Von Raina Bodyk

Kaaden! Wie sehr habe ich mich danach gesehnt, die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, und überhaupt ‚mein‘ Egerland wiederzusehen. Nach vierzig Jahre stehe ich endlich hier und schaue hinüber auf mein altes Zuhause.

 

Meine Mutter blickt über das goldgelbe Rapsfeld und schaut voll Verlangen auf das ockerfarbene Backsteinhaus. Hinter dem Haus fließt ruhig die Eger vorbei, von der sie uns so oft erzählt hat. Die Sonne lässt die Tränen auf ihren Wangen glitzern. Sie wischt sie nicht ab, scheint sie gar nicht zu bemerken. Ich möchte sie gern in den Arm nehmen, aber ich habe das Gefühl, sie ist ganz weit weg und will sie in diesem für sie so berührenden Moment nicht stören.

 

Ich fühle mich ganz wehmütig, wenn ich an Mutti und meine Großeltern zurückdenke. Mein Opa war ein herzensguter Mann und sprach stolz von seinem ‚Dreimäderlhaus‘.

Wenn ich an Omas Buchteln, böhmische Liwanzen oder Hefeknödel mit Pflaumen denke, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Wie die Küche dann geduftet hat!

Fast kann ich das uralte, eichene Treppengeländer, das in mein gemütliches, kleines Zimmer führte, in der Hand fühlen, spüre die Kerben und die Stellen, wo der Lack von vielen Händen abgegriffen ist. Hier habe ich Gedichte auswendig gelernt, Topflappen mit meiner besten Freundin gehäkelt, später dann Tanzmusik gehört und die Boogie-Schritte eingeübt.

Mit meinem Freund habe ich auf dem Bett gesessen, Hand in Hand, ihn sehnsüchtig geküsst. Mein häufiges Gekicher hat ihn bestimmt ziemlich genervt, aber ich hörte immer wieder Mutti und Oma an der Tür vorbeischleichen und horchen, ob wir nicht etwas ‚Unanständiges‘ täten.

Josef hat im Krieg vor Stalingrad gestanden. Ich war so froh, dass er nach seiner schweren Verletzung durch eine Granate nicht mehr an die Front musste. Wer weiß, ob wir sonst jemals hätten heiraten und vier Kinder großziehen können.

Er hat sich eine kleine Möbelfabrik aufgebaut und war dort mein Chef. Er war sehr beliebt bei der fast rein weiblichen Belegschaft, aber er hatte nur Augen für mich. Er war vierzehn Jahre älter als ich mit meinen achtzehn. Er war so erwachsen, sah fantastisch aus mit seinen hellblauen Augen und dem welligen Haar. Ich habe mich sofort in ihn verguckt. Er stellte Kleinmöbel her, die mit bunten Glasmosaiken verziert waren. Wir Frauen, bewaffnet mit buntem Glas, Zange, Glasschneider und Kleber, schufen Tischoberflächen, Hocker, Tabletts, Blumenständer mit immer kreativeren Mustern und Figuren. Josef stellte sogar auf der Leipziger Messe aus. Ich war so stolz auf ihn!
Es war ein so schönes Leben! Bis …

 

Meine Mutter wirkt plötzlich innerlich ganz aufgewühlt und unruhig. Ich versuche, sie abzulenken.

„Mama, wollen wir mal klingeln und fragen, ob du dir das Haus ansehen darfst?“

„Nein, bloß nicht! Das geht nicht!“

„Doch! Ich habe gelesen, dass viele Vertriebene ihre Urlaube in der alten Heimat verbringen. Oft haben sie sogar Freundschaft mit den neuen Eigentümern ihrer Häuser geschlossen.“

„Nein! Nein! Da wohnen sicher Tschechen drin. Da geh ich auf gar keinen Fall hin. Wer weiß, was die mit uns machen. Wahrscheinlich beobachten die uns schon.“

 

Nach dem Krieg mussten wir alle weiße Armbinden mit dem Wort ‚Nemec‘ (Deutscher) in dicken, schwarzen Buchstaben tragen. Wie die Juden den gelben Stern. Wir waren plötzlich Aussätzige, Freiwild. Jeder durfte sich an uns vergreifen. Die Kinder durften nicht mehr zur Schule. Wir mussten schuften, bis wir vor Schwäche umfielen. Kohlen verladen, verstopfte Gemeinschaftsklos reinigen, Schutt wegräumen. Die Tschechen traten die Menschlichkeit mit Füßen, nahmen uns unsere Würde, ebenso wie sie uns später die Staatsangehörigkeit und unser Zuhause nahmen.

