Von Björn D. Neumann
Im letzten Moment erreichte ich die U-Bahn. Die Türen schlossen hinter mir und ein dreimaliges Signal kündigte die Abfahrt an. Heute war es wirklich knapp. Irgendwie war ich schon mit dem falschen Fuß aufgestanden und alles ging schief. Erst ein Kaffeefleck auf dem frischen Oberhemd, dann riss der Schnürsenkel und nicht zuletzt hatte ich noch meine Schlüssel verloren. Es schien so, als wollte das Universum mir sagen, dass ich besser zu Hause geblieben wäre. Aber es ging nicht. Ausgerechnet an so einem Scheißtag war eine wichtige Besprechung angesetzt, bei der meine Anwesenheit unabdingbar war. Und auch dieser Pitch ging grandios in die Hose. Ich wollte nur noch Heim.
Niemand in der Bahn nahm Notiz von mir. Ich suchte mir einen Sitzplatz und schlug die Zeitung auf. Eine ältere Frau mit Krückstock wackelte durch den Mittelgang. Obwohl genügend Sitzplätze frei waren, setzte sie sich natürlich genau neben mich. Eine eindeutige Überschreitung meiner Wohlfühlzone. Zu fragen, ob der Sitz noch frei ist, scheint ebenfalls nicht mehr in Mode zu sein. Und gegenüber das blöde Blag, streckte mir die Zunge raus und schnitt Grimassen. Noch bevor ich die Mutter auf die mangelnde Erziehung ansprechen konnte, kam die Durchsage: „Sehr geehrte Damen und Herren, aufgrund eines Zwischenfalls kann Haltestelle ‚Kaiserplatz‘ nicht angefahren werden. Fahrgäste mit dem Ziel Nordstadt bitten wir, an der Station Kampstraße in Linie U12 umzusteigen.“ Super, das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. Als ich aufstand, rannte ein Jugendlicher mit Lederjacke Richtung Ausgang. Gerade konnte ich noch zur Seite springen. „Hey, hast du keine Augen im Kopf“, rief ich ihm hinterher. Keine Reaktion. Was war mit den Menschen heute nur los? Ich bewegte mich ebenfalls zum Ausgang, konnte mich durch einen beherzten Griff an die Haltestange gerade so eben festhalten und die Bremsung abfangen. Als sich die Tür öffnete, sprang ich auf den Bahnsteig, wuselte mich in gesichtslosen Massen durch die Gänge der U-Bahn-Station. Immer wieder ausweichend, als ob alle mit Absicht meinen Weg kreuzten. Ich sprintete zum Bahnsteig.
Im letzten Moment erreichte ich die U-Bahn. Die Türen schlossen hinter mir und ein dreimaliges Signal kündigte die Abfahrt an. Heute war es wirklich knapp. Was für ein verflixter Tag. Meine Gedanken kreisten wieder um all die Missgeschicke, die mir seit heute Morgen passiert sind. Die alte Dame hatte es auch geschafft, und wieder setzt sie sich direkt neben mich. Ich seufzte. Müde rieb ich meine Augen und blickte auf. Auch mein „Lieblingskind“ war wieder da und ärgerte mich. War es ein Déjà-vu? War ich eingeschlafen? Jedenfalls hörte ich erneut die Durchsage: „Sehr geehrte Damen und Herren, aufgrund eines Zwischenfalls kann Haltestelle ‚Kaiserplatz‘ nicht angefahren werden. Fahrgäste mit dem Ziel Nordstadt bitten wir, an der Station Kampstraße in Linie U12 umzusteigen.“ War ich dort nicht schon umgestiegen? Was war heute los? Stimmte etwas nicht mit mir? Während ich in Gedanken war, rannte Lederjacke mich wieder fast über den Haufen. Diesmal rufe ich etwas hinterher, aber keine Reaktion. Egal – ich musste den Anschluss erwischen.
Das war knapp. Die Türen schlossen hinter mir und ein dreimaliges Signal kündigte die Abfahrt an. Ich war verwirrt. Setzte mich auf meinen Stammplatz, als Oma auch schon anschlurfte. „Heute ist es aber auch verhext“, sagte ich zu ihr. Stoisch blickte sie nach vorne und schwieg. Ich schüttelte ob dieser Unfreundlichkeit den Kopf und widmete mich der Zeitung. Als ich den Blick hob, sah ich das Kind. Diesmal stutzte ich. Es schien so, als würde das kleine Mädchen durch mich hindurchsehen. Ich schaute mich um. Hinter mir saß ein Junge, der die Grimassen des Mädchens erwiderte. Dann kam eine Durchsage und Panik stieg in mir auf. Es war wieder dieselbe Durchsage. Diesmal war ich mir absolut sicher. Ich sprang auf. Blieb bewusst im Gang stehen und wandte mich Lederjacke zu. Ein eisiger Hauch durchfuhr mich, als er einfach durch mich hindurchging.
Ich stieg aus. Schrie um Hilfe. Aber niemand beachtete mich. Ich sprach die Menschen auf dem Bahnsteig direkt an, aber sie gingen an mir vorbei oder einfach durch meinen Körper. War ich verrückt geworden? Ich versuchte, mich zu beruhigen. Atmete durch. Ich musste diesen Kreis durchbrechen. Ich schaute mich um. Da war ein Zugang zu einem Gleis, der mit Flatterband abgesperrt war. Davor standen Polizisten, unterhielten sich und schickten Passanten weiter. Meine Neugierde war geweckt. Vielleicht liegt da der Schlüssel zu meinem Dilemma. Natürlich nahmen auch sie mich nicht wahr, so dass ich ungehindert passieren konnte. Ich stieg die Treppe zum Gleis hinab. Ich sah Sanitäter. Eine Bahn stand dort, aber der Fahrer saß auf einer Bank, in eine Decke gehüllt und barg sein Gesicht in den Händen, während ein Sanitäter auf ihn einredete und versuchte ihm einen Becher mit einem dampfenden Getränk zu geben. Ich ging näher auf den Schauplatz zu. Bemerkte die Blutspritzer an den Scheinwerfern des Zugs. Ängstlich viel mein Blick auf das Gleis. Dort lag, unter einer blutdurchtränkten Decke, ein menschlicher Körper.
Es durchfuhr mich wie ein Blitz. Erinnerungsfetzen zuckten vor meinem inneren Auge. Ich rannte. Sah auf meine Armbanduhr. Musste die Bahn kriegen. Vor mir eine alte Frau, die mich aufhielt. Ein quengelndes Kind, das an der Hand seiner Mutter zerrte. Ich quetschte mich zwischen ihnen durch. Der Zug kam. Ein Halbstarker in Lederjacke rempelte mich an. Ich verlor das Gleichgewicht. Stürzte auf das Gleis. Sah die blendenden Scheinwerfer der Bahn auf mich zukommen, bevor ich die Augen endgültig schloss.
Als ich sie wieder öffnete, erreichte ich gerade die Bahn. Das war knapp. Hinter mir schlossen die Türen und ein dreimaliges Signal kündigte die Abfahrt an.
Es heißt, die Hölle sei es, ein und dieselbe Situation immer und immer wieder zu durchleben. So ist meine jetzt der ewige, aussichtslose Kampf gegen die Zeit.
„Sehr geehrte Damen und Herren, aufgrund eines Zwischenfalls kann Haltestelle ‚Kaiserplatz‘ nicht angefahren werden…“
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