Von Hans-Günter Falter

Schweißgebadet, aufgeschreckt, wälzt sie sich unruhig im Bett. Wie jede Nacht, immer zu dieser Zeit. Schlafen kann sie nicht mehr, das ist ihr klar. Sie steht auf, zieht das nasse Nachthemd aus und holt ein anderes aus dem Schrank.

Auf dem Fensterbrett steht ein Kästchen, mit Blumenmustern verziert, daneben eine kleine Vase mit einem Veilchen.
Das Zimmer ist karg. Ein Bett mit Eisengestell, ein schmaler, hoher Schrank, ein Tisch mit zwei Stühlen. Eine Kochnische mit zwei Elektrokochplatten befindet sich direkt neben dem Bad. Es wirkt ein bisschen wie ein Gefängnis, dabei kann es der erste große Schritt in die neugewonnene Freiheit werden.

Sie streift sich das frische Nachthemd über, bevor sie ins Bad geht, in den Spiegel schaut, sich am Waschbecken festklammert und schreit. Aus ganzer Seele und hemmungslos schreit. Niemand im Wohnheim wundert sich, niemand kommt, um nachzuschauen oder um sie zu trösten. Niemand. Das war vor ein paar Wochen, als sie hier einzog, anders. Überhaupt: Alles war anders! Ihr ganzes Leben.

Nicht einmal mit Amira kann sie reden. Amira, die von allem weiß, weil sie doch dabei war. Auch ihr Mann hat als Mechaniker für die fremden Soldaten auf dem Stützpunkt gearbeitet. Amira hatte ihn ab und zu dort besucht.
Sie aber hat das nie getan, traute sich nicht in die fremde Männerwelt, erschauderte, wenn sie die beige gestrichenen, martialischen Fahrzeuge mit den vermummten Soldaten durch die staubigen Straßen ihres Dorfes fahren sah. Dabei war ihr dieses Bild seit ihrer Kindheit vertraut. Sie wurde geboren, als sie kamen. Vor 20 Jahren.
Ihr Mann kam gut mit den Fremden zurecht, die waren sehr freundlich. Ab und zu brachte er Sachen aus der Basis mit, sie erinnerte sich an Marmelade in Tuben oder Schokolade, Tomaten in Dosen, eine Wollmütze und Sonnenbrillen. Immer wieder diese verspiegelten Sonnenbrillen.
„Sie sind gut für uns“, sagte er. „Ohne sie könnten wir nicht mehr hier leben. Wir müssten fliehen, unser Land verlassen!“

Sie wusste, dass er Recht hatte, konnte aber das beklemmende Gefühl nicht abschütteln. Damals!

Damals! Sie sinkt in ihre Gedanken zurück. Es scheint so endlos lange her zu sein. Und gleichzeitig ist die Zeit für sie abrupt stehengeblieben. Jeden Tag hat sie seitdem gezählt, 78 werden es heute.

*

Sie lebte mit ihrem Mann und der drei Monate alten Puneh in ihrem Dorf ganz in der Nähe der Militärbasis. Dort hatte sie selbst schon als Kind gespielt, ist da aufgewachsen. Die Basis gab es immer schon, jedenfalls solange sie denken konnte.
Mit sieben ist sie in die Schule gekommen. Wie stolz sie da war. Bei dem Gedanken muss sie lächeln. Das ganze Land stand ihr offen. Für ihre Tochter würde einmal die ganze Welt offenstehen. Wieder schießen ihr Tränen in die Augen.
Alles ging so schnell, die Soldaten zogen ab und kurz darauf rückten die gegnerischen Truppen vor. Ohne großen Widerstand nahmen sie Dorf für Dorf, Bezirk für Bezirk ein. Gerüchte machten schnell die Runde: „Durch jedes Haus streifen die ‚Gotteskrieger‘, durch jedes Haus. Die Männer nehmen sie mit, niemand weiß wohin“. Was sie mit den Frauen machen, sprach keiner aus.
Alle hatten Angst. Unsägliche Angst. Besonders die, die für die fremden Soldaten gearbeitet hatten. Ihr Mann hatte immer gesagt, dass die sie nicht zurücklassen werden. „Sie werden uns mit in ihr Land nehmen, weil wir für sie gearbeitet haben und weil die anderen Milizen uns sonst alle umbringen“.
Seine Zuversicht war grenzenlos in diese ‚vertrauten Fremden‘ in ihren beigen, gepanzerten Fahrzeugen mit den Maschinengewehren, die Süßigkeiten an Kinder verteilten.
Bevor die Soldaten gingen, gaben sie ihm Papiere, die sollte er ausfüllen, dann würde er mit seiner Familie rechtzeitig abgeholt und ausgeflogen, sagten sie ihm.

