Von Ludwig Wiese

Sie geht von Tisch zu Tisch und gibt den Kindern der 3B die Klassenarbeit in Mathematik zurück. Nachdem sich die Unruhe gelegt hat, erläutert Frau Becker die häufigsten Fehler und bittet die Kinder, die Arbeiten in ihre blauen Mappen zu legen. Ihr fällt auf, dass Laura die Bögen nur achtlos zwischen Arbeitsblätter stopft.

„Bitte achten Sie in Zukunft darauf, dass Lauras blaue Mappe vollständig ist.“ Mit diesem Satz hatte Lauras Mutter das Telefonat vor zwei Wochen ohne Gruß beendet. Nicht schon wieder Ärger mit ihr! Die Klassenarbeit muss in die blaue Mappe, über die die Eltern informiert werden.

Frau Becker geht zu Laura und bittet sie freundlich darum, die Arbeit in ihre blaue Mappe zu legen.

Laura antwortet: „Ich habe keine blaue Mappe.“

Jetzt schauen auch die zwei Rowdys in der hinteren Ecke gespannt. Frau Becker versucht, sich den in ihr aufsteigenden Mix aus Ärger und Stress nicht anmerken zu lassen.

„Alle Kinder haben eine. Auch deine Eltern wollen informiert sein. Also mach es bitte.“

„Die Mappe ist nicht in meinem Rucksack.“

„Wo ist sie dann?“

„Vergessen.“

Frau Becker sieht im Augenwinkel, dass die zwei in der hinteren Ecke feixen.

„Laura, schau bitte nach, ob die Mappe im Rucksack ist.“

„Muss ich nicht. Ich weiß das.“

„Ich fordere dich noch zweimal auf. Bitte schau nach.“

„Will ich nicht!“

„Dies ist meine letzte Aufforderung: Bitte schau nach. Sonst mache ich es!“

Laura antwortet nicht. Sie verschränkt die Arme und sieht Frau Becker mit zusammengekniffenen Augen an. Das kennt sie von ihren zwei Töchtern, als die so alt waren wie Laura. Auch bei denen ging dann mit Argumenten erstmal nichts mehr. Also nimmt sie den Rucksack, stellt ihn auf den Tisch, durchsucht ihn und fischt eine blaue Mappe heraus. Sie legt sie auf den Tisch und fragt: „Und, was ist das hier?“

Im Raum ist es jetzt so still, wie bei einer Klassenarbeit. Die Kinder kennen bereits einige Auftritte von Laura, aber diesmal scheint es besonders spannend zu werden. Was wird sie heute aufführen?

Laura enttäuscht die Kinder nicht. Sie läuft rot an und schreit: „Sie … – Du blöde Kuh. Das darfst du nicht. Das ist mein Rucksack.“ In ihrer Wut hält es sie nicht mehr auf ihrem Stuhl. Sie springt auf und tritt Frau Becker mit voller Kraft gegen das Schienbein. Die schreit vor Schmerz auf und weicht zurück. Laura greift sich Bücher und Arbeitshefte und bewirft sie damit. Frau Becker versucht, einen klaren Gedanken zu fassen: Notwehr? Körperlich wehren? Nicht anfassen! Nicht schlagen! … Sie zieht sich hinter ihren Schreibtisch zurück und schreit Laura an: „Hör sofort damit auf! Setz dich hin! Ich hole deine Mutter.“

Der Hinweis auf ihre Mutter scheint Laura zu beeindrucken: Sie zögert, dreht sich kurz, als würde sie von ihrem Publikum Applaus erwarten und setzt sich auf den Stuhl. Frau Becker nimmt ihr Handy, öffnet die Tür, stellt sich in den Flur und lässt die Tür halb offen.

