Von Bernd Kleber

Ich hatte die Ware abgeliefert. 25 Minuten hatte ich warten müssen, bis ich an die Rampe fahren durfte. Weitere 10 Minuten, bis die Einkäuferin mit dem Handwagen aus dem Fahrstuhl geschlurft war. Die Einkäufer holen ihre Bestellungen hier eigenhändig am Wareneingang ab. Personaleinsparung überall. Gier regiert die Welt. Auch im Krankenhaus Ludwigsfelde.

Ich war kaum hörbar bei der Begrüßung gewesen, weil ich das Zähneknirschen nicht lassen wollte. Ein Hund mit Knochen. Mein Knochen war der Verdruss.

Die Übergabe der Ware dauert 4 Minuten. Unterschrift, Lieferschein, Kopie übergeben und weg …

Ich rolle mit dem Wagen vom Wirtschaftshof, vorbei an der Rampe zur Küche, Schneckentempo an der Pathologie entlang und falte währenddessen die Papiere zusammen, lege sie beiseite, tippe das nächste Ziel ins Navi ein und nähere mich mit Schrittgeschwindigkeit der Ausfahrt des Geländes. Wie immer.

Dort sehe ich ein Entenpaar. Entenpaar? Ja, hier mitten in der Stadt. Auf dem Streifen zwischen Asphalt und Gehweg. Watscheln da Herr und Frau Ente. Kein Wasser weit und breit. Was machen die zwei Vögel hier?

Ein Knall. Ein Ratschen. Jemand schreit ordinäre Worte und haut mir auf die Motorhaube des Autos.

Ein Radfahrer, den ich fast umgefahren hätte, weil mein Blick wie magnetisiert am Entenpaar klebte, das unbeeindruckt weiterwatschelt. Ich stoppe. Springe aus dem Auto. Meine Knie zittern. Ich entschuldige mich so kleinlaut wie in der Kindheit, als mir die Bonbonniere unserer Oma runtergefallen war. Aber ohne Enten hätte ich den vielleicht überfahren?

Ich frage den Buntgekleideten, ob ihm etwas passiert sei. Der Radler verneint und fährt schimpfend weiter. Komischerweise grinst er dabei.

Die Enten sehen mich jetzt beide an. Fixieren mich. Ich frage laut: „WAS?!“

Der Erpel schnattert etwas, die Gattin schüttelt kurz ihr Gefieder. Beide spazieren weiter wie zwei Selbstmörder am Rand eines Hochhausdaches. Autos rasen nur Zentimeter entfernt an ihnen vorbei.

Ich sehe Enten und Radfahrer nach und denke: `Hier stimmt etwas nicht. `

Hinter mir knattert ein LKW. Der Fahrer schreit: „Wird dat da vorne bald mal wat oder willste da Wurzeln schlagen? Et jibt Leute, die müssen arbeiten!“ Der hat eine Stimme wie Onkel Erich, der mich als Kind immer grob anschrie und es angeblich gut meinte. Na, das Gegenteil von gut war schon immer „gut gemeint“.

Ich: „Ja, ja.“ Und steige in mein Auto. Ich fahre aus der Ausfahrt und nehme die erste Parkbucht auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich schalte den Motor aus und sehe den beiden Vögeln weiter zu.

Sie laufen wackelnd nebeneinander und schnattern leise miteinander. Immer abwechselnd, wie ein Dialog. Zielgerichtet laufen sie auf dem Granitstein, der den Gehweg begrenzt, suizidal nahe an der Straße entlang. Manchmal machen sie einen kleinen Hüpfer, um eine Parkbucht zu durchqueren. Springen dann erneut schwerfällig auf den nächsten Bordstein.

`Hier stimmt etwas nicht`, denke ich erneut.

Mehrere Personen bleiben stehen und beobachten das Entenpaar. Zwischen der stillgelegten Parkuhr und dem High-Tec-Parkscheinautomat lehnt eine Politesse und lacht: „Hat man Worte, wo kommen denn diese dicken Entenviecher her? Ej, Ihr müsst euch ´nen See suchen, das ist doch hier kein Lebensraum für euch!“

Bestimmt antworten die Enten ihr gleich.

