Von Ursula Riedinger

Es war ganz still im Zimmer. Und kühl. Draussen schien der Mond durch das kleine Fenster. Auch auf dem Korridor, an dem die Zimmer der Schwestern in einer Reihe lagen, war es dunkel und still. Ich nahm meine kleine Tasche mit den Kleidern zum Wechseln und meinen anderen wenigen Habseligkeiten und ging in Wollstrümpfen den Korridor entlang. Meine schwarzen klobigen Schuhe trug ich in der Hand. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich mich. Hier war ich noch nie nachts herumgewandelt. Ich wusste, dass die Pförtnerin immer um diese Zeit eine letzte Runde durch das Gebäude machte. Das bot mir die Gelegenheit. Ich drückte die schwere Eisenklinke nach unten. Die lange fällige Entscheidung hatte ich innerlich schon vor Wochen getroffen. Ich stiess die mächtige Holztüre auf und liess sie dann ganz sanft zurückgleiten. Im Schatten der Bäume ging ich zum äusseren Zaun und öffnete das Tor. Nun war ich draussen. 

Ich hatte nur die nächsten Schritte geplant. Die Welt hier draussen war mir nicht unbekannt, aber doch wenig vertraut. Zu lange war ich hinter den Mauern meiner Gemeinschaft gewesen, um mich draussen sicher zu bewegen. Langsam ging ich zum Bahnhof und wechselte im leeren Wartesaal meine Kleidung. Die schwarze Tracht liess ich in meiner Tasche verschwinden. Dann legte ich mich auf eine Bank und versuchte, ein wenig zu schlafen. Der erste Zug ging um 5:19 Uhr. Noch vor 7 Uhr würde ich in Basel sein. Beim Laudes um 6.30 Uhr würden sie mich dann vermissen. Ich malte mir die verdutzten, erschrockenen, schockierten Gesichter aus. Schwester Hermine würde am meisten zetern und alles in Bewegung setzen, um mich zu finden. Schwester Marie-Laure hingegen, mit der ich mich angefreundet hatte, würde nur verschwiegen lächeln. Ich hatte sie nicht eingeweiht, aber sie hatte mich von allen immer am besten verstanden. Dann fiel ich in einen unruhigen Schlaf. 

Um 5 Uhr setzten sich die ersten Reisenden in den Wartesaal. Ich richtete mich aus meiner unbequemen Lage auf und ging auf die Toilette, um mir Hände und Gesicht zu waschen und mich zu kämmen. Ohne Schwesternhaube kam ich mir nackt vor. Dann wartete ich auf den Zug, das kostbare Billett in der Hand. Im Zug leistete ich mir einen schwarzen Kaffee und ein Rosinenbrötchen. Und doch gehörte ich nicht ganz dazu. Die Reisenden mit ihren Handys, Tablets, Laptops, in die sie alle starrten. Natürlich hatten wir im Kloster auch moderne Computer, aber wir brauchten sie nicht so oft. Aber doch, mein Entscheid fühlte sich richtig an. Ich wollte diesem Wink des Lebens folgen. Draussen kam langsam die Sonne hinter dem Nebel hervor.

Seit ich 7 Jahre alt war, ging ich in die Klosterschule. Mir gefiel es dort. Ich lernte viel und war so gut in der Schule, dass ich schliesslich das Seminar besuchen und selbst Lehrerin werden durfte. Ich trat in den Orden ein, als ich 21 war und blieb. Ich unterrichtete unzählige Generationen von mehr oder weniger eifrigen jungen Mädchen und es freute mich innigst, dass ich mein Wissen weitergeben konnte. Gesundheitliche Probleme führten dazu, dass ich nicht mehr lange stehen konnte und ich meine Lehrertätigkeit aufgeben musste. Mein Leben fühlte sich plötzlich leer an. 

