Von Janna Lehmann

Rechts, links oder geradeaus? Jedes Mal, wenn ich mit meinem Hund Kaja in diesen Teil des Waldes komme, stehe ich vor dieser schwierigen Frage, denn diese Weggabelung ist nicht irgendeine Kreuzung im Wald, die lediglich darüber entscheidet, ob der Rundweg länger oder kürzer, beschwerlicher oder einfacher, schlammiger oder trockener wird. 

Wenn ich den linken Weg nehme, riskiere ich Frau Eberhart mit ihrem Pudel Hugo zu begegnen. Hugo und Kaja können sich nicht ab und ich kann Frau Eberhart nicht ab. Sie mich, glaube ich, auch nicht, meint aber dennoch, mich über das laute Gekläffe der beiden Hunde an den ziehenden Leinen hinweg in ein nicht endendes Gespräch verwickeln zu müssen.

Wenn ich rechts gehe, komme ich an der alten Villa vorbei, die mein Exmann zusammen mit seiner neuen Gattin ausgebaut und renoviert hat – „mit ihr“ heißt mit ihrem Geld, denn er selbst besitzt keinen Cent. Als wir noch verheiratet waren, lebte er mit mir und den Kindern auf 70 Quadratmetern in einem 50er-Jahre-Wohnhaus und wir wussten nie, wovon wir die Miete bezahlen sollten. Ich bin zwar neugierig, wie die Bauarbeiten voranschreiten, aber der Anblick versetzt mir immer einen Stich! 

Der mittlere Pfad ist dagegen schlicht und ergreifend unheimlich. Irgendwie, ich weiß nicht warum, befällt mich ab einer bestimmten Stelle, wo der Pfad auf eine Art Weglichtung mündet, ein mulmiges Gefühl. 

Ich sehe in den zugewachsenen Zugang vor mir. Plötzlich entschlossen nehme ich den mittleren Pfad. Anfangs ist er noch recht breit, ganz langsam verjüngt er sich, bis kaum mehr als ein schmaler Wildwechsel bleibt. Junge Baum- und Strauchkronen bilden einen Blättertunnel, es wird feuchter, es riecht modrig, giftiger Weißwurz wächst hier zuhauf. Ich merke bereits, wie mich, trotz der Schönheit der Natur um mich herum, langsam Beklemmung befällt. Dabei ist dies noch gar nicht die besagte Stelle, aber wie der Pawlow‘sche Hund, der schon beim Erklingen der Glocke zu sabbern beginnt, wird mir bange zumute in der Erwartung, dass ich gleich an den Ort komme. Kaja läuft inzwischen auch nicht mehr vor mir her, schnüffelt unruhig in alle Richtungen, während sie mir immer widerwilliger folgt. Schließlich nehme ich sie auf den Arm. 

Seit einem Jahr bin ich hier nicht mehr entlanggelaufen, seit mein Exmann mir verkündet hat, er habe jetzt mit seiner Neuen die alte Villa am Froschgrund gekauft und ließe sie jetzt komplett renovieren. Früher hatten er und ich diese Jugendstilvilla immer mit Sehnsucht betrachtet, uns gemeinsam ausgemalt, wie wir sie wieder herrichten und ausstatten würden. Diese Villa war uns ans Herz gewachsen. Jetzt realisierte er unseren Traum – mit einer anderen und deren Geld! 

Der Pfad steigt jetzt etwas an, über eine große Bulte hinüber und als ich auf der kleinen Kuppe stehe, sieht man plötzlich auf die besagte Lichtung, in die auf der anderen Seite ein breiter Weg mündet. Ich will hinab, rutsche dabei von der Erhebung runter, stolpere auf die freie Fläche, fange mich nach zwei Metern. 

„Hola, junge Frau, Sie sind aber stürmisch. Wie der Müller damals, der hier umgekommen ist!“ Erschreckt fahre ich zusammen, lasse fast den Hund fallen, ich drehe mich entsetzt um, nach der Stimme seitlich von mir. Ein alter Mann mit schütterem Haar sitzt auf einem Baumstumpf und lächelt mich quasi zahnlos an. Seine Hände sind auf einen Stock gestützt. 

„Wie, was, wer?“ stammele ich. Ich starre den alten Mann an, Kaja knurrt ängstlich in meinem Arm so tief ihr winziger Resonanzkörper es ihr erlaubt. 

„Na, der alte Müller, der hier erschlagen wurde. Genau hier an der Stelle. Kennen Sie die Geschichte nicht?“ Ich zucke bei dem Wort „erschlagen“ in mich zusammen, schüttele wortlos den Kopf und sehe den Mann schräg von der Seite misstrauisch an.

Er steht mühsam auf. „Kommen Sie, lassen Sie uns diesen Ort verlassen“, fordert er mich auf, stützt sich auf seinen Stock. Wir gehen langsam nebeneinander her, während wir die Lichtung hinter uns lassen und auf den breiten Weg zurück gehen. Ich habe noch immer Kaja im Arm, die ich wie ein Schild gegen mich drücke, sie gleichzeitig beschützend. Meine Angst lässt langsam nach, in jedem Fall wäre ich schneller als er. Der alte Mann erzählt:

„Der Müller hatte gedacht, hier auf der Lichtung seine Geliebte zu treffen, stattdessen aber erwartete ihn deren Gatte. Der Müller stürmte genau wie Sie über den Pfad, erwartete, seine Schönste in die Arme nehmen zu können, stattdessen wurde ihm eins mit der Axt übergebraten.“

„Das, … das ist ja gruselig!“, stottere ich und drücke Kaja noch fester an mich, die erstaunt meinen Blick sucht. „Darum ist es hier an dieser Stelle so unheimlich!“, murmele ich. 

Der alte Mann nickt zustimmend mit dem Kopf.

„Sie sollten nicht mehr hier langgehen. Die Stelle ist verflucht.“

Er reißt seine Augen auf und sieht mich warnend mit geneigtem Kopf an. Er bleibt kurz stehen, hebt den Zeigfinger. „Denn damit war das Drama noch nicht zu Ende. Der gehörnte Ehemann lief daraufhin zu seiner Gattin, mit der er in der Villa da unten wohnte“. Er hält inne, sieht mich kurz fragend an. „Die kennen Sie sicher, die im Froschgrund. Irgendeiner hat das Anwesen jetzt wieder gekauft und renoviert es.“ 

Ich werde blass. 

„Ja, die kenne ich…“, stammele ich leise, „..und dann? Was passierte dann?“

„Er lief ins eheliche Schlafzimmer, in das er seine Frau eingesperrt hatte und erschlug sie mit dem gleichen Beil, mit dem er kurz davor ihren heimlichen Geliebten niedergestreckt hatte und an dem noch sein Blut klebte! Daraufhin flüchtete er noch in derselben Nacht, bis heute weiß keiner, wohin. Die Villa wurde immer wieder weiterverkauft, aber sie scheint genauso verflucht zu sein wie der Platz, an dem er den Liebhaber seiner Frau erschlagen hat. Das Haus brachte bisher keinem Glück, der sie erworben hat.“

Ich bleibe stehen, sehe den alten Mann wortlos an, mein Hals wird trocken. Langsam und nachdenklich lasse ich Kaja auf den Boden gleiten.