Von Gusto

Auch wenn sie sich fast sieben Jahre nicht gesehen hatten. Mit ihrer innigen Umarmung trotzten die beiden Männer selbst der Krankenhausatmosphäre. Nichts konnte ihre Wiedersehensfreude schmälern.

Und für Karl, der hier jeden Tag seine Frau besuchte, war es seit langem mal wieder etwas Abwechslung vom Klinik-Alltag. „Sie schläft!“ erklärte er knapp und ging mit Thorsten ein paar Schritte. Karls Kinder kannten sich hier längst bestens aus und beschäftigten sich, unter Aufsicht eines mittlerweile befreundeten Besucherpaares, im Aufenthaltsraum. So waren die Kinder in Sichtweite und Karl und Thorsten konnten den Gang entlang schlendern und in Erinnerungen schwelgen.

Die zwei Freunde scherzten und lachten und hatten sich eine Menge zu erzählen. Sie sinnierten, wie es wohl diesen ergangen war, wohin es jene verschlagen hatte, wie schnell doch die Zeit verging und welch unterschiedliche Wege sie selbst eingeschlagen hatten.

Karl führte ein vergleichsweise unspektakuläres Leben als Familienvater. Thorsten hingegen war mit der High Society auf Du und Du. Und er machte keinen Hehl aus seinem prunkvollen Werdegang. Höher, schneller, weiter, besser! Das schien seine Devise. Karl war tief beeindruckt und freute sich sehr für seinen Freund:

 

„Wow!  Du hast es wirklich geschafft!“

 

Thorsten blühte richtig auf angesichts dieser Wertschätzung, war sie doch seit langer Zeit die erste wirklich aufrichtige und vor allem neidlose Anerkennung. Stolz entgegnete er:

 

„Ja, man tut, was man kann. Von nix kommt eben nix.“

 

„Wohl wahr!“

 

„Und wer will schon im Mittelmaß versinken?“

 

Karl war erstaunt über diese elitäre Facette seines Freundes, den er doch als so bodenständigen Mann kannte:

 

„Wir haben uns echt lange nicht gesehen. Du hast Dich wirklich verändert.“

 

„Achwas!“ schmetterte Thorsten diese vermeintliche Unterstellung ab: „Ich bin nur meinen Weg gegangen. Und mir geht’s bestens. Wenn sich hier einer verändert hat, dann Du!

 

„Wie meinst Du das?“

 

„Na, dass Du nicht durchgezogen hast. Mal ehrlich: Du warst unter den Jahrgangsbesten. Jede Kanzlei hätte Dich mit Kusshand genommen.“

 

„Mach Dir um mich mal keine Sorgen! Ich würde gar nicht zurechtkommen in dieser Hochglanz-Luxus-Welt, das hätte ich auch nie gewollt. Außerdem brauchen die Geldsäcke mich sicher nicht, um ihren dritten Lamborghini zu bekommen oder sich aus ner Belästigungsklage rauszuwinden. Die Menschen, die zu mir kommen, brauchen wirklich Hilfe. Ich bereue keine Sekunde, diesen Weg gegangen zu sein. Auch wenn es nun so kommt. Sie ist es wert. Keinen einzigen Moment lang hätte ich es anders gewollt. Ich würde mich immer wieder so entscheiden.“

 

Thorsten kannte Karl lange genug, um zu wissen, dass er jedes Wort so meinte. Aber wirklich freiwillig so ein Leben führen? Wegen einer Frau? Und die wird am Ende auch noch so krank? Dann zerfällt das Kartenhaus und das soll man dann auch noch gut finden?

Thorsten war sich sicher, dass Karl sich nur was vormachte. Also sprach er Klartext:

 

„Belüg Dich ruhig selber! Aber seit Jahren versauerst Du als Sozialarbeiter. Dabei hättest Du das ja auch alles haben können.“

 

„Das passt schon, ehrlich! Ich mag meine Arbeit und sie füllt mich aus!“

 

„Komm schon! Das glaubst Du doch nicht wirklich!

Es ist keine Schande, wenn man sein Scheitern zugibt!