Sie hat sich mit drei Nummern gerüstet. Es ist dringend, also Handy. Offensichtlich hat Lauras Mutter die Nummer gespeichert. Ohne ihren Namen zu nennen legt sie los: „Frau Becker, was ist? Bitte ganz kurz, ich bin auf dem Weg zu einem Meeting.“

„Laura hatte die Klassenarbeit nicht in die blaue Mappe gelegt. Ich habe sie darum gebeten …“

„Deswegen rufen Sie mich jetzt an? Ich melde mich am Nachmittag.“

„Halt! Ganz schnell: Ich musste die blaue Mappe aus Lauras Rucksack ziehen. Sie hat mich dann angegriffen. Bitte holen Sie Laura sofort ab.“

„Wo denken Sie hin. Ich bin hier in der Designagentur in leitender Position. In den nächsten vier Stunden geht gar nichts.“

„Vielleicht kann Ihr Mann oder …“

Die Mutter unterbricht sie, schlägt einen scharfen Ton an und betont jedes Wort, wie wenn sie in der Firma eine Anweisung gibt: „Sie haben meine Tochter provoziert. Ich muss Laura nicht abholen. Sie hören von mir. Bye.“

Bei einem Spaziergang am Nachmittag versucht Katrin Becker über den Vorfall nachzudenken: Warum musste ihr Mann unbedingt diese Stelle in Hamburg annehmen? An ihrer letzten Schule in der Kleinstadt in Holstein war es einfacher. Obwohl es ihre erste Stelle war, hatte es dort über zehn Jahre immer gut geklappt. Aber hier trifft sie auf Kinder, die es gewohnt sind, immer im Mittelpunkt zu stehen. – Wie geht es jetzt weiter mit Laura und ihrer Mutter? An ihrer letzten Schule hatte Katrin alle Probleme in den Klassen selbst gelöst. Aber in diesem Fall braucht sie Hilfe. Morgen früh wird sie die Rektorin um ein Gespräch bitten.

Am nächsten Tag kommt ihr die Rektorin zuvor. Sie bittet sie in ihr Büro und beginnt sofort: „Frau Becker, Durchsuchung im Klassenzimmer? Wir sind hier nicht bei der Polizei!“

„Lauras Mutter hatte mich darum gebeten, dass ich auf die blaue Mappe achte …“

Die Rektorin unterbricht, äußert Verständnis für schwierige Situationen und weist aber sehr bestimmt darauf hin, dass sie Lauras Rucksack nicht ohne Einwilligung habe öffnen dürfen. Und dann teilt sie ihr mit, was die Mutter gefordert hatte.

Zu Beginn der folgenden Unterrichtsstunde entschuldigt sich Frau Becker bei Laura.

 

***

 

„Jetzt habe ich aber wirklich einen Bernstein gefunden!“, ruft Laura aufgeregt und zeigt Frau Becker stolz den gelbbraun glänzenden Fund. Der Stein hat die Form einer längs halbierten Birne. Frau Becker nimmt ihn in die Hand, hält ihn gegen die Sonne und betrachtet ihn von allen Seiten.

Im Augenwinkel erkennt sie Lauras triumphierenden Blick. Sofort sieht Frau Becker sich ein Jahr zurückversetzt, als sie versuchte Laura in ihrer Wut zu bändigen. Anscheinend hat es all die Monate im tiefsten Inneren gebrodelt und auf die beste Gelegenheit gelauert: Reflexartig wirft sie den Stein in hohem Bogen weg. Laura schaut verdutzt. Frau Becker erklärt ihr, dass es weißer Phosphor sein könne. Der stamme von Brandbomben aus dem 2. Weltkrieg und sei sehr gefährlich. Wenn Phosphor trockne, entzünde er sich von selbst, könne nicht mit Wasser gelöscht werden. An der Nordsee sei auch schon Schlimmes passiert: „Im letzten Jahr hat sich hier in der Nähe ein Mädchen einen gelben Klumpen in die Tasche gesteckt. Kurz darauf setzte eine Stichflamme ihre Jacke in Brand. Das Mädchen konnte sie sich zwar vom Leib reißen, musste aber mit Brandverletzungen ins Krankenhaus.“

Frau Becker sieht, dass Laura endlich einmal beeindruckt ist, ihre Erklärung akzeptiert und dann nachdenklich den anderen Kindern folgt.

Zum Ende des Schuljahres macht die 4B eine Klassenfahrt auf die Halbinsel Eiderstedt. Ein Höhepunkt ist die bei den Kindern beliebte Wattwanderung. Laura schiebt sich in den Halbkreis, den die Kinder vor den Wattführer bilden.

