Von Bernd Kleber

Das Papier ist so abgegriffen, dass es schon klebt. Die Seiten haben dunkle Flecken, Eselsohren und einige Blattkanten sind dünn wie Seidenpapier, man kann durch das fettgetränkte Papier hindurchsehen. Das liegt nicht an meiner ungepflegten Art, wie man annehmen könnte. Nein, ich blättere jeden Tag darin, vor, zurück, vor, zurück. Weil, ich kann selbst kaum glauben, was ich aufgeschrieben habe, was ich ergänze, was ich hinzufüge, ja, was ich erlebt habe. Jeden Tag fällt mir mehr ein und ich muss lückenlos alles aufzeichnen. Und ich kann nur schreiben, wenn ich alleine hier in meinem Zimmer bin. Eine Zelle im Revier? Manchmal lauert es auch hier in der Ecke, so wie am ersten Tag.

 

***

 

Es begann an einem kalten Novembermorgen. Das Wetter war so grau, der Himmel so verschleiert, dass man hätte annehmen können, die Sonne hatte sich unter ihrem Federbett verkrochen, werde heute nicht aufstehen. Ich drehte mich auf den Rücken und versuchte, meinen Blick zu fokussieren. An manchen Tagen gelang es mir, etwas ohne Sehhilfe zu erkennen. Ich schrak hoch. Über mir an der Decke war ein riesiger schwarzer Fleck. Schnell tastete ich nach meiner Brille auf dem Schränkchen neben dem Bett, nein, kein Nachtschrank, es ist so eine Art Kommode. Darin bewahre ich alle Schätze auf, die nicht unter die Matratze passen, von dort drücken würden oder meinem Gewicht nicht standhalten könnten. Meine Hand flatterte wie eine angeschossene Ente über den Schrank, schlug gegen die Brille, statt sie zu greifen und nun flog die dafür durch den Raum, segelte ein Stück und landete mit einem leisen Klack auf den Dielen. Ich drehte mich ruckartig herum, beugte mich nach vorn. Meine Beine waren nun noch im warmen Bett unter der Bettdecke. Meine Hände hangelten sich vorwärts, stützten abwechselnd meinen Oberkörper ab, dass ich nicht auf den Boden krachte. Dann hatte ich die flüchtigen Augengläser erreicht und griff blitzartig zu, hangelte zurück, setzte mich senkrecht und das Gestell auf meine Nase. Sah hoch zur Decke.

„Nein, oh nein, was ist das? Ekelhaft auf alle Fälle! Richtig fies!“

Sprang, nun endgültig wach, aus dem Bett und lief zur Zimmertür, immer rückwärts, das schwarze Gebilde nicht aus den Augen lassend. Das war eindeutig etwas, was gestern noch nicht hier war.

Es waberte, veränderte seine Form, zog sich zusammen und ruckte auseinander, fast die ganze Zimmerbedachung bedeckend. Mein Rücken hatte nun die Klinke im Griff, also eigentlich ich den Rücken, der sich gegen die Klinke drückte. Und meinen Mund konnte ich nicht schließen, sah durch meine verschmierten Brillengläser, überlegte kurz, ob ich sie putzen solle und ließ diesen schaukelnden Fleck nicht aus den Augen.

Kurz blickte ich nach unten zu den Latschen, dann wieder hoch. Da fiel dieses Dunkel wie eine geworfene Pferdedecke, oder ein Fischernetz, über meinen Kopf. Alles verdunkelte sich und ich kippte rücklings um. Ich war gefangen im Kampfnetz eines Retiarius, zappelnder Gladiator. Mir schwanden die Sinne.

Nach einiger Zeit wurde ich wieder wach, versuchte meine Augen zu öffnen. Die waren allerdings so zu, verklebt, wie mir schien, dass ich zerrte und unweigerlich an übertriebene Zeichentricksequenzen dachte, wenn müde Kater ihre Augenlider nicht mehr heben konnten. Ich nahm einen Finger zur Hilfe und schob das Lid aufwärts. Es zog und ziepte, bis es plopp machte und mein Auge sich öffnete, genauso verfuhr ich mit dem anderen Auge.

