Von Eva Fischer

Das Gesicht, das unter der Bettdecke hervorlugt, ist schmal geworden. Die Augen haben sich zu Schlitzen verkleinert, aber das gütige Lächeln ist geblieben.

„Schau nicht so traurig, meine liebe Teresa! Ich bin alt. Da ist es ganz natürlich, dass man sich verabschieden muss. Ich hätte mir eher eine Tochter wie dich gewünscht. Charlotte ist hartherzig und egoistisch. Ich habe sie nicht so erzogen. Weiß der Himmel, von wem sie das hat!“

Teresa sieht, wie sich die Stirn ihrer Arbeitgeberin kräuselt. Sind es Sorgenfalten oder Zornesfalten? Sie fürchtet, dass die alte Dame gleich in Tränen ausbrechen könnte. Erschrocken nimmt Teresa ihre Hand und drückt einen Kuss darauf. Der Blick beider Frauen verschleiert sich. Der Kampf gegen die Tränen ist noch nicht gewonnen.

Die alte Dame räuspert sich. Sie hat Teresa noch etwas Wichtiges zu sagen. Ein Leben lang hat sie Stärke bewiesen. Die will sie sich bis zum Schluss nicht nehmen lassen. Nur über ihre Leiche!

„Teresa, hör zu! Unter meiner Tochter wirst du keine Anstellung mehr finden, aber du bist noch jung und du kannst überall eine Arbeit bekommen. Ich habe dir ein gutes „Zeugnis“ ausgestellt.“

Über das Gesicht der alten Dame huscht ein schalkhaftes Lächeln.

„Du findest es in meinem Büro in …“

Mitten im Satz hat sie der Tod geholt und bewiesen, dass er der Stärkere ist und stets das letzte Wort hat.

Teresas Schleusen öffnen sich. Hemmungslos überlässt sich Teresa ihrem Gefühl der Trauer. Immer wieder küsst sie die kalten Hände, aber es gelingt ihr nicht, sie ins Leben zurückzuholen. Schließlich spricht sie alle Gebete in ihrer Muttersprache und wünscht der Seele eine gute Reise zu einem gütigen Gott. Teresa ist überzeugt, dass er existiert, denn für sie trug ihre Arbeitgeberin zeitlebens einen Heiligenschein.

 

Vor zwanzig Jahren kam sie mit ihrem Mann Filipe aus Portugal nach Deutschland. Sie war neunzehn, er dreißig. Beide hofften auf eine bessere Zukunft. Filipe erhielt einen Job als Lastkraftwagenfahrer. Teresa war allein zu Hause und nutzte die Zeit, um die Sprache ihrer neuen Heimat zu lernen. Obwohl Filipe ganz gut verdiente, brachte er nie Geld nach Hause, so dass sich Teresa um eine Stelle als Aushilfskraft im Supermarkt bewarb. Auch dieses Geld verlangte Filipe von ihr. Es kam zum Streit. Selbst vor Schlägen schreckte ihr Mann nicht zurück. Später erfuhr sie, dass er das Geld bei dubiosen Wetten verzockte.

Eines Tages, als sie gerade Obstkonserven einräumte, sprach sie eine ältere Dame an. Sie suche eine Haushälterin. Das wäre ein Vollzeitjob, aber gut bezahlt. Vielleicht könne sie zum Tee zu ihr kommen und sich das Ganze mal ansehen. Filipe befand sich gerade auf einer Tour nach Osteuropa. Die Gelegenheit war günstig. Teresa ließ sich den Weg erklären und klingelte am nächsten Tag an der schönen Villa, die ihr wie ein Königspalast vorkam. Die ältere Dame erklärte ihr die Aufgaben: Putzen, waschen, bügeln, einkaufen, kochen. Sie zeigte ihr auch ein hübsches, gemütliches Gästezimmer, in dem sie bleiben konnte. Teresa überlegte nicht lange. Sie nahm ihre wenigen Habseligkeiten aus ihrer Wohnung, kündigte ihre Arbeit im Supermarkt und zog bei der freundlichen Dame ein. Jeden Tag fürchtete sie, ihr Mann käme, um sie nach Hause zu prügeln. Zum Einkaufen fuhr sie in einen weiter entfernten Supermarkt, doch tatsächlich traf sie Filipe nie wieder. Vermutlich vermisste er sie nicht einmal.

Dennoch plagten sie nachts Gewissensbisse. Eine Frau durfte ihren Mann nicht verlassen. Zwar war er kein guter Mann. Er hatte ihr alles Geld weggenommen und sie geschlagen. Aber rechtfertigte das ihr Weggehen?  Die alte Dame fand, dass ja. Eines Tages hatte Teresa   unter Tränen ihr Schicksal erzählt.