Alles, was wir an Wertvollem besaßen, Silber und unseren Familienschmuck aus böhmischen Granaten, hatten wir in weiser Voraussicht schon vor dem Anrücken der Russen im Wald vergraben. Allzu viel war bei uns nicht mehr zu holen.

 

„Siehst du die Bäume da, Brigitte? Da hat der ganze Ort damals sein Geld und seine Wertsachen versteckt.“

„Echt? Vielleicht finden wir was. Komm, gehen wir mal gucken.“

„Ach, das ist doch damals alles zigmal umgegraben worden. Jeden Stein haben die umgedreht.“

 

Dauernd johlten neu angekommene Russen und Tschechen durch die Straßen und durchsuchten unsere Häuser. Sie waren so voll Hass und Zerstörungswut! Wenn sie nichts oder nicht genug finden konnten, haben sie zugeschlagen oder zugetreten. Haben willkürlich alles zerstört, was in ihre Finger fiel.

Opa ist noch in den letzten Kriegstagen gefallen. Ich bin sehr froh, dass er Omas abscheuliche Demütigung nicht miterleben musste.

Ich sehe es bis heute vor mir, wie Oma herzzerreißend geweint und gefleht hat, als der Russe sie grob hochgerissen und ihr die Haare abgeschnitten hat. Sie ist immer so stolz auf ihre hüftlangen, glänzend schwarzen Haare gewesen, die sie zu einem Zopf geflochten und dann zu einem Dutt gedreht hat. Überall haben ihre Haarnadeln herumgelegen. Der gemeine Kerl hat sich halbtot gelacht über ihr Schluchzen. Zur Gaudi seiner Kameraden hat er sie dann noch kahlgeschoren und ihr ein schwarzes Hakenkreuz auf den Schädel gemalt.

„Jetzt du sagen: Ich bin eine Hitler-Hure.“

Oma konnte vor Todesangst nur flüstern.

„Lauter, oder du bist tot!“

 

Mama weint schon wieder. Ob es ein Fehler war, ihr diese Reise zu schenken? Sie wollte doch so gern noch einmal hierher. Sie hat so gestrahlt, als sie ihr altes Gymnasium noch vorfand, den riesigen Friedensplatz mit seinen Arkaden und der großen, beeindruckenden Dreifaltigkeitssäule, die gut erhaltene Stadtmauer mit Turm, die Burg.

 

Im Mai 1945 hörten wir in den Nachrichten, dass in Prag eine richtige Menschenjagd auf die Sudetendeutschen begonnen hatte. Tschechen hatten sich mit Messern, Revolvern, Zaunlatten und Beilen bewaffnet und zogen durch die Straßen. Männer mussten sich auf der Straße nackt ausziehen und wurden nach NS-Tätowierungen abgesucht. Wer SS-Runen aufwies, wurde am nächsten Baum aufgehängt. Die Radiostimme schrie immer wieder: „Tod den Deutschen!“. Es wurde geplündert, vergewaltigt, gemordet.

Panisch vor Angst wagten wir uns nicht mehr aus dem Haus.

Die betrunkenen Soldaten spielten gern ‚Spiele‘ mit uns. Sie trieben Frauen und Männer jeden Alters auf dem Marktplatz zusammen. Sie ließen sie im Stechschritt stundenlang marschieren und SA-Lieder singen. Einer musste jeweils mit einem Hitlerbild voranschreiten. Wehe, sie hoben die Beine nicht hoch genug, sangen zu leise oder hatten einfach keine Kraft mehr, dann wurden sie blutig geprügelt und wie Müll liegen gelassen.

 

Dann kam der 10. August. Dieses Datum ist in meinem Gehirn für immer eingegraben. Die Tschechen warfen uns einfach aus dem Land. Alle Deutschen sollten sich am nächsten Morgen am Bahnhof einfinden. Wir mussten die Schlüssel aller Türen abziehen und sie inklusive eines Stücks Karton, auf dem die zugehörige Adresse stand, mit einer Kordel zusammenbinden. Beim Verlassen des Hauses hieß es, die Haustür verschließen und das Schlüsselloch zukleben.