Hatte ich erwähnt, dass ich in einer Wohngemeinschaft lebte? Ich musste sofort zu meinen Mitbewohnern und ihnen mitteilen, was geschehen war. Es würde nicht nur unglaublich klingen, nein, es war unglaublich. Der Fleck jedenfalls war nicht mehr zu sehen.

Ich ging zum Nachbarzimmer, klopfte an. Wartete. Nichts! Klopfte erneut. Dann drückte ich die Klinke. Die Tür gab nach und machte mir Platz. Ich schritt hinein. Mein Mitbewohner lag in seinem Bett. Ich ging auf ihn zu, rief: „Hallo! Muji!“ Keine Reaktion! Ich rüttelte sanft seine Schultern, da rutschte sein Arm aus dem Bett, fiel hinab und hing schlaff am Schultergelenk, sein Kopf klappte zur Seite. Die Augen schreckgeweitet, der Mund offen, die Kehle blutete. Das Laken auf der Seite hinter dem Kopf war rot gefärbt. Ich schrie, stolperte rückwärts, fiel, stand halb auf, stolperte wieder und fiel erneut. Erhob mich und lief aus dem Zimmer.

Ich rief über den Flur: „Karlos, Karlos, komm schnell, Muji ist tot, Hilfe, Hilfe!“, oder so ähnlich. Glaube ich. Muss ich doch, oder?

Niemand rührte sich. Sie können sich denken, was ich da dachte und es ist ja auch irgendwie logisch. Ja, Sie haben Recht. Ich ging also zu Karlos Zimmer, die Tür war nur angelehnt. Ich schob mit der Zeigefingerspitze langsam die Tür auf. Sie quietschte wie in einem dieser Filme aus den Sechzigern, in denen immer eine Männerstimme den Namen des Autors ruft, den ich jetzt vergessen habe. Irgendwie so „Hier spricht Dingens Dingsbums!“ Sie ahnen sicher, was ich meine. Die quietschende Film-Zimmertür gab den Blick in den Raum frei. Mehr und mehr wurde sichtbar. Irgendwie alles schwarz-weiß oder meine Nerven beanspruchten jetzt so viel Energie, dass es für eine Auflösung in Farbe an meinem Sehnerv und den dazugehörigen Synapsen nicht mehr reichte. Ich atmete auch gar nicht, was mir erst auffiel, als mir schwindelig wurde. 

Ich blickte also in dieses Schwarz-Weiß-Loch. Nichts!

Dann sprang es mich an. Direkt ins Gesicht. Es schrie wie eine Kreissäge klingt, wenn sie einen harten Ast erwischt. Fauchte! Kratzte meine Wange. 

Die Katze von Karlos!

Karlos war nicht im Raum. Ich torkelte ins Bad, hielt mir die Wange, die wie mit einem Brenneisen verglüht, brannte. Keine Ahnung, wieso Brenneisen, ich bin ja kein Pferd, es war jedenfalls krass!

Im Bad angekommen, blickte ich in ein kohlrabenschwarzes Gesicht und schlug zu, mit der Faust, ja … ich kannte ja den schwarzhäutigen Mann nicht. Und fühlte, es war mein Antlitz und außerdem, dass ich nun den Spiegel in viele Scherben zertrümmert hatte. Meine Fingerknöchel rivalisierten mit der Wange um den Preis des heftigsten Schmerzes. Ich jammerte, so etwas wie „Nein, nein, das kann doch alles nicht sein, was ist denn hier los? Warum bin ich schwarz wie ein Kohlenmann?“, obwohl ich noch nie einen gesehen hatte. Oder wie ein Schornsteinfeger? Und warum brennt nun alles an meinem Körper, oder so ähnlich dachte ich jedenfalls. Man glaubt sowas doch nicht, oder?

Ich ging in die Küche und riss die Schubladen auf, nach Pflaster und Jod oder Sepsotinktur suchend.

Die Schubfächer fielen krachend zu Boden. Warum hatten wir so alte Schränke, dass es keine Sperren an den Zargen gab, sie komplett herauszuziehen? Aber egal!

