Von Ute Gille

Sommer, Sonne, Sandstrand und Sophie in seinen Armen. Thomas ist wunschlos glücklich. Seine Mutter hatte Recht gehabt: Ein paar Wochen Urlaub sind genau das Richtige, um ihn vom Examensstress abzulenken. Doch dann hört er eine Stimme, sieht ein Gesicht, und nichts ist mehr wie vorher.

 

„Starr nicht so, Thomas“, flüstert Sophie und stupst ihn in die Seite. „Was ist denn los mit dir? Du siehst aus, als ob du einen Geist gesehen hättest!“

 

Wie versteinert sitzt Thomas da, und es fällt ihm schwer, seinen Blick von dem Mann abzuwenden. Dem Mann mit dem kantigen Gesicht und den buschigen Augenbrauen. Der Anblick hatte ihm schon als Kind Angst gemacht. Denn dieser Mann gleicht seinem Vater aufs Haar. Sogar die Stimme klingt wie die seines Vaters. Nur dass er Russisch spricht. Also muss die Ähnlichkeit ein Zufall sein, eine Laune der Natur. Entschlossen schüttelt Thomas den Kopf und wendet sich seiner Freundin zu.

 

„Ich geh mich abkühlen – kommst du mit?“

 

„Aber klar!“, lacht Sophie und springt auf.

 

Sie rennt davon, er hinterher. Wie ausgelassene Kinder plantschen sie im Wasser herum, und die Welt ist wieder in Ordnung.

 

Doch die seltsame Begegnung lässt Thomas keine Ruhe. Das Gesicht des Russen – oder seines Vaters? – erscheint immer wieder vor seinem geistigen Auge. War es wirklich nur ein Zufall? Seinen Vater kann er nicht mehr fragen, der ist schon lange tot. Gestorben bei einem Autounfall, als er fünf war. Er würde ihn auch nicht fragen, wenn er noch am Leben wäre, denn er hatte immer furchtbare Angst vor ihm. Mit seiner Mutter dagegen kann er über alles reden, wie mit einer großen Schwester. Ob es daran liegt, dass sie nur neunzehn Jahre älter ist als er?

 

„Sag mal, Mam – haben wir Verwandtschaft in Russland?“

 

„In Russland?“ Helga runzelt die Stirn. „Nicht dass ich wüsste. Warum fragst du?“

 

Thomas erzählt von seinem Urlaubserlebnis. Von dem Mann, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist.

 

„Nichts ist unmöglich“, lächelt Helga. „Dein Vater stammt immerhin aus Ostpreußen… Vielleicht hast du da einen entfernten Verwandten getroffen. Hast du ihn angesprochen?“

 

„Natürlich nicht!“ Abwehrend hebt Thomas die Hände. „Es kam mir zu komisch vor. Aber es hat mich neugierig gemacht.“

 

„Kann ich verstehen“, erklärt Helga und schenkt Kaffee nach. „Und was hast du jetzt vor?“

 

„Keine Ahnung.“ Thomas zuckt mit den Schultern. „Was weißt du über Papas Familie?“

 

„Nicht viel. Sie lebten in einem Dorf irgendwo im heutigen Polen. Dein Großvater wurde kurz nach Weihnachten 1944 eingezogen. Gottseidank hatte deine Oma eine Familie, die sich um sie und dann auch um Egon gekümmert hat, bis ihr Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurück kam. Als die Großmächte dann Deutschland unter sich aufteilten, packten deine Großeltern ihre Sachen und zogen Richtung Westen. Auf der Reise ist Egons kleiner Bruder umgekommen. Er hat die Strapazen nicht durchgehalten.“

 

„Ob Papa deshalb immer so schlecht gelaunt war?“, überlegt Thomas.

 

Seine Mutter schüttelt den Kopf. „Er war nicht immer schlecht gelaunt…“

 

„Aber er hat mich nicht gemocht“, bricht es aus Thomas heraus.

 

Die Augen seiner Mutter werden feucht, und sie schluckt. Doch sie fasst sich schnell wieder. „Er hatte eine tiefe Stimme und einen dunklen Teint. Als Baby hast du geschrien, wenn er dir zu nahe kam.“ Jetzt lacht sie. „Aber er hat dich in seinen Armen gehalten. Und du hast gejauchzt, wenn er dich in die Luft warf und wieder auffing.“

 

„Echt?“

 

Thomas kann es kaum glauben, doch seine Mutter nickt.

