Von Raina Bodyk

Großtante Else ist tot. Für Stefan war sie eine Fremde, obwohl sie, so lange er denken kann, in der Nachbarschaft gewohnt hat. Neugierig schaut er sich in ihrem altmodischen Wohnzimmer um. Er hat das Haus nie vorher betreten und nun soll er ihren Hausrat sichten, bevor der Entrümpelungsdienst kommt. Er fühlt sich wie in eine andere Zeit versetzt. Fasziniert mustert er die schweren, dunklen Möbel. Geblümtes Porzellan, wie er es von seiner Oma kannte. Die Gardinen sind dicht gewebt und lassen kaum Tageslicht herein.  

Auf einem Buffet sind zahlreiche gerahmte Fotografien aufgereiht. Alle zeigen den gleichen jungen Mann, braungebrannt und gut aussehend, der fröhlich lachend in die Kamera schaut. Nur auf einem Bild schaut er ernst drein, trägt eine Wehrmachtsuniform, stramme Haltung, die Haare kurzgeschoren. Wer das wohl ist? Die Tante war doch unverheiratet und ging kaum je aus dem Haus. Stefans Eltern sind seinen Fragen immer ausgewichen: „Else hat Schlimmes erlebt. Lass sie bitte in Ruhe.“ Seine Mutter hatte dabei ganz traurig ausgesehen.

Stefan hielt sich daran. Nur einmal, als er noch klein war und sein Ball beim Spielen in ihren Vorgarten geflogen war, klingelte er zögerlich. Sie schaute ihn grimmig an und knurrte so unwirsch: „Lass dich ja nicht wieder hier blicken“, dass er stotternd zurückwich und den Ball Ball sein ließ.

Stefan öffnet Schubladen und Schranktüren und sucht nach Fotoalben und sonstigen persönlichen Dingen, die seine Mutter vielleicht zur Erinnerung behalten möchte.

Im Schlafzimmerschrank findet er eine kleine Holzschachtel, sorgfältig beklebt mit glatt gebügelten Streifen aus bunten Strohhalmen. Darin findet er, liebevoll mit einer Schleife zusammengebunden, einige vergilbte und offensichtlich viel gelesene Briefe.

Neugierig geworden, öffnet er das oberste Kuvert und liest – ein bisschen beschämt, in die ganz persönliche Welt eines anderen Menschen einzudringen.

 

 

  1. März 1943
    Liebste Else,

es ist Nacht und ich sitze im Unterstand im Licht eines kleinen Kerzenrestes und denke voll Sehnsucht an dich. Mit meinem letzten Bleistiftstummel weihe ich das Briefpapier ein, das ich in deinem Paket gefunden habe. Seit vier Tagen gibt es nichts Anständiges mehr zu essen. Umso mehr habe ich mich über dein Fresspaket mit der Trockenwurst, dem Kaffee und den Konserven gefreut.
Letzte Nacht gab es schwere Gefechte. Der Iwan hat uns einfach überrollt. Wir sind gerannt wie die Hasen. Meinen alten Freund Oskar hat es als einen der ersten erwischt.

Seit zwei Wochen Sturzregen. Wir versinken im Matsch. Die Uniformen trocknen nicht mehr. Viele Kameraden sind krank. Nur Schlaglöcher, tiefe Pfützen, Schlamm, Morast. Sogar die LKWs kommen kaum noch durch.

Ich liebe dich, Dein Johann

 

„Die Tante! Sieh mal einer an! Dann war sie wohl nicht immer so feindselig, wie ich sie kenne“, staunt Stefan. Sein Interesse ist voll erwacht. Er liest gespannt weiter.

 

  1. Juni 1943
    Meine Herzallerliebste,

habe lange nichts von dir gehört. Nein, meinen 20. Geburtstag habe ich nicht gefeiert. Es war sehr lieb von dir, dass du mir einen selbstgemachten Kuchen schicken wolltest, wo eure Lebensmittelrationen doch auch schrumpfen. Aber deine Mutter hat recht, er wäre unterwegs verschimmelt.

