Von Agnes Decker

Die Nacht hat keine Abkühlung gebracht. Wie eine nasse Wolldecke liegt die Schwüle über dem Land, dämpft die Geräusche und bringt den Menschen unruhige Träume. In dem Raum unter dem Dach setzt sich eine Frau ruckartig auf und horcht. Aber alles bleibt still. Sie schwingt die Beine aus dem Bett und geht vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, ans Fenster. Als wäre er mit Kohle gezeichnet, erstreckt sich der meterhohe Zaun des Geheges fast bis zum Horizont. 100 Hektar. Eingeteilt in mehrere kleine Gehege und einen großen Auslauf mit einem Waldstück und einer Lichtung, durch die sich ein Bach schlängelt.

Die Frau streicht eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht und umschlingt ihren Körper mit beiden Armen. Trotz der Hitze fröstelt sie in ihrem knielangen schwarzen Shirt, das durchgeschwitzt an den Oberschenkeln klebt, und worunter sie nur einen Slip trägt. Sie wirft einen Blick über die Schulter. Die Bettseite neben der ihren ist leer. Das Laken aufgeschlagen, als ob jemand in Eile aufgestanden wäre. Sie wendet sich wieder um und schaut hinaus.

Ein blasser Mond steht tief am Himmel. Bald wird die nächtliche Schwüle dieser unerträglichen Hitze weichen, die jede Bewegung zur sportlichen Höchstleistung werden und den Schweiß in Strömen fließen lässt.

In diesem Moment hört sie  das Geräusch, auf das sie zu warten scheint. Zuerst das klatschende des Aufpralls, wenn der Körper auf den Metallzaun trifft, dann das blecherne Scheppern, das sich wie ein Echo über den gesamten Zaun fortzusetzen scheint.

„Vor nicht allzu langer Zeit wäre ich hinausgerannt und hätte nachgeschaut“, denkt die Frau und schüttelt den Kopf, so als würde sie sich über sich selber wundern. Hätte kontrolliert, ob sie verletzt sind oder der Zaun beschädigt ist. Jetzt möchte sie sich am liebsten die Ohren zuhalten, die Decke über den Kopf ziehen. Schlafen, nur schlafen.

Die Frau dreht sich abrupt um und verlässt das Zimmer, steigt die Treppe hinunter und betritt die Küche. Wieder dieses Geräusch. Der Mann, der am Küchentisch sitzt, zuckt zusammen. Seine Arme hängen herab, als gehören sie nicht zu ihm. Ihn so kraftlos zu sehen, tut weh. Heftig ist dieser Schmerz. Als ob ihr jemand die Haut vom Leib ziehen, das rohe Innere ungeschützt nach außen zerren würde.

Sie versucht, das Bild wegzuschieben, zu verdecken mit einem anderem, mit dem, womit alles begann. Zwei Jahre ist es her. Gerade mal zwei Jahre.

„Willst du mich heiraten, mit mir zurückgehen nach Deutschland und unseren gemeinsamen Traum verwirklichen?“ Uli hält sie fest an sich gepresst. Sie spürt seine Wärme, die Kraft und Liebe, die er ausstrahlt. Seine hellen Augen blitzen, als sie hineinschaut. „Na, was sagst du?“ Jetzt grinst er und sieht fast wie ein kleiner Junge aus. Die Frau spürt, wie ihre Beine nachgeben und hält sich an ihm fest.

„Ja“, krächzt sie. Und dann noch einmal, jetzt etwas kräftiger: „Ja, das will ich.“

„Mit allem?“ Ulis Pupillen haben einen dunklen Rand, der einen scharfen Kontrast zu dem Blau bildet. Augen, in denen man sich verlieren kann.

„Mit allem“, hört die Frau sich sagen, und sie weiß, dass sie gerade über ihr Schicksal entschieden hat. Ihr wird schwindlig. Noch niemals hat sie etwas mehr gewollt, als das.