Nur ein Koffer für jeden. Josef, der schon seit Wochen bei uns wohnte („damit ein Mann zu eurem Schutz im Haus ist“), behielt einen kühlen Kopf, während wir Frauen völlig konfus hin und her liefen. Er bestimmte, was wir einpacken sollten: alles, was zu Geld zu machen war, dann die Ausweise, Fotos aller Lieben und natürlich Kleidung.

„Macht die Koffer nicht zu schwer!“, war sein vernünftiger Rat.

 

„Ihr seid doch damals vertrieben worden. Wie ging das eigentlich vor sich? Mit dem Zug? Zu Fuß?“, frage ich wissbegierig.

„Wir hatten ‚Glück‘. Wir durften mit einigen hundert Leidensgenossen in Viehwaggons steigen. Sie pressten so viele in jeden Wagen, dass wir uns nicht mehr rühren konnten. Vorher mussten wir alle durch eine Sperre, wo man uns die Wohnungsschlüssel abnahm und das Gepäck durchwühlte. Sie ließen uns fast nichts.“

 

Die Fahrt dauerte endlose vier Tage. Oft standen wir stundenlang auf einem Abstellgleis. Aufrecht zwischen uns die Schwerkranken und Toten.

Sie brachten uns ins Lager Hagibor bei Prag. Es war riesig, Baracke an Baracke. Jeweils zwei Holzgestelle übereinander, Strohsack darauf, das waren unsere Betten. Jeden Morgen Appell zur Anwesenheitskontrolle. Die Kräftigeren wurden zur Zwangsarbeit gezwungen.

Fast wären wir verhungert: morgens und abends ein Viertelliter schwarzer Kaffee, eine Scheibe Brot und mittags eine Suppe aus lauwarmem Wasser mit ein paar Kartoffelstückchen drin.

Vom Wasser, aus alten Brunnen herangeschafft, bekamen wir alle die Ruhr. Dennoch durften wir nur dreimal am Tag zu bestimmten Zeiten aufs Klo. Der Gestank, das Gestöhne und die Schreie der Mädchen, die unsere Peiniger nachts aus den Betten holten, waren unerträglich. Werde ich das nie vergessen dürfen?

Erst nach Wochen brachten sie uns über die Grenze.

 

Mich interessiert vor allem eins: „Wie kamt ihr nach Deutschland? Konntet ihr da neu angefangen? Es war doch alles zerstört.“

„Ja, der Anfang war schwer. Wir wurden nicht gerade willkommen geheißen. Ausgebombte Städte, hungernde, obdachlose Menschen.“

 

Wir waren nicht nur nicht willkommen. Wir wurden abgelehnt, ausgegrenzt, beschimpft als Pack, Rucksackdeutsche, Kartoffelkäfer. Die Tschechen kippten uns quasi nur über die Grenze. Der Rest interessierte sie nicht. Die meisten Flüchtlinge kamen wieder in Lager, weil es keine Wohnungen gab.

 

Mamas Gesichtsausdruck zu sehen, tut mir weh.

„Sei ehrlich, hätten wir lieber nicht hierherfahren sollen? Ich wollte dir eine Freude machen und nicht all die schlimmen Erinnerungen wieder bei dir hochkommen lassen.“

„Schatz, das weiß ich doch. Im Moment bin ich sehr traurig und fühle die alte Angst. Ich nehme aber auch all die schönen Eindrücke mit nach Hause. Diese Reise ist wie das Leben, wunderbare Höhen neben grausamen Tiefen. Ich bin sehr froh, dass wir die Reise zusammen erlebt haben.

 

Josefs bittere Bemerkung beim Verlassen unseres Heims fällt mir ein: „Vergesst nicht, die Lampen auszumachen. Diese Unmenschen sollen sich nicht durch ihren Schein eingeladen fühlen!“

Ich werde auf ihn hören und hoffe, ich kann endlich den Schleier der Dunkelheit über all die brutalen Schrecknisse breiten.

 

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