Ich muss weiter. Die Zeit drängt, aber man kann doch die schönen Tiere hier nicht verunglücken lassen.

„Gibt es denn in der Nähe einen See?“, rufe ich über die Straße.

„Haben Sie schon einen Parkschein gezogen. Ich habe Sie im Auge!“ Mit Zeige- und Mittelfinger macht sie diese bekannte Geste, indem sie auf mich weist und dann zu ihren Augen. Sie zwinkert.

„Mann, ich wollte nicht parken. Die Enten machen mir Sorgen!“

„Mann schon mal gar nicht, wenn, dann Frau!“, grinst sie breit, „Die können fliegen. Und Sie machen jetzt mal Ballett, entweder Parkschein oder Abflug, sonst schreibe ich Sie auf. Kann ja sein, dass Sie in Berlin keinen Parkschein brauchen, aber hier schon. Auch wenn Sie da drin schlafen.“

Ich denke an diese Karikatur, die durch die Onlinemedien gereicht worden war. Behindertenparkplatz: Ein Autofahrer mit Hut und am Weggehen vom Fahrzeug. Eine Politesse, die hinterherruft: „Das ist ein Behindertenparkplatz. Welche Behinderung haben Sie denn?“ Und der Mann: „Tourette, du Fotze!“

Ich muss lachen, lege mich aber mit dieser Amtsperson hier nicht an.

Gerade will ich aus der Parkbucht fahren, lächele ein letztes Mal den Enten zu, die mich wieder beide sehr eigenartig mustern, da ratscht es laut krachend. Ein Dreitonner reißt die Abdeckung des Außenspiegels ab, die in hohem Bogen über die Straße scheppert. Das war knapp! Der hätte mich so was von aufgeraucht jetzt. Ich hatte automatisch voll gebremst und wieder schlottern mir die Knie.

Mist! Was ist das heute? „Die Enten sind schuld“, klingt aber auch blöd. Was sage ich nur meinem Chef?

Kühlerfront zerkratzt, die Abdeckung des linken Spiegels kaputt. Ich will aus dem Auto steigen, um die Abdeckung einzusammeln, da fliegt mir Frau Ente gegen die Tür. Und ein weiterer Lastkraftwagen fährt haarscharf an mir vorbei. Ich lehne mich zurück, mein Atem hört sich merkwürdig an, Schweiß rinnt mir über die Stirn.

Irgendwie bin ich wütend. Auf den Tag. Auf die Stadt hier. Auf mich.

Beide Enten sitzen plötzlich auf der Motorhaube und blicken mich an. Mein Atem rasselt. Ich rauche doch gar nicht.

Ich beobachte die Schwimmvögel, sie mich. Irre, denke ich. Das glaubt mir keiner.

Ich frage mich, wie oft an man an magischen Dingen vorüber geht. Wie oft man besondere Dinge einfach übersieht. Wir sind abgestumpft in der angeblichen Ära der Aufklärung. Ich weiß noch, dass ich mich auf dem Weg zur Arbeit einmal die gesamte Fahrt fragte, warum ich mir die weiße Kornblume vom Wegrand nicht genauer angesehen hatte, an der ich vorüber geeilt war. Sie war schneeweiß, nicht blau. Ihr Anblick hatte nachgehallt wie eine verlorene Schicksalsmelodie. `Hättest du die Blume gepflückt, hättest du jeden Morgen ein Goldstück unter deinem Kopfkissen gefunden!`, wer weiß denn, was alles zwischen Himmel und Erde möglich ist?