 

„Echt. Und denk an die Ferien am Bodensee. Da hattet ihr doch viel Spaß miteinander.“

 

An diese Ferien kann Thomas sich nur vage erinnern. Aber seine Mutter hat ihm Fotos gezeigt und ihm so oft davon erzählt, dass sich ihre und seine Erinnerungen vermischt haben.

 

Damals hatte sein Vater den nagelneuen Ford Taunus vollgepackt, und sie fuhren auf der Autobahn Richtung Süden. Es war so heiß, dass der Asphalt in der Luft flimmerte. Thomas drückte sich die Nase am Seitenfenster platt und versuchte, die Autokennzeichen der vorbeifahrenden Wagen zu lesen. Er war erst viereinhalb, aber einige Kennzeichen kannte er schon. „K für Köln“, rief er stolz. Und sein Vater lachte. Ja, tatsächlich, er lachte. Das hatte Thomas ganz vergessen. Ein paar Monate später geschah der Unfall.  

 

„Alles in Ordnung?“, hört er seine Mutter wie durch eine Wolke fragen. Sanft streichelt sie seinen Arm und holt ihn so in die Gegenwart zurück.

 

„Du hast Recht“, murmelt Thomas. „Er konnte auch fröhlich sein.“

 

Zufrieden lächelt Helga. „Ich muss kurz weg“, sagt sie mit einem Blick auf die Uhr. „Bin in ein paar Stunden zurück. Wir können ja später weiterreden, wenn du magst.“

 

Thomas nickt und greift nach einer Scheibe Schwarzbrot. Geistesabwesend schmiert er Butter darauf und belegt sie mit Schinken. Seine Gedanken wandern zum Bodensee, zu dem Vater, der ihm das Schwimmen beibrachte und der am Strand mit ihm Fußball spielte. Und langsam reift in ihm eine Idee.

 

Ob die Sachen seines Vaters noch auf dem Speicher sind? Als Thomas das letzte Mal dort oben war, wurde seine Mutter furchtbar wütend, als sie ihn erwischte. Vermutlich waren die Erinnerungen noch zu schmerzhaft gewesen. Aber das ist über zehn Jahre her. Heute würde es ihr sicher nichts mehr ausmachen. Ob er dort etwas über eine „russische Verbindung“ finden könnte?

 

In einem Zug leert Thomas seine Kaffeetasse und springt auf. Er nimmt zwei Treppenstufen auf einmal und läuft zum Ende des Flurs. Da zieht er an dem Strick, der die Dachluke öffnet. Vorsichtig steigt er die schmalen Holzstufen hoch und tastet nach dem Lichtschalter.

 

Dämmriges Licht breitet sich aus, an das sich seine Augen nur langsam gewöhnen. Die Schatten von Kisten und Kästen umgeben ihn. Zeugen der Vergangenheit, von einer Staubschicht eingehüllt. Die Bretter unter seinen Füßen knarzen, und fluchend reibt er sich das Schienbein, als er irgendwo anstößt. Hätte er nur die Taschenlampe mitgenommen!

 

Wahllos öffnet er eine Kiste und starrt erstaunt auf den Inhalt. Seine Mutter hat tatsächlich all sein Spielzeug aufbewahrt! Verwundert schüttelt er den Kopf und öffnet eine andere Kiste.

 

Papiere! Das ist schon interessanter. Neugierig durchwühlt Thomas den Inhalt und bekommt eine Zeitung zu fassen. Warum seine Mutter die wohl aufbewahrt hat? Gespannt hebt er das Blatt an die Augen – und erstarrt.

 

„Unfall oder Selbstmord?“, steht da in Großbuchstaben. Auf dem Bild darunter ist ein zerschmetterter Ford Taunus zu sehen, der an einem Baum zu kleben scheint. Thomas erkennt den Wagen sofort. „Wieso Selbstmord?“ Seine Augen fliegen über den Artikel und bleiben an zwei Worten hängen, „keine Bremsspuren“.

