Von Ursula Kollasch

Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde.
In der Nacht beobachtete ich das Meer. Jetzt den Sonnenaufgang.
Heute wird es ein Ende haben. 

Viel Zeit ist vergangen, seit ich zu der wurde, die ich bin.
Jahre der Rache an den Falschen, der Grausamkeit, des Tötens.
Jahre der Trauer um die, die ich einst gewesen. Geächtet. Allein mit mir, dem Monstrum.

Einst war ich eine wunderschöne junge Frau, die nicht mit ihren Reizen und ihrem Charme geizte. Wie alle Mädchen wollte ich gefallen, betören, erobern und erobert werden.
Niemand Geringerer als Poseidon, der Meeresherrscher und Erderschütterer, begehrte mich.
Fasziniert von seiner Macht und seinem Auftreten gab ich seinem Werben nach.
Leichtsinnig vergnügten wir Liebenden, Gott und Meeresdämonin, uns im Tempel der Athene auf der Akropolis. Poseidon zog mich flüsternd und leise lachend an diesen heiligen Ort, wo er über mich herfiel.
Es ist bekannt, dass die unsterblichen Götter oft gedankenlos in ihrem Tun sind.
Oder wollte Poseidon die gestrenge Athene absichtlich verärgern?
War ich nichts anderes als eine Spielfigur auf dem Brett seiner kindischen Geltungssucht? Wusste er schon vor unserer frevelhaften Vereinigung, dass nicht er die Konsequenzen zu tragen hätte?
Denn ich allein machte mir die jungfräuliche Göttin zur erbitterten Feindin.
Mein Entsetzen, als sie Poseidon und mich auf dem Altar überraschte, werde ich nie vergessen. Ihre Kälte, die beherrschte Wut.
Einzig ihre Augen glühten schwarz aus dem Alabastergesicht. Vernichtend.
Kaum noch atmend sank ich vor ihr auf die Knie, wie ein Soldat vor dem Todesstoß des Feindes.
Ihr eisiges Lächeln ließ mich frösteln, ehe sie auf mich zeigte und mich verwünschte.
Mich zu diesem abscheulichen Wesen mit den Fangzähnen, der schuppigen Haut, den goldenen Flügeln und dem Schlangenhaar machte. Und mir Augen verlieh, denen man nicht ausweichen konnte, die strahlten und verführten, jedoch dem Betrachter den Tod brachten, indem sie ihn zu Stein verwandelten.
»Vermeide lieber den Blick in den Spiegel, törichtes Kind. Dein Anblick wird niemanden mehr erfreuen«, höhnte sie. »Und vergiss nie, dass du sterblich bist.«
Damit wandte sie sich ab und verschwand, gemeinsam mit Poseidon.
Mich ließen sie auf den Stufen vor dem Tempel kauernd zurück. Mit meinem Grauen allein. Ich weinte bittere Tränen, was die Schlangen auf meinem Kopf erboste, die sich zischend daran machten, mir das salzige Nass von den Wangen zu lecken.
Ich lief davon, verbarg mich vor den Blicken der Menschen, und stieß nur in meinem Innersten einen nicht enden wollenden, dunklen Schrei aus.
Ich hatte alles verloren. Meinen Liebreiz. Meine Eltern, die Meeresgottheiten Keto und Phorkys, meine Schwestern Stheno und Euryale. Meine Heimat im Meer, mein altes Leben.
Nie wieder würde ich mich unter meinesgleichen oder den Menschen bewegen können.
Die Flucht endete auf einer kargen, unbewohnten Insel. Die Nähe des Meeres wollte ich als seine Tochter nicht missen, die Einsamkeit war zuerst ein willkommener Freund.
Aber im Laufe der Zeit musste ich feststellen, dass Trauer keine Erfahrung ist, die man einmal durchmacht, um sie dann hinter sich zu lassen. In Wahrheit sucht sie dich in Wellen heim. Zwischen den Phasen der Dumpfheit, des Vergessens, brandet immer wieder der Schmerz auf und überwältigt dich wie eine reißende Woge.

