Von Christopher Jahn
Sie wurde heftig angerempelt. Der Kaffee in ihrer Hand war glücklicherweise noch in dem Becher, normalerweise bekleckerte sie sich ständig. Sina hastete über die Straße, genau in dem Augenblick da die Ampel von gelb zu rot wechselte hupte ein wartendes Auto und erschrocken stolpert die junge Frau auf den Gehweg. Im Laufschritt nahm sie einige viel zu große Schlucke aus ihrem Kaffeebecher und verbrannte sich den Mund, aber eilte dennoch so flink wie sonst auch die Treppen zur U-Bahn-Station hinunter.
Heute sollte ein guter Tag werden, denn es war ihr Geburtstag. Als Sina ans Gleis trat sah sie, wie ihr Zug davonfuhr. Leise fluchte sie in sich hinein. Die nächste Bahn würde nach fünf Minuten auf den Bahnsteig zurattern, wenn sie sich dann spurtete und alles reibungslos lief, würde sie es noch rechtzeitig schaffen.
Als sie in den letzten Wagon stieg, stolperte sie erneut und spürte, wie sich einer ihrer Absätze verabschiedete. „So ein Mist“, fluchte sie und betrachtete ihren beschädigten Schuh. Die Schuhe waren ein Geschenk an sich selbst gewesen. Sie hatte sie im Laden gesehen und konnte nicht umhin sie mitzunehmen – allerdings waren sie jetzt hinüber.
Von der Endstation der Bahn musste sie zwei Blocks zu Fuß bewältigen, weil die Busse nicht fuhren, für die junge Frau war das jedoch nichts Neues. Als sie in die Vorhalle ihrer Arbeitsstätte trat, bemerkt sie, wie auf einmal Platzregen einsetzte. Ein Schmunzeln stahl sich auf ihre Lippen denn draußen regnete es und sie war im Trockenen. Nun aber schnell, sie kam schon einige Minuten zu spät, zum Glück traf ihr Chef nie ganz pünktlich ein. Doch kaum hatte sich Sina hingesetzten, kam ihr Vorgesetzter auf sie zu. „Setzten Sie sich gar nicht erst hin, kommen Sie bitte in mein Arbeitszimmer“, sagte er in ernstem Ton und marschierte zu dem größten Raum am Ende des Flures, auf dessen Tür in dicken Lettern sein Namenszug prangte.
Wackelig und unsicher ging sie hinter ihm her. Ihre Gedanken rasten denn sie wusste nicht, warum er mit ihr reden wollte.
„Setzten Sie sich“, sagte er und Sina schreckte aus ihren Gedanken. „Sie können sich bestimmt denken, was ich von Ihnen möchte.“
Sie sagte nichts und regt sich keinen Millimeter.
„Ihre Arbeit ist gut und es fällt mir schwer das zu sagen… Es wird immer schwerer für uns, gute Aufträge zu bekommen…“ Langsam ließ er sich auf seinen Drehstuhl sinken. „Was ich Ihnen sagen muss…“ Er rieb sich an der Stirn und blickte sie an. „… ich kann Sie nicht weiter unterhalten und da Sie noch in der Probezeit sind, möchte ich Sie bitten uns zu verlassen. Uns gehen die finanziellen Mittel aus…“
Sina hörte schon nicht mehr zu. Eine Kündigung? Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Ausgerechnet an ihrem Geburtstag. Als ihr Chef aufstand, um sie zu verabschieden blickte sie verwirrt auf, nahm seine Hand und ging aus seinem Arbeitszimmer. Ein Karton für die wenigen Habseligkeiten stand schon auf ihrem Arbeitsplatz bereit. Trübselig packte sie alles ein. Bei dem letzten Gegenstand, einem Bild von ihrer allerersten Katze, hielt sie inne und eine Träne lief ihr über die Wange. Mit verschwommenem Blick legte Sina das Bild in den Karton und stieß dabei ihren immer noch dampfenden Kaffee vom Tisch. Er landete auf ihrem Rock und der hellen Bluse. Erschrocken sprang sie auf und stieß einen lauten Schrei aus, woraufhin sich von überall her Augen auf sie richteten. Schnell setzte sie sich auf den Stuhl, um den Blicken zu entkommen und versuchte mit einem Tuch den Kaffee von ihrer Kleidung zu tupfen, jedoch vergebens.
