Von Gerhard Schönbeck

Ah, diese Ruhe. Herrlich. Wie still der Teich dalag… Perfekt.

Langsam, fast feierlich schritt er zum Teichufer, legte ein Sitzkissen auf den kleinen Steg unter der mächtigen, schattenspendenden Linde und ließ sich vorsichtig nieder. Ein kleiner Moment der Unsicherheit – doch der Schneidersitz funktionierte auf Anhieb. Mit geschlossenen Augen genoss er die kaum merkbare Brise, gerade zu schwach um das Wasser in Unruhe zu versetzen, aber doch kräftig genug für eine angenehme Kühle.

Der Garten war ihm ausgezeichnet gelungen. Alles war in tadelloser Harmonie. Der Teich als spirituelles Zentrum fügte sich wunderbar in das Gesamtbild, exakt wie vom „Leitfaden zum inneren Frieden“ vorgegeben. Selten zuvor hatte er sich von einem Buch so sehr verstanden gefühlt. Seine Sehnsüchte in seinem von Hektik und Stress bestimmten Leben so präzise auf den Punkt gebracht gesehen. Und zugleich einen derart eindrücklichen Lösungsweg präsentiert bekommen. So konnte, so musste es funktionieren.

Er beugte sich nach vorn und sah ins Wasser. Makellos blickte ihm sein Spiegelbild von der glatten Oberfläche entgegen. Das war der Moment, auf den er so lange gewartet hatte. Es konnte losgehen. „Leitfaden zum inneren Frieden“, Kapitel 3 – „Es kann losgehen“: Betrachten Sie Ihr Spiegelbild und lassen Sie Ihre Gedanken ziehen. Alles klar. Fokus. Spiegelbild betrachten. Die Gedanken…

Plop.

Hart und unbarmherzig wurde er aus seiner Konzentration gerissen. Sein Abbild im Wasser verwandelte sich in eine hässliche Fratze, als mit einem Mal kreisförmige Wellen nach außen strebten, ausgehend von dem Punkt, auf dem ein kleines Lindenblatt die Wasseroberfläche getroffen hatte.

Mist, verdammter. Aber gut. „Leitfaden zum inneren Frieden“, Kapitel 1 – „Vorbereitung“: Rückschläge sind Gelegenheiten. Genau! Ein lächerliches Blatt. Er würde keinesfalls zulassen, dass es sich zwischen ihn und sein Ziel stellte. Noch einmal von vorn. Waren die Wellen noch immer da? Himmelherrgott, wie lange dauerte das denn? Aber jetzt. Konzentration… Wunderbar. Sein Spiegelbild lag wieder so ungetrübt vor ihm, als wäre die Wasseroberfläche tatsächlich aus Glas. Fast glaubte er, wirklich in sich zu versinken, seine Gedanken rissen sich los und…

Plitsch.

Ein kleines Zweiglein war von der Linde abgebrochen und donnernd auf dem Wasserspiegel aufgeschlagen. Wieder nichts. Es war zum Aus-der-Haut-fahren! Halt. „Leitfaden zum inneren Frieden“, Kapitel 1, Unterpunkt 3: Begreifen Sie wiederholten Gegenwind als Hebel. Klar. Der Autor hatte offensichtlich keine Ahnung, was es hieß, ständig im letzten Moment vor dem Ziel gleichsam zu Boden gerissen zu werden. Warum hatte er den Teich auch ausgerechnet unter der Linde anlegen müssen? Richtig, „Leitfaden zum inneren Frieden“, Kapitel 2 – „Überlegungen zur Platzierung des Teiches.“ Die einzig mögliche andere Stelle näher an der Mauer (ohne in die Harmonie zwischen Zwergahorn und Buddhastatue zu beeinträchtigen) hätte die kosmische Einigkeit zwischen Steinhaufen und Minipagode zerstört, wohingegen eine Verschiebung der Minipagode die energetische Strahlkraft der Hollywoodschaukel behindert hätte. Was konnte er noch tun? Alles, was ihm nun noch einfiel, war, die Linde abzuholzen. Dann wäre aber die göttliche Verbundenheit mit den Naturkräften im Eimer… Moment.

 

Langsam wurde der Garten in den goldenen Schein der aufgehenden Sonne getaucht. Die Linde erhob sich majestätisch am Ufer des Teichs, ihre Äste und Blätter funkelten metallisch im Morgenlicht.

Nicht ohne Stolz trat er an den Teich heran. Es war noch ein schönes Stück Arbeit gewesen, aber es  hatte sich ausgezahlt. Vor allem den Bronzeglanz am Stamm hatte er wirklich tadellos hinbekommen. Und waren nicht auch Metalle ein Teil der Natur? Im „Leitfaden zum inneren Frieden“ stand jedenfalls nichts Gegenteiliges.

 

So. Schneidersitz. Blick ins Spiegelbild. Gedanken ziehen lassen. Die Anstrengung war eine größere als noch vor wenigen Tagen, aber schließlich begann eine tiefe Ruhe sich allmählich in ihm auszubreiten. Jetzt hatte er es geschafft…

Tipp.

Nein. Das war jetzt nicht wahr. Mit angehaltenem Atem beobachtete er, wie ein Wasserkäfer auf dem Teich aufsetzte und begann, die Wasseroberfläche direkt vor dem Steg zu kreuzen. Mit jedem Schritt des Insekts, der sein Spiegelbild verzerrte, zerbrach ein Stück Zuversicht in ihm. Er stand ruckartig auf, taumelte ein paar Schritte zurück und begann, gegen die Linde gelehnt, hemmungslos zu weinen. Warum sollte es nicht sein? Warum wurde ihm der Weg zur inneren Erleuchtung derart verunmöglicht? Davon stand kein Wort im „Leitfaden zum inneren Frieden“, dem wohl mit Abstand fürchterlichsten Machwerk seiner Art.

Er straffte sich. Sein linkes Auge begann kaum merklich zu zucken. Langsam ging er ins Haus zurück. Es gab noch etwas zu tun.

 

S.sche Morgenpost, Lokales:

 

Ein bemerkenswerter Vorfall ereignete sich gestern in den frühen Morgenstunden in der K.-Straße im Stadtbezirk F. Ein offensichtlich geistig verwirrter Mann wurde aufgegriffen, nachdem er seinen japanischen Garten dem Erdboden gleichgemacht hatte und im Begriff war, auch benachbarte Ziergärten zu verwüsten.  Als auffallendes Detail ist zu erwähnen, dass der Mann im Zuge seines Amoklaufs besonderen Wert darauf legte, die Teiche in sämtlichen betroffenen Gärten mit den begleitenden Worten „spiegelglatt, ich gebe euch spiegelglatt“ zuzubetonieren. Der Hintergrund und der Sinngehalt dieser Worte ist derzeit ungeklärt. Der Sachschaden ist noch nicht bezifferbar.

 

Der Täter ließ sich widerstandslos festnehmen und wurde vorläufig in polizeiliches Gewahrsam genommen. Den Angaben des Wachpersonals zufolge zeigt er eine geradezu manische Fixierung auf die in der Zelle befindliche Waschschüssel und murmelt wiederholt „spiegelglatt… spiegelglatt…“ Ermittler gehen davon aus, dass das Selbsthilfebuch „Leitfaden zum inneren Frieden“ mit der Tat in Zusammenhang stehen könnte. Dies wäre dann bereits der dritte ähnlich motivierte Vorfall.

 

Er sah von seiner Waschschüssel auf und warf einen Blick auf die Titelseite der Zeitung. Wenigstens gab es hier keine Wasserkäfer.