Von Kay Rapp
Charly nippte vorsichtig an der zarten Porzellantasse und blinzelte in die grelle Sonne; schon jetzt, am frühen Vormittag, quetsche die Hitze das letzte Grün aus dem Garten. Elrhom, der Kater, gähnte auf der Fensterbank. Der zarte Geschmack des dritten Aufgusses Oolong Tee beugte sich resigniert den Gerüchen der Küche seiner Oma Edda, also ließ er die Erinnerungen an Kohlrouladen und gebratene Heringe mit einströmen.
Charlys Oma war vor drei Wochen friedlich im Sessel eingeschlafen; es muss während des Traumschiffes gewesen sein; mit 92 Jahren hatte sie wohl alle nötigen Serien gesehen, um im Himmel vom TV glotzen befreit zu sein. Seine eigene Qualifikation für das Himmelreich, ihm natürlich unbekannt, wie den meisten Menschen ihre göttliche Kniffelkarte der zu erfüllenden Aufgaben, war noch lange nicht erreicht. Ein erster Schritt dahin war für diese Woche das Entrümpeln der Wohnung.
Charlys Oma war vor drei Wochen friedlich im Sessel eingeschlafen; es muss während „Das Traumschiff“ gewesen sein. Mit 92 Jahren hatte sie wohl das letzte Feld ihrer göttlichen Kniffelkarte erfüllt, 666 Folgen Traumschiff zu sehen und war direkt von Bord, in den Himmel und nun vom TV glotzen befreit.
Die Oma bewohnte den zweiten Stock ihres Hauses; im Erdgeschoss lebte ihre alte französische Freundin Madelaine, 84. Sie war mit ihrem Wohnmobil an die Nordsee gefahren und wollte heute zurückkommen. Charly kannte Madelaine seit seiner Kindheit und der Tod der Oma war auch für sie ein schwerer Schlag.
Die Familie hatte beschlossen, dass Charly die Wohnung entrümpeln sollte. Natürlich, nachdem das Hyänenrudel der Verwandten alles Wertvolle geplündert hatte. Da er als Student als praktisch arbeitslos galt und somit rumhing, konnte diese kleine Aufgabe ja nicht schaden. Charly bereitete sich auf seinen Master in IMM vor, Irgendwas Mit Medien, das war für seine Eltern eine griffige Bezeichnung, die sie selber mit Inhalt füllen konnten. Die Woche hier in der Wohnung war eine Abwechslung, von der er sich versprach, einiges vom Übriggebliebenen bei eBay oder auf Flohmärkten zu verkaufen.
Die erste Sichtung erbrachte zunächst reichlich Ernüchterung. Wenn die Familie das Haus gebrandschatzt hätte, wäre immerhin Asche für den Garten zurückgeblieben, so nur Sperrmüll. Aber trotzdem, im Wohnzimmer standen schon Kartons mit Büchern, vier für Altpapier und ein leerer für wertvolles Antiquarisches. Omas Auswahl an Büchern war mit gealtert, Ratgeber und Reiseführer waren so alt, dass Ali Baba und seine Jungs noch als lebende Personen vorkamen, die zusammen mit Angelique und allen Königen vor Winnetous Zelt aus dem Blechnapf aßen und danach Blechtrommel spielten. Der Karton blieb erst mal leer.
Das Schlafzimmer Ensemble in Schleiflack spielte schon lange keine Zugaben mehr und der vierflügelige Kleiderschrank wäre auch mit acht nicht abgehoben. Das Schuhsediment unten war fest und kompakt und die Wolldecken und Laken im oberen Teil auch hoch verdichtet; Motten wurden da zahnlos. In den Sachen der Oma zu wühlen war Charly zunächst unangenehm, später übermannte ihn dann doch die Goldgräberstimmung. Die Familie hatte die Kleidung, ähnlich bei Leprakranken, gemieden und so stopfte Charly das meiste einfach in Müllsäcke für die Altkleidersammlung. Das wenige Ansprechende ließ er erstmal hängen.
Viele Kleider riefen direkt Bilder seiner Oma wach, so auch der graubraune Wollmantel tief hinten links. Charly zog ihn heraus, schwer war er, es schien, als ob er sich sträubte. Was will der Kerl von mir, wo ist die Oma?
Bei Licht war klar, hier waren zwei schwere Mäntel übereinander gehängt. Der Wollene und ein Pelzmantel, endlich was Wertvolles? Hier konnte er vielleicht ein paar Hundert Euro rausholen. Da Internetrecherche immer Vorrang hat, nahm er den Pelz und setzte sich gemütlich in die Küche.
Nutria, graubraun, Sumpfbiberratte, ein Tier, das erst als Pelz Wertschätzung erlangt.
Ein Kaffee war jetzt nötig. Die alte Gluckerkaffeemaschine hatte er gestern entkalkt, ein harter, zäher Kampf; der eingeschweißte Espresso, abgelaufen vor zwei Jahren, roch noch gut. Also, Start.
