Von Ursula Riedinger

Als ihre Chefin das Büro betrat, verstummten die Gepräche unmittelbar. Alle konzentrierten sich auf ihre Arbeit. Wen würde sie heute herauswinken und in ihrem Büro zur Schnecke machen?

Abigail hatte ein Lächeln aufgesetzt und blickte mit ihren kalten blauen Augen in die Runde.

«Na, wie geht es euch?»

Niemand sagte einen Ton.

«Hast du die Statistik bald fertig, Helen?»

Hélène hasste es, wenn die Chefin sie auf Englisch Helen nannte.

«So wie du sie verlangt hast, werde ich ziemlich viel Zeit dafür brauchen. Ich arbeite schon seit Montag daran.»

«Ok, dann halt bis morgen, ich komme morgen früh wieder vorbei.»

Hélène wusste, dass sie es bis dann nicht schaffen konnte. Aber diskutieren konnte man mit Abigail nicht. Hier lief alles nach deren Wünschen. Sie nannten sie die Queen. Es würde der Queen nichts übrig bleiben, als zu warten, bis Hélène fertig war. SIE, Hélène, war die Buchhalterin und konnte mit Zahlen jonglieren. Es war klar, dass Abigail SIE brauchte.

«Wie geht es mit der neuen Kampagne vorwärts, Morena?»

Morena nahm sich zusammen und setzte ein Lächeln auf. Jeder konnte sehen, wie schwer es ihr fiel.

«Wunderbar, ich habe ein tolles Konzept ausgearbeitet.»

«Kommst du morgen um 8.00 bei mir vorbei?»

«Morgen …, morgen habe ich einen Arzttermin, bin erst um 9.30 im Büro.»

Die Hexe wusste doch ganz genau, dass sie nicht so früh im Büro war. Sie gehörte zu den Kreativen, die erst später munter wurden, dafür abends erst richtig in Schwung kamen. Zudem musste Sie immer zuerst Nina in den Kindergarten bringen.

«Also, dann, melde dich, sobald du hier bist. Und du Fabian, könntest du gleich mal mit in mein Büro kommen?»

Fabian stand langsam auf, warf den beiden Frauen beim Hinausgehen einen vielsagenden Blick zu.

Heute hatte es also Fabian getroffen.

Morena zog ihre dunklen Augenbrauen hoch.

«Was will sie jetzt von ihm? Er muss doch noch die Texte für die Kampagne überarbeiten.»

Hélène klapperte weiter auf ihrer Tastatur, warf aber nebenbei Morena einen Blick zu.

«Sie findet ja immer etwas, auch am perfekten Fabian. So macht das hier einfach keinen Spass mehr. Ich schlafe oft schlecht. Und fühl mal meine Hände.»

Sie stand kurz auf und legte ihre Hand auf Morenas Arm. Eiskalt.

«Madonna, deine Hände, das ist ja furchtbar. Du Arme. Dabei seid ihr beiden so zuverlässig bei eurer Arbeit. Was will sie denn noch mehr? Und sie braucht euch, sie braucht uns alle.»

«Sie will einfach alles und alle in ihrem eisigen Griff haben.»

«Schon klar, aber mich hat sie am meisten auf dem Kieker. Ich bin ihr zu spontan und impulsiv. Das mag sie gar nicht.»

Morena stand auf.

«Ich hol uns einen Kaffee, dann wird uns wieder wärmer. Magst du?»

Eine Stunde später erschien Fabian mit bleichem Gesicht wieder im Büro.

Hélène und Morena sahen ihn erwartungsvoll an.

«Sie spinnt, Sie erwartet, dass ich den Geschäftsbericht bis Ende Woche fertigstelle. Dabei fehlt noch die Hälfte des Materials. Aber heute mache ich keine Überstunden, ich muss Linda in der Krippe abholen.»

Seit Abigail Robinson, die Queen, die Abteilung übernommen hatte, war nichts, wie es mal war. Die Stimmung in der Abteilung war im Keller. Leute waren entlassen worden.

Untereinander hatten sie es ja gut und munterten sie gegenseitig auf, so gut es ging. Aber der sinnlose Druck, den die Queen auf sie alle ausübte, zeigte sein Folgen. Die fröhliche Morena, die sie immer wieder aufgestellt hatte mit lustigen Ideen und Geschichten, war oft unkonzentriert, unwirsch. Hélène, die feine Hélène, die eine Engelsgeduld hatte, war nervös und hatte kaum mehr Zeit für ein Gespräch. Von Fabian wussten sie nicht viel, nahmen aber an, dass er sich nach etwas Anderem umsah. Aber er war alleinerziehender Vater, dadurch waren seine Möglichkeiten eingeschränkt.

«Du solltest auch Schluss machen für heute, Hélène. Geh nach Hause und koch dir etwas Warmes. Die Fenster hier sind schon voller Eisblumen.»

«Ich mache noch ein wenig weiter.»

«Wenn du meinst, ich jedenfalls gehe nach Hause und koche für mich und Nina feine Spaghetti mit Sugo. Das mag meine Kleine besonders gern.»