„Vernichtet alle Unterlagen, die euch mit den fremden Truppen in Verbindung bringen könnten“, rieten die einen. „Hebt alles auf“, damit ihr nachweisen könnt, dass ihr für sie gearbeitet habt“, sagten die anderen.

Die Dokumente waren längst ausgefüllt und abgeschickt, aber nichts passierte.
Ihr Mann vernichtete schließlich alles, was an seine Arbeit auf der Militärbasis erinnerte, so wie es die anderen auch taten, die für sie gearbeitet hatten. Hoffentlich würden die übrigen Dorfbewohner ihn nicht verraten.

Dann kamen sie, mitten in der Nacht, mit Lastwagen. Grelles Licht fiel durch die Fenster herein. Dunkle, sich schnell bewegende Schatten huschten gespenstig über die Zimmerwand. Sie schossen in die Luft mit ihren Maschinengewehren, brüllten sich Anweisungen zu und stürmten in die Häuser. Alle Männer sollten herauskommen. Ihr Mann drückte ihr das Kästchen mit dem Blumenmuster in die Hand und schob sie mit der weinenden Puneh auf dem Arm in den kleinen Zwischenraum neben der Küche und dem Schlafraum.
„Seid leise!“, das waren die letzten Worte, die sie von ihm hörte. Dann kamen sie ins Haus und er ging mit ihnen hinaus. Kurz darauf hörte sie einen der Lastwagen abfahren.

Zwei der Kämpfer kamen zurück ins Haus, sie war gelähmt vor Angst. Ein Brot und ein kaltes Hähnchen, das auf dem Tisch lag, nahmen sie an sich. Fast hätte sie den Gewehrkolben des einen berühren können, als er dicht vor ihrem Versteck stand.

Puneh weinte leise, als die beiden das Haus betraten, sie hielt ihr den Mund zu und versuchte das eigene Zittern zu unterdrücken, kauerte sich noch tiefer in ihrem Versteck zusammen.
Die Kämpfer verschwanden wieder, so schnell, wie sie gekommen waren. Offenbar hatten sie nicht nach ihr gesucht, sondern nur nach Proviant. Sie blieb versteinert zurück, eine Hand noch immer fest vor dem Mund des Kindes, mit der anderen das Kästchen haltend.

Sie muss wohl stundenlang so ausgeharrt haben, denn es war längst schon wieder taghell, als erneut Soldaten kamen. Diesmal die Vertrauten, für die ihr Mann gearbeitet hatte. Auch die kamen ins Haus, fanden sie aber sofort und holten sie aus ihrem Versteck.
Einer der Soldaten hatte einen Aktenordner in der Hand, er blätterte darin und sprach mit einem anderen. Offenbar suchten sie gezielt nach ihren ehemaligen Mitarbeitern und deren Familien, um sie zu evakuieren.
Sie reagierte nicht, als die Soldaten sie ansprachen, starrte nur mit teilnahmslosen Augen ins Leere. Das Kästchen mit den Blumenmustern nahm ihr einer der Soldaten aus der Hand und öffnete es. Darin hatte ihr Mann seinen Ausweis und seine Zutrittsmarke für das Militärgelände gelegt. Das war alles, was er noch als Nachweis für seine Arbeit bei den Soldaten aufbewahrt hatte. Der Soldat mit dem Aktenordner machte eine Notiz auf seinem Blatt und nickte dem anderen zu. Der legte die Sachen zurück in das Kästchen. Er schaute sie und das Kind lange an, nahm dann einen Babyschnuller vom Tisch und legte ihn dazu, bevor er es schloss und ihr zurückgab. Die regungslose kleine Puneh hielt sie festumklammert in ihrem Arm. Willenlos ließ sie sich von den Soldaten zu einem Bus führen, der auf der Straße wartete.

Erst am Flughafen nahm ihr Amira, ihre Nachbarin aus dem Dorf, deren Anwesenheit sie bisher nicht wahrgenommen hatte, das leblose, kalte Kind aus dem Arm und übergab es einer Soldatin.

Das Tor zur Landebahn war noch geschlossen. Gemeinsam mit Amira ging sie in einen Waschraum. Dort hielt sie sich am Waschbeckenrand fest, schaute in den Spiegel und schrie. Schrie, wie nie zuvor in ihrem Leben. Dann ging alles unglaublich schnell. Das Tor zum Rollfeld wurde geöffnet. Die Menschen liefen auf die Landebahn und bestiegen das Flugzeug durch die heruntergelassene Heckklappe.

Das war der erste Tag. Der erste von 78.

 

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