Von Lucie Stephani

Ihr Heim war idyllisch. So beschrieb Kerstin es anderen gegenüber immer. Wer nicht schwärmte, genosss ein Leben nicht, das war allgemein bekannt. Und wer sein Leben nicht genoss, der hatte versagt. Auch im revolutionären 21. Jahrhundert war es noch immer nicht modern, ein Versager zu sein. Daher hatte sie sich auch besonders Mühe gegeben, als sie die Möbel ausgesucht hatte. Michael war das egal gewesen. Er hatte mit den Schultern gezuckt und damit war das Thema für ihn abgeschlossen. Aber alleine wollte sie nicht nochmal hinfahren (wie hätte das denn ausgesehen), also hatte sie mit den Wimpern geklimpert und er hatte gelacht und klein beigegeben. Dann hatte sie sich untergehakt, er hatte es zugelassen und sie führte ihn durch sämtliche Möbelhäuser. Die Kassiererin hatte sie angelächelt und gefragt: „Na, frisch verheiratet? Dass sind doch bestimmt die Möbel für ihre erste gemeinsame Wohnung!“ 

Und Kerstin hatte laut gelacht, sich an Michael geschmiegt und von dem Antrag „ihres Michis“ geschwärmt. Am Abend hatte Michael die Ärmel hochgekrempelt, Schraubenzieher und Hammer herausgeholt und sich an den Aufbau ihres gemeinsamen Lebens gemacht. Am nächsten Morgen standen Tisch, Stühle und Regale bereit und fanden ihren perfekten Platz in der gemütlichen Wohnung. Eine Idylle in braune-beige, schlicht und doch schön. Ihre Freundinnen warfen erst kritische Blicke darauf, inspizierten jeden Winkel und segneten die Wohnung bei einem Sekt schließlich ab. Dann klopften sie Michael auf die Schulter und lobten ihn schmunzelnd. Fast zwei Jahrzehnte später wohnten sie noch immer dort. Mit denselben Möbeln, die ihrer Wohnung doch Charakter verliehen. Der Lack bröckelte an den Tischbeinen schon etwas ab und mal war sogar ein Stuhl zusammengebrochen. Nichts, was man nicht durch etwas Einfallsreichtum kitten konnte. Und Kerstin hätte diese Möbel niemals hergeben wollen. Jeden Abend aßen sie dort zusammen. Jeden einzelnen Abend. Morgens musste jeder zu einer unterschiedlichen Zeit aus dem Haus, mittags speisten sie bei der Arbeit und ihr Sohn in der Schule. Also blieb nur noch das Abendbrot. Sie sagte „nur“, doch bedauerte es nicht im Geringsten. So hatten sie ihren sonst parallel verlaufenden Leben eine Zentrierung gegeben, die sie regelmäßig zusammenführte. 

„Wie war dein Tag?“ fragte Michael ohne von seinem Essen aufzusehen. 

„Gut“, erwiderte Eric. Er schaufelte sich gerade den Teller mit Kartoffelpüree voll. 

Kerstin wartete, bis jeder etwas von ihrem selbstgekochten Essen genommen hatte, bevor sie selbst zugriff. „Erzähl doch mal etwas mehr.“

„Ich habe meine Matheklausur zurückbekommen.“

„Und?“

„Die beste Arbeit des Kurses!“

Michael zerzauste seinem Sohn die Haare, der zog den Kopf zwar weg, lächelte aber stolz. Kerstin freute sich auch, das würde sie direkt ihren Freundinnen erzählen. 

„Sehr gut!“ lobte sie.
„Von wem du das wohl hast“, neckte Michael. Sie beide hatten sich mit durchschnittlichen Noten zwar über Wasser gehalten, doch Erics Faible für die Zahlen haten sie nie geteilt. 

„Muss ich wohl adoptiert sein“, schmunzelte ihr Sohn.

„Nicht so arrogant, noch übertrumpfst du deine alten Herrschaften nicht in allem!“ 

Dann lachte Michael wieder. 

„Du sagst es: noch nicht!“ legte Eric noch einen drauf. „Wart mal ab, bis ich mein Abitur in der Tasche habe!“

„Jetzt wird aber gegessen“, ermahnte Kerstin sanft um ihren mütterlichen Pflichten nachzukommen.

 „Weißt du, Mama“, fuhr Eric fort, „ich habe da eine günstige Wohnung gefunden.“

„Wie schön.“

„Direkt neben der Uni.“

„Wie schön.“

„Und wenn ich bald meinen Führerschein habe, kann ich mit dem Auto hinfahren!“

Wie schön, dachte Kerstin, so ein ganz normaler familiärer Abend. Erics Euphorie war beinahe ansteckend. Einnehmend jedenfalls, sie schwappte zu ihnen über und schien das Esszimmer auszufüllen. Wie es sonst nur der Vanilleduft der Kerzen schafft. Unaufhörlich plapperte ihr Sohn von Zukunft und Plänen. Kerstin sah, dass Michael selig lächelte. Und dachte an die Vergangenheit, während sie gedankenverloren mit der rauen Hand über den Stuhl strich. 

„Ich komm‘ gleich wieder“, entschuldigte Eric sich und stand auf.

Michael sah über den Tisch zu ihr. Sie nickte gedankenverloren. Dann sagten sie nichts bis Eric wiederkam.
„Hier.“ Er legte Fotos der Wohnung auf den Tisch und präsentierte jeden Winkel. 

„Lass sie uns doch im Wohnzimmer ansehen, da ist es gemütlicher“, schlug Michael vor. Kerstin wollte lieber hierbleiben, wo sie doch geradeerst das Abendbrot eingenommen hatten. Doch die beiden Männer sprangen schon auf und liefen ins Wohnzimmer.
„Denk dran“, erinnerte Eric sie schmunzelnd, „der Letzte macht das Licht aus.“

Michael lachte ein kehliges, lautes Lachen. 

„Daran wird der Junge sich wohl auch in seiner eigenen Wohnung noch halten!“

Früher, als sie Eric noch mit Lätzchen auf die noch sauberen, makellosen Stühle gesetzt hatten, hatte Kerstin angefangen, den Abend immer mit diesen Worten abzuschließen. Eric hatte gerade eine Größe erreicht, in der er den Lichtschalter erreichen konnte und ihr Kontostand hatte die Höhe erreicht, bei der sie anfingen, sich um die Stromrechnungen zu sorgen. Und so hatte sie jeden Abend daran erinnert, immer dann, bevor sie zu Bett gingen. Am Abend von Erics Einschulung und auch Michaels Beförderung und jedem weiteren. Der Letzte, der den mittlerweile ausgeblichenen Tisch verließ, löschte das Licht. Und damit war das Ende eingeläutet, sodass jeder langsam aber sicher den Schlaf fand. 

„Der Letzte macht das Licht aus“, rief Eric aus dem Wohnzimmer nochmal. Kerstin legte die Hand auf den Tisch und strich über eine Kuhle, wo der Tisch schon besonders viel Lack verloren hatte. Sie fuhr darüber um die Stelle zu glätten. So sieht es doch gleich viel schöner aus, dachte sie. Wie früher, beinahe zumindest. Dann knipste sie das Licht aus. Der Raum verdunkelte sich. Augenblicklich drückte Kerstin den Schalter erneut und erfreute sich daran, wie die warme Helligkeit wieder ihren Platz einnahm. Besser so, fand sie. Dann ging sie und ließ das Licht einfach brennen. 

 

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