Das war Morenas Rezept, um ihre gute Laune wieder zu finden. Ein Abend mit Nina, ein Teller Pasta und ein Glas Wein für sie. Danach zusammengekuschelt auf dem Sofa noch etwas im Fernsehen schauen. Wie Hélène lebte, davon hatten sie keine Ahnung. Sie sprach nie von einem Freund oder so.

Als Fabian am nächsten Morgen um 8 Uhr das Büro betrat, war alles noch dunkel. Im Büro der Queen brannte ebenfalls noch kein Licht, was aussergewöhnlich war. Die Queen begann jeden Tag um 7.30 Uhr und verliess das Büro abends um 18.00 Uhr. Ebenso überraschend war, dass Hélène noch nicht an ihrem Pult sass.

Fabian loggte sich ein, las seine E-Mails und begann, konzentriert am Geschäftsbericht weiterzuarbeiten. Noch fehlten drei Berichte von anderen Abteilungen. Er hatte sie bereits drei Mal gemahnt. Ganz alleine im Büro zu arbeiten war zwar schön, da man konzentriert arbeiten konnte, aber langsam begann er sich nach Gesellschaft zu sehnen. Es war ihm auch etwas kalt. Vielleicht war Hélène krank geworden. Sie war immer so bleich, hatte so viel Stress.

Um 9.40 Uhr traf Morena ein.

«Bist du ganz allein? Wo ist denn Hélène? Und die Queen ist auch noch nicht da. Was ist denn passiert?»

«Ist mir auch schon aufgefallen. Abigail habe ich bis jetzt nicht vermisst. Es ist viel wärmer hier drinnen, wenn sie nicht in der Nähe ist.»

Sie arbeiteten beide weiter, aber hielten doch immer wieder Ausschau.

An der Kaffeemaschine traf Morena Paul, den Medienchef, der sein Büro gegenüber hatte.

«Hast du etwas von Abigail gehört.» Morena fragte ganz unschuldig, obwohl sie wusste, dass die Queen auch in der Medienabteilung keinen guten Ruf hatte.»

«Nein, habe sie noch nicht vermisst.»

Morena stand gerade kurz am Fenster und trank einen Kaffee.  

Zwei Polizeiautos hielten direkt vor ihrem Bürogebäude. Kurz darauf meldete Lucia vom Empfang, dass Kommissar Jürg Meier mit ein paar Leuten hier sei und mit den Mitarbeitern von Frau Robinson sprechen wollten.

Morena wurde bleich.

«Die Polizei ist hier und will mit uns sprechen. Es ist etwas passiert. Mit Hélène oder Abigail.»

Sie boten Kommissar Meier und seinen beiden Kollegen Platz im Sitzungszimmer an und offerierten einen Kaffee. Meier winkte ab.

«Kriminalpolizei. Kommissar Jürg Meier. Und hier Leutnant Matthias Kummer und Adjutant Roger Schmid. Kommen wir gleich zur Sache. Wissen Sie sich wo Abigail Robinson gerade aufhält?»

Morena holte tief Atem.

«Wir wissen es leider nicht, wir haben sie auch schon vermisst. Normalerweise ist sie um 7.30 im Büro.»

«Haben Sie sie denn zuhause angerufen?»

«Äh, wissen Sie, so sehr vermissen wir sie auch wieder nicht, wenn sie nicht hier ist. Aber es ist aussergewöhnlich, dass sie um diese Zeit noch nicht hier ist. Wir sollten heute Morgen mit ihr auch Arbeiten besprechen … »

«Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen?»

Fabian zögerte. Aber sie würden es nicht verheimlichen können, dass Hélène auch noch nicht hier war.

«Unsere Kollegin, Hélène Froidevaux, fehlt ebenfalls, wir machen uns deshalb etwas Sorgen um sie. Aber vielleicht ist sie ja krank, es ging ihr in letzter Zeit nicht gut.»

«Aha, also ihre Bürokollegin fehlt auch. Wo wohnt sie denn?»

«Keine Ahnung, irgendwo in Albisrieden, da müssten sie in der HR-Abteilung nachfragen.»

Roger Schmid begab sich unverzüglich dorthin.

«Aber wieso sind Sie überhaupt hier?» Eine logische Frage.

Kommissar Meiers Miene war ernst.

«Frau Robinson ist tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Sie bleiben alle erstmal hier, damit wir mit allen einzeln sprechen können. Das Gebäude wird abgesperrt.»

Fabian und Morena sahen sich entsetzt an. Die Queen tot?

Nachdem Kommissar Meier mit allen Mitarbeitenden kurze Einzelgespräche geführt hatte, kam er wieder zurück zu Morena und Fabian. Beide sahen ihn fragend an.

Ich habe vorhin einen Anruf erhalten von der Spezialeinheit.

«Frau Froidevaux wurde in ihrer Wohnung festgenommen. Sie lag zusammengekrümmt auf dem Sofa und zitterte vor Kälte, obwohl die Wohnung geheizt und sie einen Berg von Decken über sich gelegt hatte.»

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