Ich fand dann ein fleckiges unverpacktes Pflaster, zerschnitt es mühselig mit einem Messer längst in zwei Teile und klebte eines auf die Wange und das andere auf die Fingerknochen. Beide Wunden waren nicht mal halb bedeckt. Im Stillen fluchte ich so etwas wie „Scheiße!“ und „Mist!“ und „Gottverdammte Kacke!“, mahnte mich aber auch zur Konzentration. In der Ruhe liegt die Kraft. Ist doch aber ärgerlich, oder?

Dann setzte ich mich auf den Küchenboden, spürte unter mir einen Korkenzieher. Als ich mich reflexartig erheben wollte, rollte sein Griff wie eine Walze derart, dass die Spitze der Spirale sich in mich bohrte. Das führte zu einer Fleischwunde im Gesäß. Ich kniete nun jammernd. Nach Pflaster, brauchte ich ja nun nicht mehr zu suchen! Ich fluchte wieder.

Dann hörte ich ein Knacken in der Wohnungstür. Einen Schlüssel? Karlos? 

Herein in die Küche, ich hatte mich noch nicht erhoben, kam eine grüne Gestalt. Mit fiesem Lachen stürzte das Wesen sich auf mich und seine riesigen Hände wollten meinen Hals umfassen. 

Ich hielt ja noch den Korkenzieher in der Hand, und ja, Sie ahnen es. Damit verteidigte ich mich heldenhaft. 

Ich stach als Erstes dem Monster in die Augen!
Nun konnte es nichts mehr sehen und brüllte wie ein Elefant. Ja, Elefanten können brüllen, was denken Sie denn? Dann sprang das Monstrum hin und her, ich war aufgestanden und umrundete es. Ich hüpfte dem grünen Vieh auf den Rücken und stach mit dem Korkenzieher, der sich dazu hervorragend eignete, immer wieder in den Kopf, aus dem grüne schleimige Fontänen spritzten und die gesamte Küche besudelten. Leider auch mein Gesicht, gegen den Teil meiner unverbundenen Wange auch, was wiederum höllisch brannte. Ich nehme an, diese grüne Flüssigkeit des Monsters war so etwas wie Säure, jedenfalls sehr ätzend.

Ich stach so lange in den Kopf, bis das Monster umstürzte und ich mit ihm. Dabei fiel das Ungetüm so ungeschickt auf mich, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Und letztendlich, als grüner Schleim in meine entsetzt geöffnete Mundhöhle lief, ich ohnmächtig wurde.

Als ich wieder zu mir kam, waren Rettungssanitäter und Polizisten über mir. Man gab mir eine Spritze zur Beruhigung und wickelte mich in ein Leinentuch, dass praktischer Weise auch Ärmel besaß. Ich war gut verarztet, konnte mich nicht mehr bewegen. 

Das Untier sah jetzt fieser Weise aus wie Karlos. Was für ein Scheiß! Sicher nur ein Täuschungsmanöver des Ungetüms und ich rief den anderen zu: „Passen Sie auf, das Monster tarnt sich und wenn es spritzt, ist es gefährliche Säure, die tierisch schmerzt!“. Dann verlor ich erneut mein Bewusstsein.

Ich werde nun jeden Tag dazu befragt, was geschehen sei. Dieser jetzige Volltrottel von einem Polizisten trägt einen weißen Kittel, als wolle er sich nicht schmutzig machen. Er glaubt mir jedoch kein Wort und spricht immer davon, der Wahrheit und Realität ins Auge zu sehen, fragt immer wieder, wer meine Mitbewohner umgebracht hat. Idiot der! Habe ihm doch alles erzählt. Ich blättere in meinem Heft und lese ihm einiges vor. Aber nicht alles!

Das Oktavheft ist so vollgeschrieben, ich musste vieles abkürzen. H.f.m.e.,d.i.R.e.S.l.,a.i.w.w. (Heute fiel mir ein, dass im Radio ein Schlager lief, als ich wach wurde). 

Vielleicht ist das wichtig? Naja, die hier haben jedenfalls keine Ahnung, was da auf uns zukommt.

 

V3/9951