„Teresa, du bist eine Perle! Zuverlässig, gründlich, herzlich und schlau. Wenn ein Mann das nicht zu schätzen weiß, so ist er selber Schuld.“

 

Nachdem Teresa die Fassung über den Tod ihrer geliebten Arbeitgeberin wiedergewonnen hat, überlegt sie, was als nächstes zu tun ist. Sie muss den Arzt anrufen, damit er den Totenschein ausstellen kann, und sie muss Charlotte mitteilen, dass ihre Mutter gestorben ist. Mit Unbehagen denkt sie an die hochnäsige Frau, die sie keines Blickes würdigt. Sie wird Teresa sofort sagen, dass sie ihre Sachen packen soll. Das hat noch Zeit, findet Teresa. Sie holt den silbernen Leuchter aus dem Wohnzimmer, stellt ihn auf den Nachttisch und zündet die weißen Kerzen an. Ein Kreuz kann sie im Haushalt der alten Dame nicht finden. Teresa befühlt das Kreuz an ihrer Halskette, das sie einst von ihrer Taufpatin zur Kommunion bekommen hat. Kurzerhand nimmt sie es ab und legt es der Toten sanft auf die Brust. Dann geht sie ins Büro, um nach dem versprochenen Zeugnis zu suchen. Wo soll sie anfangen? Sie zieht die Schubladen des Schreibtisches auf. Nichts. Sie nimmt einige Bücher in die Hand und schüttelt sie. Wieder nichts. Sie schaut auf die Aktenordner, die stramm wie die Zinnsoldaten im Regal stehen. Bisher war es ihr nur wichtig, dass sie staubfrei waren. Schnüffeln war noch nie ihre Art und so zieht sie eher lustlos Aktenorder für Aktenorder hervor und schüttelt sie wie weiland Frau Holle ihre Kissen. Tatsächlich schwebt ein weißes Blatt zu Boden.

Mein letzter Wille

Ich, Margarete Kaiser, verfüge im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, dass meine Tochter Charlotte nur den ihr zustehenden Pflichtanteil erben soll. Mein restliches Vermögen geht an Teresa Sousa, die mir in den letzten Jahren eine treue und zuverlässige Hilfe war.

Das Testament trägt das Datum vom Vortag. Teresas Hände zittern. Sie kann nicht fassen, was sie da gerade liest und bekreuzigt sich. Ist dies das Zeugnis, von dem die alte Dame sprach?? Was soll sie mit dem Dokument machen? Es zurücklegen? Vielleicht findet es dann keiner. Es offen auf den Schreibtisch legen? Was, wenn Charlotte das Dokument zuerst sieht? Würde sie es nicht einfach vernichten? Teresa könnte mit dem Handy ein Foto davon machen. Sie überlegt. Nein, es ist besser, sie steckt das Dokument ein und übergibt es einem Menschen ihres Vertrauens. Aber wer sollte das sein, nachdem die alte Dame gestorben ist?

 

Vier Wochen später

Teresa hat noch nie eine Ladung vom Notar bekommen und ist entsprechend nervös. Das Testament hat sie dem Arzt gegeben, der den Totenschein ausstellte und der es seinerseits Charlotte aushändigte.

Nun sitzt ihr Charlotte im eleganten Hosenanzug gegenüber und betrachtet sie feindselig.

„Meine arme Mutter war Opfer dieser Frau!“, legt sie gleich los, sobald ihr der Notar das Wort erteilt hat. „Mit Opiaten hat dieses Biest sie sich gefügig gemacht und sie gezwungen, das Testament zu ändern.“

„Ich hatte keine Ahnung, dass Ihre Mutter Opiate gegen die Schmerzen nimmt. Ich dachte, es sind ganz normale Tabletten. Von dem Testament wusste ich nichts bis zum Tag ihres Todes. “

Teresa kaut an ihren Fingernägeln. Sie hadert mit sich selbst. Warum hat sie sich überhaupt in eine solche Lage gebracht? Wäre es nicht besser gewesen, das Testament in den Aktenordner zurückzulegen? Hat sie denn wirklich Anspruch auf so viel Geld? Nein, das hat sie nicht verdient. Sie hat doch nur ihre Arbeit für guten Lohn gemacht.

„Herr Notar, das sind doch alles Lügen. Hinter einer naiven Fassade versteckt sich eine gemeine Erbschleicherin. Ich bin sicher, meine Mutter hat bereits in einem anderen Testament mich als alleinige Erbin eingesetzt. Ich bin schließlich ihre einzige Tochter und habe mich zeitlebens um sie gekümmert.“

Einmal im Jahr kamst du nach dem Weihnachtsfest, um dir ein Geschenk abzuholen, denkt Teresa bitter.

„Beruhigen Sie sich doch, Frau Kaiser“, mahnt der Notar freundlich, setzt sich die Lesebrille auf und blättert in der Akte vor sich. Charlotte fixiert ihn, als wolle sie ihn hypnotisieren.

„Tja, die Sache ist die, es existiert bereits ein Testament, das ihre Mutter vor acht Jahren gemacht hat.“

„Und?“ Über Charlottes Gesicht huscht ein breites Siegerlächeln.

„Da hat sie schon das Gleiche verfügt.“

„Das kann nicht sein!“, kreischt Charlotte.

„Wenn Sie sich selbst davon überzeugen möchten…“

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