Vor lauter Läusen und Flöhen kann ich kaum schlafen. Es juckt überall ganz fürchterlich. Ich kratze mich nur noch. Die Haut ist schon ganz entzündet. Und keine Gelegenheit, sich oder seine Klamotten mal ordentlich zu waschen.

Weißt du, wie ich mir den Himmel vorstelle?  Einmal wieder in warmem Wasser in einer Wanne liegen und mich anschließend in ein weiches Bett fallen lassen.

Ich vermiss dich so sehr. Du musst gut auf dich aufpassen, hörst du? Ich könnte es nicht aushalten, wenn dir etwas geschieht.

Ich schicke dir 1000 Küsse. Dein Johann

 


  1. September 1943
    Meine über alles geliebtes Elschen,

Heute ist ein Glückstag! War heute mit einer Schar Gefangener auf den Feldern, Rüben, Obst und Getreide ernten. Der Koch hat zwei frei herumlaufende Kälber einfangen können und geschlachtet. Endlich mal Fleisch und frisches Gemüse! Unsere Stimmung geht steil nach oben!

Nach den schlimmen Regenwochen im März/April ist es nun sehr heiß und staubig. Ein seltsames Land. Hier ist alles so gewaltig, auf der einen Seite die Schönheit, das unendliche Blau des Himmels, die Weite, die riesigen Wälder, auf der anderen Seite die Sümpfe, der Staub, die Hitze, die Wahnsinnskälte. Du kannst tagelang marschieren, ohne eine Menschenseele zu sehen.

Ach Else, das Gewimmer und Geschrei der Verwundeten und Sterbenden ist einfach furchtbar. Die Ärzte tun ja, was sie können, aber das ist nicht viel. Arme und Beine werden am Fließband amputiert. Es gibt kaum noch Narkosemittel.

Dazu der Gestank – die Reste dessen, was mal Menschen waren, die abgeschnittenen Gliedmaßen, die aufgedunsenen Tierkörper …

Die Nachrichten aus der Heimat erschüttern uns alle hier. Gibt es bei uns zuhause auch schon Tieffliegerangriffe? Stimmt es, dass ganze Straßenzüge zerstört worden sind?
Warum können wir Menschen nicht in Frieden miteinander leben? Der letzte Krieg hätte uns doch alle schlauer machen müssen. Gott schütze dich.

Ich drücke und küsse dich ganz fest. Dein Johann

 

 

  1. Oktober 1943
    Meine Liebste,

ich habe eine wundervolle Nachricht. Ich bekomme zu Weihnachten Heimaturlaub!!! Wir werden uns endlich wiedersehen!

Ich musste lachen, als du mir von meinem kleinen Bruder geschrieben hast. Ich kann mir richtig vorstellen, wie Mäxchen vor Freude jubelt, dass die Schule ausfällt. Er platzt bestimmt vor Stolz, dass seine Klasse zum Einsatz muss. Kartoffelkäfer einsammeln! Ein bisschen frische Landluft wird ihm guttun.

Grüße an alle. Dein Johann

 

  1. November 1943
    Mein Elselein,

es wird Winter. Deine selbstgestrickten, dicken Socken von dir kann ich jetzt gut gebrauchen.

Wie geht es euch daheim? Steht das Haus noch?

Hier sehen wir so viel Zerstörung. Überall zerschossene Dörfer, blutgetränkte Erde. Und alle machen weiter: Vorrücken, zurückweichen, töten, getötet werden. Nur noch ein paar Alte und Kinder leben mehr schlecht als recht in dem, was mal ihr ohnehin armseliges Zuhause war. In diesem Krieg gibt es keine Gewinner. Ich wünschte, ich könnte im Gebet noch Trost finden. Aber zu wem soll man beten? Zum Gott der Deutschen oder dem Gott der Russen?

Krieg ist schrecklich laut. Das Trommelfeuer, die zischenden Granaten, das Detonieren der Minen, das Donnern der Kanonen, die jaulenden Stukas beim Tiefflug. Die Töne, die verwundete und sterbende Menschen ausstoßen, sind grausiger als alles, was ich mir hätte vorstellen können.