Dann begann das Töten. Meine schauderhafte Verwandlung war nicht geheim geblieben.
Athene musste es Genugtuung bereitet haben, Hinweise zu streuen, die Menschen gegen mich aufzubringen und ruhmeshungrige Kämpfer auf meine Fährte zu setzen. Als Göttin wusste sie, wo ich mich befand. Den Mächtigen bleibt nichts verborgen.
Krieger bewaffneten sich, ehe sie loszogen, mich zu finden und hinzurichten.
Einen ganzen Frühling und Sommer lang hatte ich in meiner Einsamkeit verbracht. Als die Zeit der Hitze wie ein alternder Schauspieler von der Bühne abtrat, da hinter den Kulissen bereits der Herbst als Totengräber wartete, suchten sie mich das erste Mal auf.
Ich sah ihr Schiff am feurigen Horizont nahen. Hörte das Klirren ihrer Waffen, als sie von Bord strebten, vernahm den selbstgerechten Zorn in ihren tiefen Stimmen. Doch ich hörte auch die Angst, die hinter ihrem männlichen Lachen kauerte, beobachtete sie aus dem Verborgenen, hoffend, dass sie wieder abzogen.
Erst, als sie mich verhöhnten und eine hitzige Wut in mir entfachten, trat ich aus meinem Versteck. Überraschend, sodass sie ihre Blicke auf mein grauenhaftes Antlitz, meine tödlichen Augen hefteten.
In der Spanne eines Atemzugs erstarrten sie in ihren Bewegungen.
Unglauben, Staunen, Entsetzen, für die Ewigkeit in ihre Züge gemeißelt. Sie wurden zu den ersten Bewohnern meines Statuen-Parks.

Menschen sind töricht. Noch törichter als die Götter, die sie anbeten.
Die nach wie vor rachsüchtige Athene streute das Gerücht, ich bewachte einen Goldschatz. Jetzt suchten nicht mehr nur Krieger nach mir. Nein, auch Neugierige. Abenteurer. Narren. Einfache Männer. Frauen. Kinder.
Als die ersten Knaben, kaum dreizehn Sommer alt, in meine Höhle schlichen, ihr kindliches Geflüster von den Wänden und der hohen Decke widerhallte, da ergriff mich Panik.
»Geht«, zischte ich aus den Schatten. »Seht mich nicht an. Ich bringe den Tod.«
Verstanden sie mich überhaupt? Oder hörten sie nur das unheimliche Säuseln eines Ungeheuers?
Denn die Schlangen auf meinem Haupt rissen die Mäuler auf, reckten bösartig zischelnd die Hälse und spritzten ihr Gift in Richtung der Kinder.
Statt fortzulaufen blieben diese stehen. Rückten enger zusammen, spähten ängstlich nach allen Seiten.
»Verschwindet, wenn euch euer Leben lieb ist!«, fauchte ich laut, um sie zu erschrecken, zum Rückzug zu bewegen.
Sie aber begannen zu brüllen, griffen nach Steinen und bewarfen mich damit.
Von allen Seiten prasselten Geschosse auf mich ein, versetzten mir blutige Wunden.
Doch die schlimmere Pein war ihre Abscheu.
Das Unvermeidliche geschah: Ich stürzte und unsere Blicke verbanden sich. Der letzte Rest Mitgefühl in mir wehklagte lange Zeit um die vergeudeten jungen Leben. 
Oh, wie sehr wünschte ich, meinem unseligen Dasein ein Ende zu setzen. Doch wie?
Die Schlangen auf meinem Kopf gehorchen mir nicht, wüssten es zu verhindern.
Zudem trage ich ungeborenes Leben in mir. Die Vereinigungen mit Poseidon sind nicht ohne Folgen geblieben. Manchmal spüre ich Bewegungen und Tritte in meinem Leib.
Etwas Starkes, Machtvolles wächst in mir heran. Aber noch drängt es nicht ans Licht der Welt.