Als sich die Klasse wieder in Bewegung setzt, bleibt Katrin etwas zurück. Sie findet den weggeworfenen Stein sofort und legt ihn in ihre Brotdose. Den Rucksack trägt sie jetzt vorn. Falls es tatsächlich Phosphor sein sollte, könnte sie so noch rechtzeitig reagieren. Sie schließt zur Gruppe auf.

Natürlich wieder Laura! Nach ihrem Wutanfall vor einem Jahr brauchte Katrin einige Monate, um sich von dem Vorfall zu erholen. An ihrer letzten Schule hatte sie viel Lob für ihr Engagement erhalten. Von ihrem Elan spürt sie nur noch wenig. Sie wachte in den Wochen danach häufig nachts auf und musste sich aus Angst vor der Schule manchmal zwingen aufzustehen.

Nachdem sie mit Beginn der Nachtruhe die Zimmer der Kinder inspiziert hatten, sitzt Katrin mit ihrer Kollegin am offenen Fenster ihres Zimmers mit Blick auf die Nordsee. Die Lehrerinnen gönnen sich zum Ausklang des gelungenen Tages ein Glas Sekt.

Monika Bauer ist 55 Jahre alt und hat in den Jahrzehnten Schuldienst einiges erlebt. Im Kollegium gilt sie als energisch, kühl und abgeklärt. Aber Katrin kommt mit ihrer Art gut zurecht, die beiden haben sich sogar ein wenig angefreundet.

Katrin spricht ihr Problem mit Laura an und fragt sie, ob sie einmal etwas Ähnliches erlebt habe. Laura sei ein Extremfall, sie solle sich keine Vorwürfe machen, meint die Kollegin. Sie habe nur einen wichtigen Tipp: Vorschriften genau einhalten, um den Eltern keine Angriffspunkte zu bieten.

Katrin wechselt das Thema: „Es ist lustig, mit welchem Eifer die Kinder nach Bernstein suchen.“

„Wenn sie nur halb so aufmerksam im Unterricht wären, würde es reichen.“

„Weißt du, woran man einen echten Bernstein erkennt?“

Monika hat im letzten Jahr ein Bernsteinmuseum an der Ostsee besucht. Sie doziert, als würde sie vor einer Klasse stehen: „Früher hieß Bernstein auch Brennstein. Er brennt kerzenartig mit rußender Flamme, duftet aromatisch süßlich nach Harz.“

Nach dem zweiten Glas Sekt verabschiedet sich die Kollegin: „Ich sehe nochmal nach den Kindern und gehe anschließend ins Bett.“

Katrin denkt an das nächste Schuljahr: Ich habe viel gelernt. Auch die Vorschriften kenne ich jetzt genau. Neue Klasse, neue Chance, diesmal gemeinsam mit den Kindern und den Eltern.

Sie grinst in sich hinein: Aber für dieses Schuljahr gelten noch die alten Spielregeln. Die kleine Rache hat mir gutgetan.

Katrin schenkt sich ein weiteres Glas ein und schaut auf das im Mondlicht glitzernde Wasser. Ein wunderschönes Bild. Sie schließt kurz die Augen und horcht auf Wellen und Wind. Bei der Wattwanderung war der nicht so angenehm: Sie fand, dass sich die Natur mit dem Wind etwas aufdringlich aufspielte. Doch hier am Fenster fühlt sie sich geborgen.

Sie nimmt den Stein aus der Brotdose und hält ihn am schmalen Ende, als würde er an einer Halskette hängen. Das Rotbraun wirkt im diffusen Licht noch schöner. Sie bewegt ihn in alle Richtungen und bewundert den Glanz mit den verschiedenen Spiegelungen.

Als das dicke Ende nach oben zeigt, stoppt sie, zündet ihr Feuerzeug und hält die Flamme an den Stein. Es stimmt! Der Bernstein entzündet sich leicht und bildet eine wunderschöne Flamme. Katrin mag den harzigen, aromatischen Duft.

Sie hält den Bernstein noch etwas höher, so dass die Flamme das romantischen Naturbild vollendet. Und jetzt sieht sie über dem besonderen Licht der Flamme die Formen und Farben von Meer und Mond sanft verschwimmen.

So etwas Schönes hat sie noch nie vorher gesehen: Hitzeflimmern!

 

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