In Basel musste ich mich zuerst zurechtfinden. Ich war schon lange nicht mehr alleine in einer so grossen Stadt gewesen. Den Zettel mit der Adresse hatte ich in meiner kleinen Handtasche. Ich fragte bei der Touristenauskunft im Bahnhof und man erklärte mir freundlich, dass ich das Tram 6 gleich beim Bahnhof nehmen und dann sitzen bleiben könne bis Allschwil Dorf. Von da sei es nur noch ein paar Schritte bis zum Rosenbergweg. Die Damen spürte wohl meine Unsicherheit, die ich hinter meiner weltlichen Kleidung nicht verbergen konnte. Dann erklärte sie mir noch, welches Trambillett ich lösen musste. Am Kiosk nebenan erstand ich die edelste Schokolade, die ich finden konnte, als Geschenk.

Wie meine innere Distanz begonnen hatte, konnte ich im Nachhinein nicht mehr benennen. Es war einfach plötzlich ein Loch da, eine Art Unzufriedenheit. Ich fühlte mich nicht mehr erfüllt. Aber ich wagte es mir zuerst nicht einzugestehen. Und noch weniger, mit anderen Schwestern darüber zu sprechen. Schliesslich hatten wir das Gelübde abgelegt, unser Leben Gott zu widmen, unsere eigenen nichtigen Bedürfnisse hintanzustellen.  

Der Weg nach Allschwil kam mir unglaublich lang vor, obwohl die Fahrt wohl nicht mehr als eine Viertelstunde dauerte. Es gab vieles zu sehen an diesem wunderschönen Frühlingstag. Goldregen und Flieder blühten, der Himmel war fast ungetrübt blau. Als ich angekommen war, setzte ich mich erst einmal auf eine rote Bank in einem kleinen Park. Ich musste nachdenken. Plötzlich war ich unsicher. Konnte ich einfach so bei Stefano auftauchen? Er wusste schliesslich nichts von meiner Absicht, das Kloster zu verlassen. Wir hatten einander lange Briefe geschrieben, aber es waren keine eigentlichen Liebesbriefe gewesen, eher philosophische Gespräche, wie damals, als es begonnen hatte. Als ich schliesslich langsam in Richtung Rosenbergweg ging, klopfte mein Herz bis an den Hals. Was tat ich hier? Was wenn alles ganz anders war als erwartet? Was wenn er mich abwies?

Letzten Herbst hatte unser Frauenchor ein Konzert im KKL in Luzern. Es war ein Festival der Chöre, an dem wir teilnehmen durften, ein Höhepunkt unserer Proben. Nach unserem eigenen Auftritt, konnten wir uns andere Chorkonzerte anhören. Es war wunderschön.  

Und dann passierte etwas. Im A Cappella-Chor I Briganti fiel mir ein Mann auf, der eine wundervolle Stimme und eine starke Ausstrahlung hatte, so dass ich ihn immer wieder ansehen musste. Im Foyer, wo wir uns mit anderen Sängern unterhalten konnten, kam ich mit diesem Mann, der wohl etwas jünger war als ich, ganz einfach ins Gespräch. Es war so anregend, mich mit ihm zu unterhalten. Als wir aufbrechen sollten, um unseren Zug nach Sarnen zu erwischen, mussten mich die anderen Schwestern förmlich losreissen. Stefano Cavallo steckte mir sein Kärtchen zu. 

«Schreiben Sie mir doch mal, Schwester Emilia. Ich würde gerne noch länger mit Ihnen diskutieren.»

Und das tat ich gleich am nächsten Tag und es folgte eine intensive Korrespondenz. Sie blieb natürlich den Schwestern nicht verborgen. Ich konnte aber glaubhaft darlegen, dass es um Fragen der Chormusik ging. Ging es ja auch, am Anfang. Ich schrieb dann nur noch einmal alle zwei Wochen und bat Stefano, das gleiche zu tun. Wir verstanden uns aber so gut, dass zwischen den Zeilen der Chormusik und der Philosophie plötzlich unbekannte Gefühle Platze fanden. Jeden Brief erwartete ich mit Spannung.

Nun stand ich also, etwas scheu und unwohl in den fremden Kleidern, in der Hand eine Tafel Schokolade, vor dem Haus, in dem Stefano wohnte und klingelte an der Haustüre. Ein kleines Mädchen öffnete zögern die Türe.

«Was willst du?» 

«Hallo, ich bin Emilia. Und du?»

Hinter der Kleinen war plötzlich Stefano aufgetaucht.

«Du, Emilia? Komm rein, das ist meine Enkelin Angelina.»

 

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