Ich denke jeden Tag an dich. Johann

 

 

  1. Januar 1944
    Else, Liebe meines Lebens,

wir bekommen ein Baby? Ich weiß nicht so recht, ob ich mich freuen soll. Ein Kind in diesen Zeiten? Trotzdem – ein Teil von mir ist sehr glücklich! Jetzt muss ich durchhalten! Du bist also ganz sicher, dass es ein kleiner Johann wird?! Ich wünsche mir ein süßes Mädchen, ein winziges Ebenbild von dir.

Unsere Muttis jammern sicher, dass wir zu jung sind und dass Krieg herrscht. Aber bald ist der Krieg vorbei und wir werden eine kleine Familie sein.

Du musst jetzt für zwei essen und lass dich auf jeden Fall vom Trümmerdienst befreien. Du kannst jetzt nicht mehr die schweren Eimer mit Steinen schleppen. Pass gut auf euch zwei auf.

Ich liebe dich, „Papa“ Johann

 

  1. Februar 1944
    Allerliebste Else,

der Schnee liegt meterhoch. Alles ist tief gefroren. Es ist so eisig, dass einem der Helm am Kopf festfriert. Es heißt, hier sind Temperaturen bis minus 50 °C möglich. So eine unglaubliche Kälte kennt niemand von uns. Kaum jemand besitzt eine Winterausrüstung. Zwei Zehen sind mir schon abgefroren, die andern werden auch langsam schwarz. Wir können nicht mal mehr Schützengräben ausheben, so eisenhart ist der Boden. Der Feind kann uns abknallen wie auf einer Zielscheibe.

Inzwischen habe ich nicht mal mehr Angst. In mir drin ist alles genauso starr und kalt wie der Winter. Kaum zu glauben, wie man sich an Elend, Krankheit, Schmerz und Tod gewöhnen kann. Gestern ein vielleicht vierzehnjähriger Junge. Plötzlich stand er mit seinem Gewehr vor mir. Ganz flehend hat er mich angesehen. Sein Schießeisen zitterte in seinen Händen. Ich habe es genau gesehen und trotzdem geschossen. Ich frage mich die ganze Zeit, ob er abgedrückt hätte.

Jetzt geht es wohl langsam zu Ende. Wir sollen die Panzer sprengen, weil kein Sprit mehr da ist. Sie sollen dem Feind nicht in die Hände fallen. Unser Haufen wird immer kleiner…

Ich liebe dich, mein Herz. Dein Johann

 

 

  1. März 1944
         Sehr geehrtes Fräulein Weber,
    ich erfülle die überaus traurige Pflicht, Ihnen den Heldentod
    Ihres Verlobten, des Gefreiten Johann Kroll, mitzuteilen.
    Er starb am 22. März 1944
    in soldatischer Pflichterfüllung für Führer und Volk den Heldentod.

In tiefem Mitgefühl
Otto Lenz, Feldwebel

 

 

 

Stefan fährt sich tief berührt über die Augen. Er empfindet tiefes Mitleid für seine Großtante – und Trauer.

Er versteht allerdings immer noch nicht, warum sie nichts mit seiner Familie zu tun haben wollte.

Seine Mutter erklärt es ihm endlich: „Weißt du, Else war eine zutiefst unglückliche Frau. Ich habe euch nichts über sie erzählt, weil ich wusste, dass sie das nicht wollte. Aber jetzt kann sie nichts mehr dagegen haben.

Als Else die Nachricht erhielt, dass ihr Johann gefallen war, brach sie völlig zusammen. Sie erlitt eine Fehlgeburt, von der sie sich nur sehr langsam erholte. Jahrelang hatte sie schwere Depressionen. Sie konnte den Anblick von Kindern nicht mehr ertragen. Sie hat mir mal gesagt, dass sie dann das Gefühl hat, vor Kummer zu sterben. Sie hatte sich zu sehr auf ihr eigenes gefreut.  

Ihr Rückzug war reiner Selbstschutz. Sie benutzte ihre Unfreundlichkeit, um niemanden an sich herankommen zu lassen. Vielleicht liebte sie zu sehr – falls man das kann …*

Stefan blickt seine Mutter erschüttert an: „Ich wünschte, ich hätte sie kennenlernen dürfen. Ob ich je so einer großen Liebe begegnen werde? Oder sollte man sich das besser nicht wünschen?“