Charly betrachtete den alten Pelz, der Zustand war gut, keine Haare fielen aus, keine Motten waren drin und in den Taschen kein Würfelzucker und kein Tosca-Erfrischungstuch. Er zog den Mantel über und spürte im linken Ärmel doch etwas Totes, Pelziges; es war die passende Kappe. Der Pelz war zu klein, die Ärmel reichten nur bis zum Unterarm, die bleichen Handgelenke blitzten in der Sonne.
Sein Slipknot T-Shirt Rotting Goat passte irgendwie dazu, die weißen Beine und schwarzen Shorts standen auch der Ziege. Jetzt noch die Pelzkappe auf und im Spiegel überstrahlte die Ratte den Jäger.
Für eBay musste Charly den Pelz top präsentieren, also Fotos machen. Er probierte es auf Bügeln oder am Boden liegend, das sah aber zu sehr nach Wildlife Fotografie aus. An ihm selbst, vor der hellen Wand im Flur, war der nächste Versuch. Mit etwas Photoshop würde der Pelz wieder aufleben.
Charly hatte den Pelz an, Kappe auf und räumte die Wand im Flur für das Foto frei; die vollen Flohmarktkartons trug er vor die Wohnungstür. Die Hitze dort haute Charly im Winterfell fast um. Als er den letzten Karton draußen abstellte, sauste Elrhom aus der Wohnung die Treppe zum Dachboden hoch.
Elrhom war der alte, zahnlose Kater von Madelaine. Charly sollte auf ihn aufpassen und darauf achten, dass er nicht die Wohnung verließ; der arme Kerl brauchte seine tägliche pâté de foie d´oie.
Charly ließ den Karton fallen und sprintete die Treppe hoch. Ein Knall und die Wohnungstür fiel zu, Ersatzschlüssel im Keller, im Schrank, unterste Schublade links, in der Fahrradschlauchflickzeugdose, unterm Schmirgelpapier, blitze es auf.
Als der Kater, er hieß eigentlich Mohrle, wurde aber kulturpolitisch zu Elrhom gedreht, das große Raubtier kommen sah, schoss er wieder an ihm vorbei runter zu Frauchens Wohnung. Charly ging vorsichtig hinterher, der Kater saß auf Madelaines Fußmatte und fauchte die Großratte mit dick buschigem Schwanz an.
Da klapperte ein Schlüssel und die Haustür ging auf, Charly stand auf und blickte zur Tür und Madelaine kam mit einem Schwall Sonnenlicht und Brüllhitze ins Treppenhaus. Sie trug vor sich einen Korb mit Campingkram, sah den Pelz, erkannte die tote Oma, zitterte ein „Edda“ raus und glitt ohnmächtig mit laut klapperndem Gepäck zu Boden.
Charly versuchte sie noch zu halten, aber nun lag sie schlaff vor ihrer Tür. In Panik richtete er sie auf und fächelte ihr Luft und Worte zu, aber Madelaine blieb aus.
Da schellte es, die dunkle Gestalt hinter der Milchglastür trug ein Paket. Der Retter in der Not? Charly griff hinter sich zur Klinke und der Bote schob die Tür auf.
„Helfen Sie mir, Madelaine ist ohnmächtig.“
Schnell erkannte der Bote die Situation. Er legte das Paket beiseite und kniete sich hin.
„Ich bin Arzt“, sagte der Bote, „mein Name ist Laurent Mukwege.“
Charlys Augenbrauen fragten, er antwortete,
„Im Kongo war ich Internist, hier Bote, ich leiste jetzt Erste Hilfe.“
Fachmännisch prüfte er Puls und Atmung.
„Madelaine, hallo, hören Sie mich?“
Langsam kam sie zu sich, öffnete die Augen und blickte starr ins Gegenlicht, die Sonne hinter Laurent ließ seine Haare hell aufstrahlen und in seinem verschatteten Gesicht leuchteten seine besorgten Augen.
Madelaine flüsterte zitternd,
„Jésus-Christ, fils de Dieu, prend pitié de moi, lass mich in den Himmel“,
dann kniff sie die Augen zu und betete auf Französisch weiter.
Laurent sprach professionell, beruhigend auf Französisch auf Madelaine ein, Charly verstand kein Wort.
„Wir tragen sie in ihre Wohnung und legen sie hin“, bestimmte Laurent.
„Wenn Sie noch die Furrat, das Fell, ablegen, wird sie Sie erkennen und sich beruhigen.“
Auf ihrem Sofa, im kühlen, dunklen Wohnzimmer, kam Madelaine wieder zu sich. Mit Französisch, Arzt und kleinem Cognac war das die Umgebung, die Augen zu öffnen. Madelaine parlierte entspannt mit Laurent, der den Lüfter aus dem Paket aufbaute.
Charly, noch im Pelz und Kappe, ging in den Keller, um den Ersatzschlüssel zu suchen. Als er an der Schminkkommode mit dem großen Spiegel vorbeikam und im Augenwinkel ein großes Pelztier schleichen sah, erschrak er dermaßen, dass er beschloss, dem toten Tier die letzte Ruhe zu geben und noch heute im Garten zu begraben.
VERSION 2