Von Franck Sezelli

Es sind bestimmt schon sechzig Kilometer, seit sie aus der Stadt heraus sind. Wo will er nur hin?, grübelt die Frau am Steuer. Wohnt die andere hier in der Gegend oder treffen sie sich in irgendeinem Hotel?

Nach einer langgezogenen Kurve sind die Rücklichter plötzlich verschwunden. Die Straße geht wieder schnurgerade weiter. Sie müsste das Auto vor sich sehen, selbst wenn es beschleunigt hätte. Es muss in den Wald abgebogen sein. Also bremst die Frau ab und fährt langsamer, dabei den Waldrand auf beiden Seiten nach einem Weg absuchend. Ein Schild weist auf einen Parkplatz für Wanderer und Pilzsucher hin. Sie fährt darauf, aber Gerhards Wagen ist nicht zu sehen. Die Frau steigt aus und lauscht in die Dunkelheit. Irgendwo meint sie, das leise Brummen eines Motors zu hören. 

Vom Parkplatz führt links ein Wanderweg in den Wald, rechts geht ein schmaler Forstweg ab. »Betreten und Befahren verboten! Absturzgefahr!«, kann sie auf einem verwitterten Schild im Mondlicht gerade noch erkennen. Von dort hinten kam das Motorgeräusch, das jetzt verstummt ist. Die Frau folgt dem verbotenen Weg.

Es dauert nicht sehr lange, bis sie das Auto findet, geparkt zwischen zwei Bäumen am Wegrand. Was macht er denn hier? Er wird sich doch nicht hier im Wald mit einer anderen Frau treffen? Vor dem Auto befindet sich ein riesiges Gebüsch, sie umrundet es vorsichtig. Das silberne Licht der schmalen Mondsichel reicht gerade, um nicht über Wurzeln und Äste zu stolpern. Direkt hinter dem Gebüsch ragt ein etwa fünf Meter hoher Fels in den Nachthimmel. Es wirkt unheimlich, aber sie hat den Eindruck, als ob der Stein stöhnt, irgendwie heftig atmet und ächzt. Was sind das für Geräusche?

Da erkennt sie eine schwarze Öffnung im Gestein, quetscht sich zwischen Gebüsch und Fels bis dorthin, nimmt endlich ihre Stablampe und leuchtet hinein.

Darauf ist der Mann nicht gefasst.  Zutiefst erschrocken lässt er los, was er da hinter sich her in die Höhle zerrt, und richtet sich auf, starrt in das grelle Licht der Taschenlampe.

Die Frau ist nicht minder erschrocken über das, was sie erblickt. Ihr Mann zerrt einen großen Gegenstand, der in eine schwarze Plastikfolie eingewickelt ist, rückwärts über den Boden. »Was, um Gottes Willen, Gerhard, machst du hier? Was ist da drin?« Sie schreit es mehr als dass sie ungläubig fragt. Sie traut ihren Augen nicht, während ein furchtbarer Verdacht in ihr hochsteigt. Sie macht zwei Schritte vorwärts, stößt mit aller Kraft ihren Mann vor die Brust, sodass er auf den Hintern fällt. Dann reißt sie die Folie auseinander und erstarrt. 

Bilder wirbeln in ihrem Kopf herum, ihr ist kalt und heiß zugleich. Entsetzen und Wut, Abscheu und maßlose Enttäuschung wirbeln ihre Gefühlswelt durcheinander.  Das kann doch nicht wahr sein!  Wie in Trance, vom Instinkt geleitet, greift sie nach hinten …

»Du kannst doch nicht … lass dir erklären! Ich konnte nicht anders …«, stammelt Gerhard und rappelt sich wieder auf. Dabei kommt sein rechter Arm nach vorn …

Der fürchterliche Knall des Schusses wird durch die Höhlenwände um ein Vielfaches verstärkt.

 

***

 

Es nieselt ausdauernd. Die Nässe kriecht in die Kleidung und verstärkt das Unwohlsein von Herbert Feicht. Tief in Gedanken läuft der Kriminalhauptkommissar hinter dem Sarg her. Auf Beerdigungen regnet es wohl immer?, fragt er sich.

Mit ihm begleiten sehr viele Trauernde den letzten Weg der Leiterin der Mordkommission. Fast alle aus dem Präsidium sind gekommen, auch Beamte aus benachbarten Städten, sogar aus Berlin.

Warum nur? Herbert weiß darauf keine Antwort. Mehr als zehn Jahre waren er und Barbara Unmuth ein eingespieltes, aufeinander eingeschworenes Ermittlerteam gewesen. Der Dezernatsleiter hat in seiner Trauerrede die Erfolge dieser Kriminalistin besonders herausgestrichen, dabei auch ihn als ihren engsten Kollegen erwähnt. Nun, ihre gemeinsame Erfolgsquote lag weit über 90 %. Das war sicherlich ein Grund, dass Barbara vor einem halben Jahr zur Kriminalrätin und Leiterin des Kommissariats aufgestiegen ist.