Und Du brauchst auch nicht neidisch zu sein. Wir sind doch Freunde!“

 

„Neidisch? Bist Du wirklich so unzufrieden und verbittert, dass Du nen Schwanzvergleich nötig hast. Und das auch noch hier? Jetzt?“

„Ist ja gut, reg Dich ab! Aber ich kann nix dafür, dass Du so ins Klo gegriffen hast!“

 

Karl stand nur noch fassungslos da und seine Kinnlade fiel so schnell runter, dass Thorsten es beinahe mit der Angst bekam.

Natürlich hatten sich die beiden Männer weiterentwickelt. Sieben Jahre sind schließlich eine verdammt lange Zeit. Und Karl war schon immer alles andere als ein Sensibelchen. Da durfte der Ton auch mal rauer werden. Aber Thorsten hatte den Mann, der immer wie ein Bruder zu ihm gewesen war, nicht mal eben vor den Kopf gestoßen. Er hatte gerade dessen Entscheidung für die Liebe seines Lebens zum fatalen Fehlschlag erklärt.

Warum nur hatte er das getan? Karl war doch keiner von Thorstens Klienten oder irgendein windiger Kollege. Als die beiden sich eben nach so langer Zeit in die Arme geschlossen hatten, war es für einen Moment, als wäre gerade mal eine Woche vergangen.

Beschämt senkte Thorsten den Kopf und versuchte vergeblich, Karls Augen zu entkommen. Diesen so aufrichtigen Augen, wie er sie in seinem Leben bei höchstens einer Hand voll Menschen gesehen hatte. All die vielen Male, in denen Karl Thorsten den Kopf zurechtgerückt hatte oder einfach nur für ihn da gewesen war, waren es diese warmen, verständnisvollen Augen, die ihm mit so wachem und ehrlichem Blick immer wieder Zuversicht geschenkt hatten, ohne je etwas dafür zu verlangen. Einfach, weil sie Freunde waren. Und nun waren diese gütigen Augen so voller Wut und Verzweiflung.

Mit geballten Fäusten stand Karl da. Der flackernde Blick seiner feuchten Augen durchdrang Thorsten bis ins Mark, besonders als Karl ihn gnadenlos weiter starrend und mit zitternder Stimme wissen ließ:

 

„Sie wird sterben!“

 

Thorsten brachte keinen Ton heraus. Ihm war klar, dass es keine Worte gab, die entschuldigen könnten, was er seinem Freund an den Kopf geworfen hatte.

Er war zwar ein tougher Geschäftsmann, aber sowas hätte man selbst in seiner abgezockten Businesswelt knallhart abgestraft, er selbst wohl am allerhärtesten. Er stellte sich darauf ein, seine berechtigte Hinrichtung einfach über sich ergehen zu lassen. Egal, ob Karl ihn einfach stehenlassen würde, ihn anschrie oder verbal in Stücke riss, ob er ihm nun eine verpasste oder ihn gar komplett zusammenschlug. Thorsten würde sich nicht wehren. Er hatte es verdient. Kein Aber. Punkt.

 

Karl atmete ein, so als setzte er an, um etwas zu sagen, schluckte es aber runter. Einige Sekunden später das selbe Spiel. Währenddessen hatte er Thorsten nicht mal für einen Wimpernschlag aus den Augen gelassen. Er starrte ihn weiter unerbittlich an.

Ganz allmählich aber löste sich Karls Anspannung. Seine Fäuste tauten nach und nach auf und gaben sich wieder als die gewohnt besonnenen Hände zu erkennen. Und auch sein Blick wurde langsam, aber sicher ruhig und klar. Die brennende Wut in seinen Augen wich endgültig einem anderen, wärmenden Feuer. Sein Mienenspiel wurde plötzlich ganz ausgeglichen, er schien irgendwie zu lächeln, und dann doch wieder nicht. Es war wie bei der Mona Lisa: geheimnisvoll und erhaben.

 

Thorsten dachte erst, ihn würde nun eine ausgeklügelte, meisterhaft inszenierte und diabolische Rache erwarten. Eiskalt serviert, versteht sich.