Ich zog weiter. Verbarg mich in der Ödnis, fernab der Menschen, aber in der Nähe des rauschenden Meeres, dessen Duft und Gesang ich brauche wie die Luft zum Atmen.
Jedoch auch hier fanden sie mich, suchten die Gefahr, das Heldentum, den vermeintlichen Schatz. Ich verschloss mein Herz, mauerte es ein in Finsternis und Kälte. Wollte kein Mitleid mehr verspüren. Die Menschen waren es nicht wert. Sie erstarrten, die Schreie auf ihren Lippen gefroren und die steinernen Körper blieben als stummes Zeugnis meiner Monstrosität zurück.
Mein altes Leben, die unbeschwerte Jugendzeit waren nur noch Schatten einer Erinnerung, aufbewahrt in einem toten Winkel meines Geistes.

Gestern Nacht dann besuchte mich das Orakel im Traum. Verhüllt in Schleier offenbarte es mir die nahe Zukunft.
Ich sah meine Mutter Keto und meine Schwestern.
Sie standen in der tosenden, erzürnten See, Wellen peitschten an ihnen hoch, brachen sich an ihren Leibern. Sie wehklagten und rauften sich das Haar. Blitz und Donner zuckten über den violettschwarzen Himmel, der Sturm riss ihre Stimmen fort, verzerrte sie.
»Flieh«, rief meine Mutter. »Athenes Zorn ist noch nicht erschöpft. Sie hat den jungen Helden Perseus gesandt, den Sohn des Zeus, dich zu vernichten. Er will dein Haupt!«
»Athene verriet ihm, wie er dich überwältigen kann«, fuhr Euryale fort. »Sie schenkte ihm einen glänzenden Bronzeschild, ihr Bruder Hermes gab eine diamantene Sichel dazu.«
»Perseus ist gut gerüstet für den Kampf!«, warnte Stheno. »Mit Hilfe von Hermes‘ Flügelschuhen wird er dein Versteck bereits morgen erreichen. Der Spiegel des Schilds wird dein Untergang sein, wenn du nicht fliehst!«
Die Gestalten und Stimmen verblassten. Als Letztes vernahm ich das Wispern meiner Mutter: »Geliebte Tochter, bald wirst du zwei mächtigen Wesen das Leben schenken, Pegasus und Chrysaor.«
Das Traumbild wurde schwarz. Das Orakel war fort.
Ich erwachte schweißgebadet unter dem Sternenhimmel, heftig atmend. Lauschte lange dem Geräusch der Brandung, es beruhigte mich. Und ich wartete.

Jetzt sehe ich ihn kommen. Mit dem festen, unbeirrbaren Gang des Helden nähert er sich meinem Felsen, bewaffnet mit den Wundergaben, das stolze Raubvogelgesicht zur Sonne emporgereckt.
»Perseus, Sohn des Zeus!«, rufe ich.
Er verharrt nur einen Moment, ehe er unerbittlich weiterschreitet, der Richtung meines gezischten Grußes folgt.
»Zeige dich, Ungeheuer!«
Fest umklammert er den Griff der Sichel, den Blick in den Spiegelschild gerichtet.
Gelähmt vom Gespenst meines eigenen Verlusts habe ich Mühe, Worte zu finden.
»Richte mich. Ich bin müde, werde mich nicht wehren, meine tödlichen Augen von dir abwenden. Aber versprich mir, bei deiner Ehre, Poseidons und meine ungeborenen Kinder zu verschonen und meinen Leib dem Meer zu übergeben.«
In Perseus‘ Gesicht zuckt es, Verwirrung flackert darin auf, dann Erkenntnis, ehe seine Züge wieder hart werden. Angesichts meiner Worte verfinstert sich seine Miene noch mehr.
Er will den Kampf, meinen Widerstand. Mein Ergeben erzürnt ihn.
Und ich erkenne, was er ist: Unter der Maske des strahlenden Helden, unter der dünnen halbmenschlichen Haut, lauert ein eiskaltes Reptil. Vielleicht ein grausameres als ich es bin.
In seinen Augen brennt der Hass. All das erspähe ich in seinem Spiegelschild, als er sich mir vorsichtig, voller Misstrauen nähert.
»So sei es. Und jetzt wird dein Kopf rollen, elendes Scheusal!«, brüllt er.
Ein letztes Mal atme ich durch, schließe meine Lider.
Beende es, Sohn des Zeus, schenke mir Frieden.  

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