Von Martina Zimmermann

Anni wurde blass. 

„Das kann doch nicht sein.“ Die Farbe verschwand aus jeder Pore ihres Gesichtes. Aschfahl, so saß sie auf dem alten ausgedienten Sofa, unfähig sich nur ein wenig zu bewegen. Starr vor Schreck, über das, was sie gerade gelesen hatte…

 

Ihre Mutter war vor Wochen gestorben. Christel, eine attraktive und lebenslustige Frau in den Siebzigern. Niemand konnte damit rechen. Umso schlimmer traf es ihre einzige Tochter, Anni. Christel war einfach tot umgefallen. So, von jetzt auf gleich.

 

Der unerwartete Tod der Mutter hatte sie förmlich aus den Angeln gerissen. Sie war nicht mehr dieselbe. Seit diesem Tag schlief sie keine Nacht mehr durch. Geplagt von Albträumen, aus denen Anni jede Nacht schweißgebadet aufwachte. Immer derselbe Traum. Sie sah ihre Mutter, sie wirkte verzweifelt. Sie versuchte sich mitzuteilen, ihr zu erklären, doch dann wachte Anni auf. 

„Was wollte sie mir sagen?“, fragte sich Anni, die abermals aus einem schlimmen Albtraum aufgewacht war. Nach Luft ringend, riss sie sich ihr nasses Nachthemd vom Körper. 

„Was stimmt hier nicht?“, fragte sie sich. 

Anni konnte es nicht erklären.  Aber was war es? Ein Gefühl, das die Angst in ihr hoch steigen ließ und sich in ihrer Kehle festsetzte, so als würde es ihr den Hals zuschnüren. 

 

„Ich muss etwas unternehmen und mich endlich mit Mutters Nachlass beschäftigen. Zu lange habe ich es verdrängt. Vielleicht bekomme ich dann Ruhe?“ Anni schaute in Peters Augen. Sie versuchte eine Reaktion einzufangen. Was dachte er über sie? Über ihre Träume? 

„Hältst du mich für durchgedreht?“, fragte sie. 

Peter schüttelte den Kopf. 

„Ich glaube, du musst den Tod deiner Mutter verarbeiten. Es ist doch völlig normal, dass du leidest“, erklärte Peter. 

„Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, dich in die Höhle des Löwen zu trauen.“

„Du meinst in Mutters Wohnung?“, fragte Anni. 

 Peter nickte zustimmend. „Setze dich mit ihren Sachen auseinander. Du musst alles auflösen und vielleicht tut es dir gut und du kannst besser abschließen.“

„Du hast Recht, zu lange habe ich diese Sache vor mir hergeschoben.“

Als Anni die Wohnung betrat, wurde sie übermannt, ihre Gefühle stiegen in ihr hoch wie ein Schwall der sie erbrechen ließ. Schweißgebadet setzte sie sich an den kleinen, ihr so vertrauten Tisch  um einen Moment durchzuatmen. Ihr Blick fiel auf diesen Ordner. Er lag genau in Augenhöhe, gegenüber auf der Kommode.

 

„Ich kann es nicht fassen.“ Anni starrte immer noch auf dieses Blatt, welches sich in dem Aktenordner befand. Die Buchstaben verschwammen immer wieder vor ihren Augen. Sie tanzten durcheinander und ordneten sich dann wieder in Reihen. Anni rieb ihre Augen und starrte dann nochmals auf das Papier, in der Hoffnung, es hätte sich in der Zwischenzeit verändert.

Nein, es stand immer noch der gleiche Text dort auf dem Blatt, unter dem Foto.

 

Ihre Identität war in Frage gestellt. Wer bin ich? Sie war die Tochter von ihrer Mutter Christel und Karl-Heinz, ihrem vor fünf Jahren verstorbenen Vater. Aber was sie dort las, das ließ sie erschaudern.

Was sollte das? Ihre Albträume, die immer wieder kehrten. Sie sollte es erfahren.

Jetzt, viel zu spät.

 

Anni hielt dieses Blatt immer noch mit zitternden Händen. Ein Zettel, beklebt mit Zeitungsauschnitten. 

 

Ein Kind war entführt worden. Ein Mädchen…  Genauso alt wie sie… Ein Foto, das ihrem Kinderfoto glich. 

Was hatte das mit ihr zu tun? Warum hatte ihre Mutter dieses Blatt aufbewahrt? 