Sein neuer Partner Kriminaloberkommissar Alexander Pfeiffer reißt ihn aus seinen Gedanken.  »Ich kann es nicht verstehen. Aber gut finde ich, dass unser Chef in der Rede gar nichts dazu gesagt hat, nicht einmal in Andeutungen.«

Herbert schaut seinen Kollegen an und nickt traurig. »Sicher besser so …«

»Dumm nur, dass ich mit dir bestimmt nicht weitermachen kann. Du wirst doch sicher Barbaras Posten übernehmen.«

»Abwarten! Im Moment bin ich bloß kommissarisch im Amt, vielleicht bekommen wir von außerhalb jemanden.«

»Wieso denn das? Du bist doch genauso wie Barbara geeignet.«

»Einen Unterschied gibt es schon. Der unaufgeklärte Serienmörderfall „Abendzug“ hat sie selbst schon sehr belastet. Du kennst ihn doch, warst doch selbst in der SoKo. Die Opfer Carmen Preiwutt,  Kerstin Rohrbach und Martina Drobner sind alle nach dem Abendzug auf dem Weg vom Bahnhof Kunzdorf in den Ort überfallen worden, vor fünf Jahren, vor zwei Jahren und vor einem halben Jahr. Dass Martina Drobner nicht einmal gefunden worden ist, belastet meine Ermittlungsbilanz stark, während die Ermittlungen bei der Berufung von Barbara ja noch voll im Gange waren. Das sage ich ohne jeden Neid, ist halt so.«

»Und jetzt stehen wir hier – und verstehen die Welt nicht mehr. Eine solche selbstbewusste Frau … Ihr Mann ist seit einigen Tagen verschwunden. Ob er sie verlassen hat?«

»Schon möglich. Aber das ist sicherlich nicht der Grund.«

 

***

 

»Was wollen wir in Walderloh?« Alexander will es endlich wissen, Herbert hatte ihm zum Einsatz nichts Genaues gesagt.

»Greif mal hinter dich in die Mappe auf dem Rücksitz. Dort findest du eine Skizze.«

Alexander sieht sich die Skizze genau an. »Was ist das?«

Der Hauptkommissar holt tief Atem und beginnt zu erklären. »Mir fiel der Vermisstenfall Julia Engeler auf. Die blonde Fünfundzwanzigjährige wurde zuletzt gesehen auf der Straße, die vom Bahnhof nach Kunzdorf führt. Sie kam mit dem Abendzug aus der Stadt, wie Zeugen berichten. Die Parallelen zu den drei anderen Opfern, die wir dem Fall „Abendzug“ zugeordnet haben, sind nicht zu übersehen. Alle drei waren blond, Mitte Zwanzig und arbeiteten in der Stadt. Die ersten beiden Opfer hatten wir schnell gefunden, im nahen Wald an dieser Straße, im Gebüsch versteckt. Nur Martina Drobner suchen wir noch. Jedenfalls nahm ich mir daraufhin die Akten noch einmal vor und fand dieses Blatt. Ich bin mir sicher, dass das vorher nicht drin war. Es sieht wie ein skizzierter Kartenausschnitt aus. Das Kreuz dort muss ein Hinweis sein.«

»Und wo ist das?«

»Da habe ich lange gerätselt. Und schließlich Paul von der Sitte gefragt, ob er etwas damit anfangen kann. Er ist ein alter Wanderer, der sich bestimmt im Umkreis von zweihundert Kilometern überall in den Wäldern und Bergen auskennt.«

»Und?«

»Nach einigem Hin und Her tippte er auf einen verwilderten Forst bei Walderloh, ein Vergleich mit einer Wanderkarte schien ihm Recht zu geben.«

 

Vom Parkplatz aus ist es für die Ermittler nicht schwer, die in der Skizze bezeichnete Stelle zu finden. Bingo! Im Eingang einer versteckt gelegenen Höhle entdecken sie einen toten Mann, der auf einer in Folie eingewickelten Frauenleiche liegt. Ihr Gesicht ist seltsamerweise nicht bedeckt. Weiter hinten liegt ein weiterer in Folie eingepackter Gegenstand, der sich später als stark verwester menschlicher Körper herausstellt.

Herbert erkennt in dem aufgedeckten Gesicht die Vermisste Julia Engeler. Alexander dreht den Mann herum, nachdem er von der Auffindesituation Fotos gemacht hatte. Der Hauptkommissar fährt erschrocken zurück.

»Kennst du den?«, fragt verwundert der Oberkommissar.

»Aber ja! Das ist Gerhard! Meine Frau und ich haben manchen Abend mit Barbara und ihm zusammengesessen. Aber das kann doch nicht sein!«

Herbert grübelt. »Das sieht doch so aus, als wäre Gerhard Unmuth, der Mann unserer Kollegin, der lange gesuchte Mörder. Seine letzten beiden Opfer hat er weiter weg vom Tatort geschafft. Und irgendwie muss Barbara dahinter gekommen sein.«

»Und hat ihn hier erschossen! Und dann den Hinweis in die Akten geschmuggelt.« Alexander spricht aus, was Herbert nicht zu denken wagte.

Herbert nickt. »Das lässt ihren Suizid natürlich in einem anderen Licht erscheinen …«

 

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