Die Enten nicken. Ja, lachhaft, aber die Tiere nicken jetzt. Der Erpel steht auf und läuft von links nach rechts. Seine Frau wippt dazu auf und ab. Will sie jetzt ein Ei legen? Das würde allerdings sofort abwärts rollen und zerschellen. Der Enterich nimmt nun die Flügel zu Hilfe und springt in die Höhe beim Laufen. Sieht so aus, als ob er Kreise springt. Sie guckt mich an, als ob sie grinsen würde, den Schnabel leicht geöffnet und raapt. Ich drehe mich um, ob uns und diesen Tanz jemand beobachtet. Alle Neugierigen und die Politesse sind fort. Kein Strafzettel!

Und dann schaue ich diesem Ballett zweier Enten zu. Gab es nicht mal einen sehr populären Ententanz in den Musikcharts?

Das ist mir alles zu unwirklich. Ich schlafe sicher fest und gleich weckt mich die Melodie der Uhr wie jeden Morgen um sechs.

Geschieht aber nicht.

Der Erpel deckt jetzt auf der warmen Motorhaube die Ente und beide sehen mir dabei direkt in die Augen. Vielleicht haben sie Sorge, ich könnte aussteigen und sie stören. Ich muss herzhaft lachen und irgendwie wage ich es nicht, ein Handyfoto zu machen, wie es heute hip wäre.

Irgendwann sind sie fertig, ihre Bürzel aneinander zu reiben. Der Erpel springt erst von der Ente, dann von der Motorhaube. Sie hinterher. Sie müssen jetzt vor meinem Auto sein. Ich warte.

Für die restliche Ausliefer-Tour ist es heute zu spät, ich hätte noch nach Lübben fahren sollen. Autobahn.

Die Enten kommen nicht zum Vorschein. Nicht vorn, nicht links, was auch gefährlich wäre für die Tiere und auch nicht, richtig, rechts …

Ich drehe mich um, sehe nach hinten, öffne die Tür und steige aus. Nichts! Kein Verkehr, keine Enten, ich allein. Nur gegenüber steht eine Friseurin vor ihrem Laden und lächelt mir zu. Sie hat silbrig blond glänzende Haare. Ihr Mund ist eine rote Luftkissen-Versuchung. Der Busen spannt sich gegen den zu engen Kittel. Sie trägt eine Strumpfhose, deren wenige Fäden aussehen, wie Zwirn, der sich in Rouladenfleisch schneidet. Nennt man diese Schnur noch Netzstrumpfhose? Egal, ich gehe über den Damm, wollte ohnehin zum Friseur.

Später steige ich mit neuem Haarschnitt in mein Auto und fahre Richtung Heimat.

Am Abend in den Nachrichten berichten Reporter über einen schweren Auffahrunfall auf der A13 nach Lübben. Drei Tote! Die Strecke stundenlang gesperrt. Was für ein Glück, dass ich die Fahrt nicht mehr geschafft hatte.

Und ich bin mir sicher, dass mein Schutzengel an diesem Tag für seine Arbeit Hilfe gebraucht hatte.

Auf dem Sofa liegend, erzähle ich meiner Frau alles. Sie zieht die Mundwinkel herunter und lächelt unecht. Das sieht so widersprüchlich aus, Lächeln mit Minusmund.

Mit einer Hand befühlt sie meine Stirn. Als ich eine Kerze entzünden will, bricht mir das Streichholz ab und fliegt wie eine brennende Fackel auf die Couch. Als wäre die mit Benzin getränkt, bildet sich sofort ein Brandloch.

Es erinnert mich an meine Kindheit und Fernsehen. Die Westernserie „Bonanza“. Im Vorspann brannte sich dort ein Loch in eine Farmerlandkarte der Cowboyfamilie. Hier brennt sich dieses Abbild nun in meine Couch.

„Karl!“, reißt mich die schrille Stimme aus der Starre. Ich nehme ein Kissen und ersticke hastig den Schwelbrand. Das Kissen sieht jetzt schwarz aus. Meine Frau ist aufgesprungen und kreischt jetzt allerhand ohne Unterlass. Das Loch in der Couch ist sehr hässlich. Ich denke `Wo sind meine Schutz-Enten, wenn man sie braucht? `

Ich entzünde heute keine Kerze mehr und sage: „Gute Nacht!“

 

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