mit Pflanzen, Tierchen oder anderen Elementen beschäftigt. Die Kinder haben Spaß gehabt und viel gelernt – und die Mütter auch! 

„Dann schick mir doch kein Foto und ich weiß nichts davon.“

„Ja ja, Kopf in den Sand“, kann Kati nicht umhin zu sagen. Die Freundschaft der beiden ist tief genug, um nicht an solchen Bemerkungen zu zerbrechen. Dennoch will sie sich nicht mit diesen harten Worten verabschieden und fügt nach einem kurzen Blick zum Fenster schmunzelnd hinzu: „Das Foto eines Sonnenuntergangs wie letztes Mal wird es heute auf keinen Fall werden!“

Anja hört sie aber nicht mehr, sie konzentriert sich auf ihre Arbeit. 

 

*

Sobald Frau Kiesel die Tür aufmacht, wirft sich Tim in die Arme seiner Mutter. „Mama! Park?“

„Ja, wie versprochen. Du ziehst bitte deine Regenjacke an, es regnet vielleicht bald.“

Kiara kommt auch zu Kati und sucht hinter ihr ab. „Mama? Auch Park?“

Das Mädchen tut der jungen Mutter leid, die nichts dafürkann und etwas Groll gegen Anja spürt. Obwohl Anja ihr auch leidtut, wie diese zurzeit mit ihrem Gewissen kämpft. Was auch bei Kati ein schlechtes Gewissen auslöst. Denn sie hat mehrmals Kiara zu Ausflügen mitgenommen, es ist aber auf die Dauer keine Lösung. Sie selbst ist noch jung genug, um sich zu erinnern, wie schön es war, auch mal unvergessliche Momente mit den Eltern zu teilen, und nicht nur mit Freunden der Familie. Und auf Matthias mit seinem Beruf zu zählen ist schwierig, obwohl Kati anerkennen muss, dass er sich Mühe gibt.

 

Im Park ist nicht mehr viel los. Die grauen Wolken haben die meisten schon nach Hause getrieben. Nur noch hartnäckige Eltern, denen es egal ist, ob die Kinder plötzlich unter einem Regenguss stehen, sind da. Warm ist es genug, dass auch Kleinere etwas Nässe vertragen können.  

Nachdem sich Tim mit Katis Unterstützung auf dem Klettergerüst ausgetobt hat – für einen kaum Zweijährigen ist es nicht ohne -, buddelt er eifrig im Sandkasten. Es macht Kati Spaß, ihn anzuschauen, und sie schießt ein paar Fotos. Das Kind lacht mit einer ansteckenden Freude … umso mehr als die ersten Regentropfen auf seiner Nase landen. Da der Regen bald stärker wird, gehen Mutter und Sohn zum Unterstand. Zeit nach Hause zu rennen haben sie nicht mehr, wenn sie keine Dusche abkriegen wollen. Aber Kati macht es nichts aus, das Ende des Schauers abzuwarten, ihr Kind beobachtet mit glänzenden Augen das Schauspiel. 

 

*

Als Anja den Blick von ihrer Arbeit hebt, merkt sie, dass sie die Letzte im Lehrerzimmer ist. Ein kurzer Blick zur Uhr sagt ihr, dass sie jetzt spurten muss. Der Abend wird hektisch werden, damit Kiara nicht zu spät ins Bett kommt. Hoffentlich wird sie für eine Vorlesensgeschichte nicht zu müde sein. Anja spürt – wie oft – Reue. Es hätte ihrem Kind doch so gut gefallen, auch in den Park zu gehen. Und sie selbst hätte eine Zeit im Freien gebraucht. Bewegung und Luft hätten ihr wohlgetan. Über lustige Gesichtsausdrücke oder unbeholfene Sprachversuche der Kinder zu schmunzeln auch. 

Die Lehrerin rafft ihre Sachen zusammen und eilt hinaus.

 

*

Anja lässt sich aufs Sofa fallen. Kiara ist endlich eingeschlafen. Heute Abend war sie besonders mürrisch, konnte beim Essen nicht sitzen bleiben. Ihr hat nichts geschmeckt, sie hat nur die Nähe ihrer Mutter gesucht. Erst beim Kuscheln auf ihrem Bett ist sie ruhiger geworden. 

Matthias werkelt noch in der Küche. Er bereitet den abendlichen Cappuccino zu, ihn gemeinsam zu trinken und dabei vom Tag zu erzählen gehört zur Tradition, wenn es sich einrichten lässt.  

Anja nimmt ihr Handy in die Hand und ruft ihre Mails ab. Kati hat ihr geschrieben. Ein paar Fotos sind selbstverständlich hinzugefügt. Die ersten zeigen einen vergnügten Tim, das war ja zu erwarten. 

Dann kommt ein Landschaftsbild. Diesmal kein Sonnenuntergang, aber auch eine wunderschöne Aufnahme.

Seltsamerweise ist es nicht wie sonst das letzte Foto, eine Anlage kommt noch. Gespannt macht Anja sie auf.

 

Die Arbeit läuft dir nicht davon, wenn du deinem Kind einen Regenbogen zeigst. Aber der Regenbogen wartet nicht, bis du mit der Arbeit fertig bist.

                                                                  Chinesisches Sprichwort

 

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