Von Winfried Dittrich
Arthur wachte bereits gegen vier Uhr auf. Nach einer halben Stunde vergeblicher Versuche, wieder in den Schlaf zu finden, gab er auf. Dann stand er auf, kochte Kaffee und ging im Bademantel das Treppenhaus hinunter zum Hauseingang, um die Tageszeitung aus dem kurzen Rohr zu ziehen, das unter den Briefkästen hing. Das Rohr war noch leer. Arthur erinnerte sich – die reguläre Zeit für die Zeitungszustellung war sechs Uhr. Aus dem Schlitz seines Briefkastens guckten mehrere Umschläge heraus. Anscheinend hatte er gestern vergessen, den Briefkasten zu leeren. Er zog nur die Umschläge heraus, die er greifen konnte – den Briefkastenschlüssel hatte er nicht dabei – und sah sie durch. Der Postbote hatte schon wieder einen Brief für die Nachbarn ein Haus weiter dazwischengeschummelt.
Arthur wusste, dass dies nichts mit Faulheit zu tun hatte, sondern mit Kalkül. Denn die Nachbarin sollte ein Verhältnis mit einem Handwerker haben, wie Arthur von ihrem Ehemann einmal erfuhr. Dieser war sehr oft auf Geschäftsreisen und hatte deshalb Kameraüberwachung in deren Einfamilienhaus installiert. Sein Plan war es, seine Frau entweder in flagranti mit ihrem Liebhaber zu erwischen oder sich zumindest bei dem anderen Mann zu rächen. Einen früheren Liebhaber seiner Frau hatte er einst angeblich um seinen Job gebracht. Der Nachbar fragte Arthur regelmäßig, ob er vielleicht den Wagen des Handwerkers gesehen hätte, was Arthur stets verneinte, und bat ihn, sich bei Gelegenheit das Kennzeichen oder die Aufschrift auf dem Fahrzeug zu merken. Arthur sagte dem Nachbarn zu, die Augen offenzuhalten. Von seinem Arbeitszimmer im dritten Stock aus musste er nur über seine Schreibmaschine hinwegschauen, um den Wendehammer zu überblicken, an dem sie lebten. Für seine Bemühungen erhielt Arthur regelmäßig einen Brief mit Geld und ohne Absender.
Einer dieser Briefe, der ganze Komplott dauerte da bereits einige Monate an, endete einmal als Irrläufer im Briefkasten besagter Nachbarn. Die Nachbarin fand ihn und ging zu Arthur herüber, um den Umschlag einzuwerfen. Arthur, der auch jenem Morgen hinter seiner Schreibmaschine saß, sah die Nachbarin mit einem Brief in der Hand herannahen, was ungewöhnlich war. Wahrscheinlich hatte die Post an diesem Tag eine Vertretung in den Zustellbezirk geschickt. Jedenfalls stand Arthur rechtzeitig von seinem Bürostuhl auf und fing die Nachbarin unten an der Haustür ab, was er unauffällig dahinter kaschierte, dass die Zeitung noch im Rohr steckte und er noch, es war ein Tag ohne auswärtige Termine, seinen Bademantel trug.
An der Tür trafen Arthur und die Nachbarin also scheinbar zufällig aufeinander und wechselten ein paar Worte miteinander, die man als gute Nachbarn bei einem solchen Treffen wechselt. Dann fragte Arthur, ob sie den Handwerker empfehlen könne, der so regelmäßig bei den Nachbarn im Haus sei, denn in Arthurs Wohnung wären einige Renovierungsarbeiten zu erledigen. Arthur gab zu verstehen, dass ihm das Unternehmen, bei dem der Handwerker beschäftigt war, bestens bekannt sei, er die Arbeiten jedoch in kompetente und vertrauenswürdige Hände legen wolle. Ab da erhielt Arthur noch öfter Umschläge mit Geld aus dem Haus der Nachbarn. Einen von dem vielbeschäftigten Mann, der kaum zu Hause war, und einen von seiner Ehefrau. Für Arthur war es ein recht einträglicher Verdienst, den er neben seiner Selbstständigkeit als Schreiber für individuelle Festtagsgedichte gut brauchen konnte.
Irgendwann wollte der Postbote ein Päckchen bei Arthur abgeben, das an das Paar aus dem Nachbarhaus adressiert war. Da kam Arthur auf die Idee, den Postboten darauf anzusprechen, warum er denn konsequent alle Postsendungen für dieses Nachbarspaar hier bei ihm ablieferte oder einwarf; die Hausgemeinschaft wunderte sich ja schon. In diesem Gespräch erfuhr Arthur, wie sehr der Mann seine Arbeit als Briefzusteller mochte, wie sehr er als langjähriger Mitarbeiter die Bezahlung und die sonstigen Unternehmensvorteile und die Altersabsicherung der Post schätzte. Ab da erhielt Arthur, der auch gegenüber allen Menschen seiner Hausgemeinschaft gegenüber Stillschweigen waren sollte, regelmäßige Besuche des morgens mit Postjacke bekleideten Handwerkers, der Arthurs Wohnung nun nach und nach auf Vordermann brachte. Und dies für einen lächerlich guten Preis. Arthur investierte das Geld aus den Umschlägen der Nachbarn in die Renovierung seiner Wohnung, wobei die Nachbarin von nebenan an manchen Tagen etwas verstimmt zu sein schien, wenn der Handwerker bis in die Abendstunden bei Arthur schuftete, anstatt ihr zur Verfügung zu stehen.
