Von Franck Sezelli

  1. Mai 2003

»Es ist so ein schönes Gefühl, sein Baby an der Brust zu haben!« Birgit seufzt glücklich und schaut zu ihrer Bettnachbarin Sabine hinüber. »Da sind die Strapazen der Geburt wie weggeblasen.«

»Du hast vollkomen recht, auch für mich ist es wieder so ein Glücksgefühl, obwohl ich das ja schon mit meiner Lisa erlebt habe.« Sabine wiegt ihren nach der Anstrengung des Trinkens satt eingeschlafenen kleinen Karl in ihren Armen und drückt sein Köpfchen an die Brust.

»Sag mal, wann hast du deine Lisa gekriegt?«

»Vor reichlich zwei Jahren, im Februar 2001. Wir sind froh, dass es jetzt ein Junge geworden ist. Wobei … wie mein Mann immer sagt, Hauptsache gesund.«

»Darf ich fragen, wie ihr auf den Namen Karl gekommen seid? Der ist doch ziemlich altmodisch.«

»Täusch dich da mal nicht, Birgit! Die alten Namen sind wieder in. Der Großvater meines Mannes hieß Karl. Ihm zu Ehren haben wir den Namen gewählt. Wir waren uns auch einig, dass es ein seltenerer Name sein soll. Nicht dass später gleich drei weitere Jungs in seiner Schulklasse den gleichen Namen haben. Du hast mit Lukas aber auch einen schönen Namen für euer Kind gewählt, finde ich. Habt ihr euch eigentlich einen Jungen gewünscht?«

Birgit überlegt, ehe sie antwortet: »Mein Mann wollte eigentlich ein Mädchen, aber auf Lukas ist er auch ganz stolz.«

 

  1. Dezember 2009

Karlchen kniet vor der Couch und wickelt geduldig die Babypuppe, die Lisa gestern geschenkt bekommen hatte.

Aus Karl war ganz schnell Karlchen geworden, sowohl die Eltern und die große Schwester nennen ihn nur so und auch im Kindergarten rufen ihn alle mit dem Kosenamen.

Sabine stößt ihren Mann in die Seite, zeigt auf das in sein Spiel vertiefte Karlchen und meint leise: »Vielleicht hätten wir zwei Babypuppen schenken sollen, eine für Lisa und eine für Karlchen.«

 

  1. Mai 2013

»Zehn Jahre ist das nun schon wieder her, dass wir uns in der Klinik kennengelernt haben.« Birgit stellt ihre Kaffeetasse ab und fragt: »Wie macht sich dein Karl in der Schule? Ist er auch so fußballbegeistert wie Lukas?«

»Unseren Karl rufen inzwischen alle Charly. Seine Mitschüler haben damit angefangen, wir machen nun auch mit, da es ihm besser gefällt. Nein, für Fußball interessiert er sich nicht sonderlich. Er macht nun schon das dritte Jahr in der Tanz-AG der Schule mit. Die Musiklehrerin ist ganz glücklich, weil es immer schwer ist, Jungen für die Arbeitsgemeinschaft ›Tanzen‹ zu begeistern. Und jetzt hat Charly gehört, dass man im Stadttheater Kinder für eine Ballettgruppe sucht. Da will er unbedingt hin. Ich habe bloß Angst, dass es zuviel für ihn wird.«

»Das muss nicht sein, wenn er sonst in der Schule mitkommt. Lukas hat neben seinem Fußballtraining mehrmals die Woche auch noch Klavierunterricht und schafft das auch spielend.«

 

  1. September 2014

»Lisa! Lisa, wo bist du?« Sabine steckt ihren Kopf durch die Tür ins Zimmer von Lisa. »Ach du bist’s, Charly! Was machst du denn da?«

Charly dreht sich in Lisas buntem Sommerkleid vor dem großen Spiegel, um sich von allen Seiten zu beschauen. Als er die Mutter bemerkt, läuft er rot an und stottert: »Ähh …, ähh, Lisa ist zu ihrer Freundin. Sie ist zum Abendbrot zurück.«

Sabine nickt und fragt: »Willst du zum Fasching als Mädchen gehen? Aber das ist doch erst im Februar. Oder brauchst du für die Ballettgruppe im Theater ein Kleid? Da musst du aber Lisa fragen!«

Charly murmelt etwas Unverständliches vor sich hin und zieht das Kleid wieder aus, während Sabine schon wieder das Zimmer verlassen hat.

 

  1. April 2018

Charly steht mit seiner Freundin Laura vor dem Kino. Sie sehen sich die Filmplakate an und können sich nicht entscheiden, in welchen Film sie gehen. Also geben sie ihre Absicht auf und bummeln Hand in Hand in den Park. Dort lassen sie sich in der hintersten Ecke auf ihrer Bank nieder.

Bald darauf sieht ein alter Mann, der sich bei seinem Spaziergang in diese Ecke verirrt hat, mit Schmunzeln das sich heftig küssende Pärchen und beeilt sich, leise vorbei zu laufen, um die Glücklichen nicht zu stören.