Aber so war Karl nicht, so war er noch nie gewesen. Und er würde auch nie so sein. Komme, was wolle.

Diese Sicherheit, diese Klarheit in Karls Blick war ein Zeichen für etwas anderes. Etwas, das größer war, als er oder Thorsten es je sein könnten. Eine Gewissheit, die so weit über kindische Gefühle wie blinden Stolz, Hass oder Rache hinausgeht, dass manche Menschen sie wohl niemals verstehen werden. Dank dieser Gewissheit schien der eben noch so verzweifelte Karl auf einmal völlig unverwundbar. Dann drehte er seinen Kopf ein wenig Richtung Gang, starrte Thorsten dabei aber weiter unbeirrt an, und rief ganz plötzlich:

„Maja, Leo, Besuch ist da!“

 

Auf einmal rasten zwei kleine Wirbelwinde auf die beiden Männer zu. Der dreijährige Leo musterte den fremden Mann im Anzug. Und wie ein kleines Mäuschen suchte er erstmal Schutz hinter Karls Bein und nahm seine Hand. Maja hingegen war schon Fünf und präsentierte sich mutig dem großen Unbekannten:

 

„Bist Du dem Papa sein Freund?“

 

Völlig verlegen, so als wäre er höchstens so alt wie die kleine Fragestellerin, bekam Thorsten kein Wort heraus und nickte nur.

 

„Wie heißt Du?“ wollte Maja wissen.

 

Noch immer verlegen, aber etwas gefasster antwortete Thorsten:

 

„Ich heiße Thorsten. Und Du?“

 

„Majaaa. Und das ist mein Bruder Leo!“

 

Erst jetzt bemerkte Thorsten, dass die junge Dame ein Blatt in der Hand hielt:

 

„Was hast Du denn da?“

 

Nun war Maja doch ein wenig schüchterner, zeigte dem Mann aber mutig das bunte Papier.

 

„Habt Ihr das gemalt?“ fragte Thorsten.

 

„Ja.“ erklärte Maja stolz und gab ihm das Kunstwerk: „Das ist für Diiich!

 

Thorsten betrachtete sein Geschenk und fühlte sich mit jeder Sekunde furchtbarer.

 

Maja wurde skeptisch: „Warum schaust Du denn so böse? Gefällt’s Dir nii-hiicht?

 

Aufgeregt zog Leo an Papas Hosenbein und flüsterte: „Papa, der findet unser Bild plööht!“

 

Karl ging in die Hocke und erklärte den beiden, was los war:

 

„Nein, Krümelchen! Ich glaube, er ist nur überrascht. Er hat einfach nicht gedacht, dass er so ein tolles Geschenk von Euch bekommt.

Wisst Ihr, Thorsten und ich hatten eben einen kleinen Streit. Er glaubt, ich hätte ins Klo gegriffen.“

 

Die Kinder lachten. Und Maja war sich sicher: „Papaaa, Du erzählst wieder Quaaatsch!“

 

„Doch, das hat er gesagt!“ versicherte Karl, erhob sich und schaute Thorsten prüfend an.

 

Mit großen Augen stellte Maja Thorsten zur Rede:

 

„Hat Papa wirklich in den Klo reingegriffen?

 

„Oh Nein!“ gestand der nun Geläuterte mit knallrotem Kopf und feuchten Augen. Wie der heimgekehrte verlorene Sohn fuhr er fort:

 

„Ich alter Besserwisser hab nur einfach nicht richtig hingeschaut.“

 

Karl blickte mit einem bestätigenden Nicken in Thorstens Richtung. Dann lächelte er und widmete sich wieder seinen Kindern:

 

„Die Mama ist sicher gleich wach. Und sie will Euer tolles Bild bestimmt auch mal sehen!“

 

„Jaaa!“ riefen die kleinen Künstler begeistert.

 

Dann schaute Karl wieder zu Thorsten:

 

„Komm, ich stell Dir die Co-Produzentin dieser zwei Racker vor!“