Irgendwann begann Arthur festzustellen, dass der Besucher des Wendehammers sich noch bei einer dritten Person regelmäßig länger aufhielt. Er meinte, morgens auch hin und wieder mitbekommen zu haben, dass jemand, der ihm sehr bekannt vorkam, sehr früh das Haus verließ. Und auch das dauerte schon viel zu lange an.
An diesem Morgen, als Arthur dort nun im Bademantel stand, ohne die Zeitung aber mit den Briefen in der Hand, beschloss er, in seinem Leben etwas zu verändern und ging zurück, hoch in sein Arbeitszimmer. Mit neuen Schuhen wollte er neue Wege beschreiten. So setzte er sich nicht an den Panoramaschreibtisch am Fenster, auf dem seine Schreibmaschine stand, sondern an den zweiten mit dem Computer. An sieben aufeinanderfolgenden Tagen bestellte er über den Versandhandel neue Sneakers, Slipper, Stiefel und Schlappen, insgesamt einundzwanzig Paare bei vier unterschiedlichen Händlern. So lange, bis zwei der Pakete für die Zustellung an einem Samstagmorgen angekündigt waren. Freudig setzte er sich an seine Schreibmaschine und verfasste ein Schreiben an einige Nachbarn, in welchem er sie zu einer Post-Renovierungs-Party, also zu einer Einweihung der neu gestalteten Wohnung einlud. Für eines der Schreiben, für das an eine bestimmte Nachbarin aus dem Erdgeschoss, verwendete er das rote Farbband. Bei ihr brachte er die Einladung für den besagten Samstagmorgen persönlich vorbei.
Arthur bereitete einen Braten vor, der im Backofen schmorte. Dazu sollte es ein Gratin mit Kartoffeln und Brokkoli geben mit einer Béchamelsoße. Die Zubereitung hatte Arthur zuvor einige Male geübt und minutengenau abgepasst, so wie die Zustellung der neuen Schuhe, die er über die Sendungsverfolgung praktisch live verfolgen konnte. Als der Postwagen im Wendehammer vor dem Haus zum Stehen kam, gab Arthur die Butterflocken in den heißen Topf. Als es an der Tür klingelte, streute Arthur das Mehl in die geschmolzene Butter und bat die Töchter der ebenfalls anwesenden alleinerziehenden Mutter aus dem Erdgeschoss, den Haustürdrücker zu betätigen, die Tür zur Wohnung zu öffnen und den Besuch in die Wohnung zu bitten. Arthur musste ja das Mehl rühren, die Milch in den Topf geben, nochmals rühren und weiter Milch aufgießen, konnte also nicht weg vom Herd. Durch den Wohnungsflur hörte man die Stimme des Postboten: „Hallo Laura, hallo Kati, was macht ihr denn hier?“
„Wir feiern“, antworteten sie, „und du sollst reinkommen, zu Onkel Arthur in die Küche.“
„Ist Mama auch da?“
„Jaaa! … Hast du auch wieder etwas Liebes für sie?“
Als der Postbote mit Kartons beladen das Wohnzimmer mit der offenen Küche betrat, drehte sich Arthur zu ihm um und sagte: „Liebe Leute, zwölf Monate lang habe ich mein bescheidenes Heim auf Vordermann bringen lassen. Und nun wollte ich Euch den fleißigen Handwerker vorstellen, der die ganzen Arbeiten ausgeführt hat.“
Zur Erklärung: Arthur hatte sich schon vor langer Zeit in die alleinerziehende Hausnachbarin verliebt, in Marie, die im Erdgeschoss wohnte. Aber er hatte auch mitbekommen, dass es eigentlich zwischen ihr und dem Postboten funkte. So hatte er keine Gelegenheit dazwischenzukommen, zumindest nicht emotional. Und er hielt es für hinterhältig, dass der Postbote gleichzeitig ein Verhältnis mit der Nachbarin aus dem Nebenhaus führte. Das hätte doch nur dazu geführt, Marie irgendwann sehr zu verletzen. Außerdem konnte es doch kein Dauerzustand bleiben, dass der Liebhaber im Dienst nie zu den Nachbarn nebenan ging und sich nachmittags immer als Handwerker verkleidete, um auf den Aufnahmen der Videoüberwachung nicht als der Postbote erkannt zu werden, damit er einer Anzeige des gehörnten Ehemanns bei seinem Arbeitgeber entgehen konnte.
Dieser Ehemann übernahm nun die Aufgabe, Marie lautstark zu erklären, dass der Postbote, als Handwerker verkleidet, heimlich seine Frau, die Nachbarin liebte und so, nicht nur beruflich, ein Doppelleben führte.
Jedenfalls war, so dachte Arthur, das Geld aus den Umschlägen gut investiert – die Wohnung konnte sich wirklich sehen lassen. Da es zu dem Teil, den er nicht für das Material ausgab, in die Taschen des handwerklich sehr begabten Postboten geflossen war, blieb es ja irgendwie auch in der Familie.
Und nach dem ganzen Durcheinander war er es, Arthur, der Marie trösten durfte.
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