 

„Thomas? Thomas, wo bist du?“

 

Wie lange sitzt er schon hier? Schnell wischt Thomas sich die Tränen ab. Er will etwas rufen, doch die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Verzweifelt räuspert er sich – da steckt Helga schon ihren Kopf durch die Öffnung.

 

„Hier bist du…“ Prüfend mustert Helga ihren Sohn. Als sie die Zeitung in seiner Hand sieht, nickt sie verstehend. „Hast du auch den Brief gefunden?“

 

„Brief?“, krächzt Thomas.

 

„Komm runter“, sagt Helga ungewöhnlich ruhig. „Lass uns reden. Es ist an der Zeit, dass du die Wahrheit erfährst.“

 

Ihr Kopf verschwindet, und mühselig erhebt Thomas sich. In diesem Augenblick verflucht er seine Neugier, verflucht den Speicher, verflucht sich selbst.

 

„Setz dich, mein Junge.“ So hat Helga ihn schon lange nicht mehr genannt. „Hab keine Angst. All das hat nichts mit dir zu tun.“

 

Mit fahrigen Händen greift Thomas nach der Kaffeetasse, nur um irgendetwas zu tun. 

 

„Es war alles ein fürchterliches Missverständnis“, beginnt Helga. „Dein Vater… er hatte sich in den Kopf gesetzt, dass du nicht sein Sohn wärst.“ Sie wirft ihm einen zärtlichen Blick zu. „Aber das ist natürlich Unsinn.“

 

Unsicher sieht Thomas sie an. „Wirklich?“

 

„Wirklich“, bestätigt Helga mit fester Stimme. „Sicher, er war viel älter als ich – aber ich war verliebt in ihn. Sonst hätte ich doch nie… Als er erfuhr, dass ich schwanger bin, wurde er furchtbar wütend. Er wollte keine Familie, sagte er, niemals. Ich wusste nicht aus noch ein und habe mich in meiner Verzweiflung an seine Mutter gewandt. Sie hat ihn irgendwie dazu gebracht, mich zu heiraten. Und er hat gut für uns gesorgt. Bis seine Mutter starb. Da passierte etwas mit ihm. Was – das habe ich leider erst nach seinem Tod herausgefunden.“

 

„Dann war es Selbstmord?“

 

„Es sieht so aus…“ Helgas Schultern zucken, ein Zittern geht durch ihren Körper, dann hat sie sich wieder in der Gewalt. „Er war vollkommen aufgebracht, als er an dem Tag nach Hause kam. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt. Er warf mir vor, dass ich ihn betrogen hätte, schrie was von ‚Bastard‘ und ‚untergeschoben‘. Das ließ ich natürlich nicht auf mir sitzen. Es war ein hässlicher Streit. Und plötzlich… plötzlich hat er sich umgedreht und ist zur Tür raus…“

 

Helgas Stimme versagt, sie bricht in Tränen aus. So hat Thomas sie noch nie erlebt. Erschüttert steht er auf und setzt sich neben seine Mutter. Vorsichtig legt er den Arm um ihre Schulter und zieht sie an sich. Schweigend sitzen sie da, bis Helga sich beruhigt.

 

„Es ist nicht deine Schuld“, flüstert Thomas. Fieberhaft überlegt er. „Hatte es mit dem Brief zu tun, den du vorhin erwähnt hast?“

 

Helga nickt. „Ja. Er war von seiner Mutter. Eine Beichte sozusagen.“

 

Langsam dämmert es Thomas. „Großvater war nicht der Vater von Papa?!“

 

Wieder nickt Helga. „Das Schlimmste ist, dass sie nichts dafür konnte… Du hast sicher davon gehört, wie sich die russischen Soldaten damals aufgeführt haben…“

 

„Ich dachte, Oma war schon schwanger, als die Russen in das Dorf einfielen?“

 

„Nein… Der Pastor hat Egons Geburtsdatum zurückdatiert. Damit sein Vater nichts davon erfährt.“

 

„Du meinst, Opa hat nichts davon gewusst?“

 

„Er hat es nie erfahren.“

 

„Mein Gott…“

 

„Aber all das hat nichts mit dir zu tun.“

 

„Natürlich hat es mit mir zu tun“, sagt Thomas und streicht sich nachdenklich über das kantige Kinn.