Dabei war alles eher dem Zufall geschuldet, damals, als sie spontan den Job als Tierpflegerin im Yamnuska Wolfdog Sanctuary annahm. Einer ihrer ehemaligen Kunden, sie war zu dieser Zeit als gefragte Hundetrainerin tätig, hatte ihr erzählt, dass in USA und Canada Wolfshybriden der absolute Hype seien. Schon vor der berühmten Serie „Game of Thrones“ gab es dort Wolfshund-Züchter. Die Serie hatte den Trend weiter angefacht. Ein neues Statussymbol sozusagen: mein Haus, mein Auto, meine Yacht, mein Wolf. Je höher der Wolfsanteil, desto beliebter und teurer, und je wilder desto besser. So, als ob man sich die Kraft und Wildheit einverleiben könne. Dabei waren die meisten gnadenlos überfordert, und die Tiere wurden entweder ausgesetzt oder landeten in einer Auffangstation wie dieser.

Vom ersten Moment an war die Frau völlig verzaubert von der Schönheit und Anmut der Tiere, vor allem von ihrer Lautlosigkeit. Sie schienen fast über den Boden zu schweben, tauchten auf, ohne dass man sie hörte oder sah, wo sie herkamen, und verschwanden genauso schnell wieder.

Dort traf sie auch ihn: Dr. rer. Nat. Ulrich Söller, ebenfalls Deutscher, der als Verhaltensforscher an einer Studie über Wolfshybriden arbeitete. Sie wurde ihm zugeteilt und so verbrachten sie viel Zeit zusammen und irgendwann wurde mehr daraus. Es war ein schleichender, aber sehr selbstverständlicher Prozess. Sie gehörten einfach zusammen. Außer vielem anderen teilten sie den Traum, in Deutschland eine ebensolche Auffangstation aufzubauen und zu betreiben. Denn dorthin war, wie vieles, was zuerst in den Vereinigten Staaten Trend, auch dieser in die alte Welt hinüber geschwappt.

Es war Oktober, als sie die Koffer packten. Die Bäume leuchteten in ihren buntesten Farben. Canadian Summer. Wie sehr haben sie beide dieses Land lieben gelernt, und wie sehr würden sie es vermissen würden, die großartige Landschaft rund um Alberta, die fast immer verschneiten Bergketten, die unendlichen Wälder und Seen, die Offenheit der Menschen und natürlich die gemeinsame Forschungstätigkeit in dem multikulturellen Team, all das, was zu einem Stück Heimat geworden war.  

 

Wie aus einem tiefen Traum erwacht und noch etwas orientierungslos, taucht die Frau aus ihren  Gedanken auf. Draußen wird es langsam hell und im Gehege ist es still. Sie atmet tief durch. Genießt die Ruhe. Mit müden Bewegungen füllt sie das Pulver in den Filter der Kaffeemaschine, steckt Brot in den Toaster und schlägt die Eier in die Pfanne. Schon kurze Zeit später sprudelt und gluckert der Kaffee in die Warmhaltekanne. Sein Duft vermischt sich mit dem nach gebratenen Eiern und gebackenem Brot. Es ist fast so wie früher. Als sie noch glücklich waren, glücklich, und überzeugt davon, das Richtige zu tun.

Seufzend nimmt sie die gefüllte Kanne aus der Maschine und stellt sie auf ein Tablett. Dann holt sie zwei bunte Becher mit passenden Tellern aus dem Geschirrschrank, belädt einen der beiden Teller mit Brot, beschmiert es dick mit Butter, so wie er es am liebsten mag, legt drei Eier darauf und trägt alles zum Tisch. Uli sitzt immer noch bewegungslos da und berührt mit den Fingerspitzen den Kolben des Gewehrs, das vor ihm liegt. Fast zärtlich wirkt es, so, als wolle er es liebkosen. Das Zeichen seines Scheiterns. Dabei wird die Falte tiefer, die, wie ein Graben, seine Stirn in zwei Hälften teilt. So tief wie der Graben zwischen uns, denkt die Frau und schüttelt sich. Als könne sie die dunklen Gedanken damit abschütteln.

Er wird sie erschießen. Das wissen beide. Es ist nur eine Frage der Zeit.