Niedergeschlagen ging sie in die Eingangshalle und sah durch die großen Glasfassaden, dass es draußen unablässig in Strömen goss. Die Empfangsdame sah sie mitleidig an. „Viel Glück“, sagte sie leise. Sina erwiderte nichts und ging hinaus in den Regen. Als sie an der U-Bahn-Station ankam war sie durchnässt, doch das passte zu ihrer Stimmung.
Zwei Stationen vor ihrer Haltestelle stieg sie aus. Mit ihrem Karton im Arm ging sie die Straße hinunter. Ihre Schuhe hatte sie schon ausgezogen, denn laufen konnte sie mit dem abgebrochenen Absatz ohnehin nicht.
Als sie ein Café entdeckt hatte, in dem nicht viel los zu sein schien, fuhr ein Lastwagen an ihr vorbei und die Wasserlache, die sich auf der Straße befand, wurde auf Sina gespritzt. Resigniert starrte sie an sich herunter. Schließlich zuckte sie mit den Schultern und betrat das Café. Kaum war sie durch die Tür getreten, kam ein Mann auf sie zu und bat sie sehr höflich das Café wieder zu verlassen, da sie die Teppiche und die gepolsterten Möbel mit dem Wasser aus ihrer Kleidung ruinieren würde. So ging die junge Frau mit hängenden Schultern zurück in den Regen.
Der nasse Asphalt fühlte sich kalt und rutschig unter ihren nackten Füßen an. Keine Menschen waren zu sehen, bis auf einen Mann, der sich in schnellem Tempo näherte. Rasch wechselte sie die Straßenseite, und bemerkte, wie ihr etwas aus dem Karton fiel, doch sie hastete weiter.
Nicht mehr weit und sie war an ihrer kleinen Wohnung und konnte diesen grausamen Tag verarbeiten. Am Himmel zogen noch dunklere Wolken auf und Sina rannte die letzten Meter, denn von kaltem Wasser hatte sie endgültig genug.
In ihrem trauten Heim angekommen, wurde sie von ihrer Katze begrüßt, die schnurrend um ihre Beine wuselte, doch Sina war nicht nach Schmusen zumute. Ein heißes Bad würde ihr helfen und sie aufwärmen. Ihrer feuchten Sachen entledigt, betrat sie das wohlig warme Badezimmer und ließ dampfendes Wasser in die Wanne fließen. Ihre Katze hatte sich leise schnurrend in eines ihrer Handtücher gerollt. Sinas blick fiel auf das Bild ihr gegenüber. Oft hatte sie es angesehen, wenn es ihr nicht gut ergangen war, denn es erinnerte sie an eine schönere Zeit. An die Zeit mit ihrem Mann. Das Bild zeigte sie beide in ihren Flitterwochen, Arm in Arm, sich liebend und küssend. Nach einem heftigen Streit jedoch war alles vorbei. Wegen einer Nichtigkeit hatte die Ehefrau ihren Mann angeschrien und sich schließlich von ihm getrennt. Aber die Einsamkeit brachte nicht den gewünschten Effekt, sie machte alles nur noch schlimmer. Kaum hatte sie den Ort gewechselt, fand sie keine Arbeit mehr und ihre Freunde waren zu weit entfernt. Grob gesagt: Sinas Leben lag in Trümmern.
Das Merkwürdigste war, je länger die junge Frau ihren Mann nicht mehr sah, desto trauriger wurde sie und ihre Sehnsucht nach ihm wuchs stetig. Sie wünschte sich sehnlichst, dass er sie wieder in seine Arme schließen würde… Das würde allerdings nicht mehr geschehen. Sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihn nie mehr wiedersehen wollte – was für ein Fehler!
Es klopfte an der Tür und erschrocken fuhr Sina aus ihren Gedanken. Schnell hatte sie einen Bademantel angezogen und war zur Tür geeilt. Sie öffnete und stand ihrem Mann gegenüber, er hatte das Bild von ihrer allerersten Katze in der Hand. Es musste ihr aus dem Karton gefallen sein, als sie hastig die Straßenseite gewechselt hatte.
Wie erstarrt standen sie sich gegenüber, dann sagte ihr Mann: „Alles Gute zum Geburts…“, doch Sina ließ in nicht aussprechen und schlag ihre Arme um ihn.