»Weißt du was, mein Liebster?«, flüstert Laura und streicht Charly über seine Wange. »Neuerdings kratzt du …«

Charly zuckt vor der Hand seiner Freundin zurück. »Mm … ich hasse das.« Der Junge schaut Laura wie entrückt an und seufzt. »Wäre es dir lieber, wenn ich keinen Bart bekommen würde?«

»Ach, das ist mir egal. Ich liebe dich doch nicht wegen deinem Bart oder was du sonst noch so anderes hast. Ich mag dich, weil du klug bist und sensibel, weil du immer freundlich zu mir und anderen bist, weil du lieb und rücksichtsvoll bist. Eben weil du DU bist.«

 

  1. Juli 2018

»Du wirkst so traurig, Laura.«

»Ja, ich muss dir auch etwas Trauriges sagen. Wir können uns in Zukunft vielleicht gar nicht mehr sehen. Wir ziehen nach Hamburg, mein Vater wurde dorthin versetzt. Ich muss dort zur Schule und dort das Abi machen.«

»Und was wird dann aus uns?«. fragt Charly richtiggehend entsetzt. Eine Träne kullert über seine Wange.

Laura streicht sie ihm zärtlich weg. »Sag mal, dein Bart ist ja ganz weich, eigentlich gar nicht mehr da.«

»Gefällt dir das besser? Würdest du mich denn noch mögen, wenn ich … ? Ach, ist ja nun völlig egal, wo du weggehst!«

»Sprich nicht so, Charly! Ich vergesse dich doch nicht und wir bleiben in Verbindung. Selbst Hamburg ist nicht aus der Welt, wir können uns besuchen. Und bald werden wir irgendwo studieren, da ändert sich sowieso alles. Aber wenn wir zusammen gehören, wird sich das in Zukunft auch so ergeben. Sei nicht traurig, bleib optimistisch!«

 

  1. Mai 2021

E-Mail an laura2003@free-mail.de:

Liebe Laura, herzlichen Dank für deine Glückwünsche zu meinem Geburtstag. Ich habe mich sehr darüber gefreut, auch weil es schon lange her ist, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.

Ja, jetzt bin ich auch rechtlich erwachsen und voll für mich selbst verantwortlich. Und es wird sich einiges verändern in meinem Leben. Zunächst werde ich im Herbst zu studieren beginnen. Dass ich das Abi gut genug schaffe, davon gehe ich aus. Wahrscheinlich werde ich zum Studium nach Hamburg kommen, da können wir uns endlich auch wieder öfter sehen. Lisa ist ja schon seit 2 Jahren dort, macht Zahnmedizin. Ihr gefällt es sehr gut. Deswegen denke ich, dass es für mich auch das richtige ist.
Mit meiner Behandlung, von der ich dir das letzte Mal erzählt habe, mache ich auch weiter. Sie schlägt gut an und ich fühle mich sehr wohl. Bin gespannt, was du sagst, wenn wir uns endlich mal wieder sehen.

Lass dich fest umarmen und lieb küssen, ich bleibe dein, liebste Grüße von Charly

 

  1. September 2021

»Es ist schön, wieder beisammen sein zu können.« Charly strahlt Laura an und ergreift ihre Hand. Sie hatten sich in dem Café verabredet, nachdem beide die ersten Tage und Wochen des für sie neuen Studienalltags hinter sich gebracht hatten.

»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen. Du hast dich wirklich verändert! Aber keineswegs zu deinem Nachteil. Du siehst einfach toll aus!«

Charly sieht man an, dass er sich über dieses Kompliment freut. Er fragt aber trotzdem mit zweifelndem Unterton: »Magst du mich denn so noch?«

»Aber das habe ich doch schon vor ein paar Jahren gesagt. Ich liebe dich doch nicht wegen deiner körperlichen Eigenheiten, sondern weil du klug und einfühlsam bist, weil du ein freundlicher und achtsamer Mensch bist. Eben weil du DU bist.«

»Danke, das bedeutet mir sehr viel. Du sollst wissen, dass ich hier inzwischen auch schon bei einer Psychologin war. Meine vorherige von Zuhause hat sie mir vermittelt. Ich glaube, ich werde gut mir ihr zurechtkommen, sie ist sehr nett. Generell fühle ich mich schon viel besser als früher und noch vor einigen Jahren. Es wird alles gut werden, davon bin ich fest überzeugt.«

»Ich halte zu dir!« Laura drückt seine Hand.

 

  1. Juni 2022

Sabine aufgeregt am Telefon: »Hallo Charly, wie geht es dir? Lisa hat mir gesagt, dass du im Krankenhaus bist, mehr hat sie aber nicht gesagt. Was ist denn passiert? Bist du krank? Oder hattest du einen Unfall?«

»Bitte Mama, keine Aufregung, lass mich doch mal zu Wort kommen … Nichts Schlimmes, im Gegenteil!«

»Sag schon, Charly! Ist es denn schon passiert? So schnell! Ich dachte, das dauert noch … Geht’s dir denn gut, Charly?«

»Liebe Mama, mir ging es nie besser. Charly-Karl ist endgültig gestorben! Du hast jetzt eine Tochter, Charlotte ist deine neue Charly.«

 

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