Vorsichtig schiebt die Frau die Waffe ein Stück zur Seite und platziert dort stattdessen den dampfenden Teller. „Du musst etwas essen. Bitte.“.

„Es ist der Neue“, sagt Uli und zieht die Schublade des Küchentischs heraus. Das quietschende Geräusch, das dabei entsteht, schrillt in den Ohren. Uli nimmt Messer und Gabeln heraus. Dann beginnt er zu essen. Stück für Stück schneidet er ab, stopft es in sich hinein. Mechanisch. Wie ein Roboter. Die Frau muss wegschauen, kann es nicht ertragen. Kann gar nichts mehr ertragen. Ist so dünnhäutig geworden. Der Stress. Der fehlende Schlaf. Die Angst. Sie belädt einen zweiten Teller und setzt sich damit an den Tisch.

„ Seit er da ist, haben sie sich verändert. Er hat die wilden Anteile in ihnen geweckt. Sie folgen ihm blind.“ Uli schneidet mit einer harten Bewegung ein Stück des Brotes ab. „Wir können sie nicht mehr kontrollieren. Das alles wächst uns über den Kopf.“ So spricht er er seit Wochen, jeden Morgen. Seit sie ihn angefallen haben. Ihn, der lange Zeit ihr Anführer war, sie lesen konnte. Niemals Angst vor ihnen hatte. Sich gerade noch mit einem Sprung vor ihnen retten und die Tür schließen konnte. Langsam, fast in Zeitlupe, belädt er seine Gabel und führt sie an den Mund. Mechanisch. Wie ein Roboter. Gabel für Gabel. Sein Blick geht durch seine Frau hindurch. So, als wäre sie unsichtbar. Ihr wird kalt. Sie schaut weg und schweigt, kann hören, wie er kaut.

Uli, der immer gut gelaunte, der, wenn er morgens die Küche betrat, als erstes das Radio einschaltete, dann liebevoll den Tisch deckte, laut singend oder fröhlich pfeifend. Der sie, wenn sie verschlafen im Pyjama auftauchte, in den Arm nahm und mit ihr durch die ganze Küche tanzte, bis in den Flur und zurück.

„Das ist aus uns geworden“, denkt die Frau, „zwei Menschen, die sich einmal geliebt und ihre Träume geteilt haben, und die sich jetzt so viel wie möglich aus dem Weg gehen.“

Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie er seinen Teller wegschiebt und nach dem Gewehr greift. „Willst du, jetzt …?“  Sie springt auf und stellt sich vor die Tür. „Du weißt, dass wir uns strafbar machen. Das weißt du doch? Lass uns gemeinsam überlegen … .“  Sie schaut ihm direkt in die Augen, sieht sein Zögern. Wie oft haben sie schon überlegt, das hier alles zu beenden, jeder für sich, wissend vom anderen, ohne mit ihm zu sprechen. Wenn die Verzweiflung größer war als die Zuversicht.

 Uli wendet seinen Blick ab. „Nur den Neuen, Maria. Dass er mich angegriffen hat, werde ich angeben. Und du wirst es bestätigen.“

Die Frau nickt und tritt zur Seite. Schaut ihm zu, wie er die Türe öffnet und sie sich wieder hinter ihm schließt. Dann wartet sie. Das ist also das Ende.

Da fällt der Schuss. Sie läuft los. Der Schweiß rinnt ihr in Strömen den Nacken herunter.

Uli sitzt auf dem Boden. Den Rücken an den Zaun gelehnt, das Gewehr neben sich. Die Tür zum Auslauf steht offen.

„Ich kann es nicht“, sagt er. „Ich kann nicht töten. Habe in die Luft geschossen. Wir werden sagen, dass jemand die Tür aufgebrochen und sie freigelassen hat.“

Die Frau setzt sich neben ihn. Legt ihre Hand auf seinen Oberschenkel. Hinter den Wolken schiebt sich die Sonne hervor und taucht das leere Gehege in ein gleißendes Licht. Es wird ein heißer Tag werden.

 

Version 3

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