Anni begriff. Diese Zweifel, immer wieder hatte sie Zweifel, sie würde nicht in die Familie passen.

Irgendetwas in ihr hatte es ihr ganzes Leben lang gewusst, es stimmt etwas nicht. Und jetzt?

 

Sie würde alles herausfinden. Wer sie wirklich war. Alles schien so klar….

 

In der nächsten Nacht träumte Anni erneut. 

In diesem Traum sah sie ihre Mutter, Christel von weitem. Sie wirkte ruhig und Anni verstand, jetzt konnte sie in Frieden ruhen. 

 

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In den Siebzigern wurde ein Mädchen entführt. Die kleine Anna. Damals 14 Monate alt. Aus dem Kinderwagen vor einem Geschäft. Ihre Mutter hatte nur kurz etwas aus dem Laden geholt und dann war sie fort gewesen…..

 

Anni starrte auf den Bildschirm ihres Laptops. Sie konnte es nicht fassen.

Warum hatte Christel ihrer leiblichen Mutter so etwas antun können? So ein Verbrechen? Unvorstellbar für Anni. Gerade Christel, ihre bis dato bekannte Mutter, hatte sie zu einem sozialen Menschen erzogen. Sie war mit Werten groß geworden. Jetzt stellt sich heraus, dass diese Frau sie entführt hatte. Von ihrer eigentlichen Familie entfernt. Aber warum?

 

Anni las weiter. Sie schaute sich die Fotos an und erkannte sich auf ihnen wieder. Selber hatte sie unzählige Kinderfotos, die ähnlich waren. 

„Mein Gott, es ist nicht zu glauben“, flüsterte sie vor sich hin, während sie weiter las.

 

Ihre Familie hatte alles in Bewegung gesetzt, die Medien wurden damals eingeschaltet. Überall war nach ihr gesucht worden und es hatte sogar einen öffentlichen Aufruf im TV gegeben. Ein letzter verzweifelter Hilfeschrei ihrer leiblichen Eltern.

Es hatte keine Spur gegeben und darum konnte der Fall nie gelöst werden.

 

Anni saß dort an dem Tisch in ihrer Wohnung und fröstelte. Ihre Gedanken kreisten.

„Was soll ich tun?“, fragte sie sich.

Ihre Eltern, die für sie ihre Eltern waren, lebten nicht mehr. Sie würde nie erfahren, welche Beweggründe es gegeben hatte, sie einfach zu entführen. Sie konnte keinen mehr fragen, dazu war es zu spät. Aber sie hatte noch eine Familie. Sie war nicht alleine. Anni gehörte zu einer Familie, die ihr noch fremd war. Wie würden sie reagieren? Sollte sie einfach dort hingehen? Und was sollte sie sagen? Während sie schwer ein- und ausatmete, spielten ihre Gedanken jede für sie denkbare Situation durch.

Die Szenarien liefen immer wieder von vorne ab. 

 

„So komme ich nicht weiter“, sagte sie zu Peter, der gerade zur Tür herein gekommen war.

Er sah ein Häufchen Elend, am Tisch kauernd. Ihre Augen waren leer und starrten in die Zimmerecke, ohne diese wirklich wahrzunehmen. 

Sie tat ihm leid. Ihre Identität, die sie bislang hatte, die gab es nicht. Es war eine Lüge. Nichts stimmte mehr in Annis Leben. 

 

„Warum?“, schrie sie. „Warum?“ Und brach danach weinend zusammen.

„Du hast ein Leben und du hast eine Familie, mach etwas daraus.“

Anni hob den Kopf, sie schaute auf zu Peter und in diesem Moment konnte er ihre Entscheidung in ihren Auen sehen. Er kannte sie zu gut. Stumm nickte er ihr zu und sie verstand. Anni würde es wagen. Morgen schon …

 

Sie klingelte an der Tür. 

„Ich komme“, rief eine Frauenstimme von drinnen. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet.

Eine Frau, um die siebzig, schaute verwundert auf Anni und fragte mit warmer Stimme:

„Was kann ich für Sie tun?“ Ihr freundlicher Blick, unterstützt von einem kleinen Lächeln, machte alles ganz einfach. 

 

„Deine Anna ist wieder zuhause, Mutter“… 

 

Und in diesem Moment wusste sie, jetzt war sie angekommen.