Von Karl Kieser

Es ist mir peinlich, in seinen Sachen zu kramen. Aber ich bin nun mal der letzte Lebende in der Familie. Bevor die Entrümpler kommen und alles in den Müll schmeißen, muss doch jemand die Papiere sichten. Trotzdem komme ich mir vor wie ein Voyeur. Er war doch mein Vater.

Hinter einem Stapel Bücher kommt noch ein kleines Fotoalbum zum Vorschein. Nanu, wieso steht das nicht bei den anderen Alben? Dieses hier habe ich noch nie gesehen. Hatte er es versteckt? Ist es in Vergessenheit geraten oder war es zu klein und unansehnlich neben den protzigen mit den geprägten Lederrücken?
Es sind lauter kleinformatige schwarz-weiß-Bildchen mit weißem, gezacktem Rand eingeklebt. Die meisten sind Schnappschüsse einer jungen Frau. Ein Foto zeigt auch ein junges Paar. Der junge Mann ist eindeutig mein Vater. Die junge Frau, fast noch ein Mädchen, kenne ich nicht. Die beiden sind noch so jung.

Ob sie seine erste Liebe war? Es ist doch klar, dass er schon ein Leben hatte, bevor er meine Mutter traf.
Ganz hinten, vor der letzten Seite, steckt noch eine alte Ansichtskarte vom Gardasee. Frankiert und abgestempelt, aber adressiert an Fräulein Gerda Lupius, hier in der Stadt, nur ein paar Straßen weiter und dicht beschrieben auf dem Grußfeld.

Es liegt ja nahe, dass diese Gerda etwas zu tun hat mit der jungen Frau auf den Fotos.
Das Datum fällt mir sofort auf. Der Absender hat es ordentlich an den oberen rechten Rand geschrieben: 13.7.1962. Ich habe etwas Scheu davor, den Text zu lesen, aber das ist fast 60 Jahre her. Die Urlaubsgrüße können längst nicht mehr relevant sein.
Was ich dann aber lese, macht mich sehr nachdenklich.

Meine liebe Gerda,
ich grüße Dich ganz herzlich aus unserem Sommerurlaub. Das Wetter ist herrlich. Ich wünschte, Du wärest hier.
Wenn ich zurück bin, werde ich unser Herz besuchen. Du weißt schon, an dem Baum gegenüber unserer Bank im Park. Wenn ich dort ein Zeichen finde, dann weiß ich, daß Du Dich für mich entschieden hast. Wenn ich kein Zeichen finde, dann  schlägt Dein Herz doch für Jürgen und ich werde aus Deinem Leben verschwinden.
Ich hoffe sehnsüchtig auf ein Zeichen.
Dein Heinrich.

Mein Vater hieß Jürgen.
Enthüllen diese wenigen Worte auf der alten Postkarte ein Liebesdrama? Hat Gerda meinem Vater die Karte gegeben zur Bekräftigung dafür, dass er der Auserwählte ist?
Und was ist mit dem Herzen im Park? Fehlt dort ein Zeichen?

Die Karte hat mich neugierig gemacht. Ich brauche ohnehin eine Pause und ein Spaziergang im Park wird mir guttun. Ich werde mir die Bäume gegenüber jeder Bank mal näher ansehen und erwarte ein in die Rinde eingeschnittenes Herz mit den Initialen G + H.

Auf einer Bank sitzt eine alte Dame. Sie hat einen verträumten Ausdruck im Gesicht und hält den Blick auf den gegenüberstehenden Baum gerichtet. Wenn ich ihrer Blickrichtung folge, sehe ich dort zwar kein Herz, aber glaube zu erkennen, dass vor langer Zeit die Einkerbungen dort zerstört und unlesbar gemacht wurden.
War das Heinrich oder etwa mein Vater? Sofort empfinde ich eine kollektive Verantwortung und scheue mich, die Narben am Baum näher zu untersuchen. Vor allem auch deswegen, weil ich mir vorstelle, dass die alte Dame Gerda sein könnte.

Auf dem Rückweg mache ich gleich noch einen Abstecher zu der auf der Postkarte angegebenen Adresse. Es handelt sich um ein gepflegtes, mehrstöckiges Gebäude aus der Zeit des Jugendstils. Auf einem der Klingelschilder finde ich tatsächlich den Namen Lupius. Das ist ja nun kein so häufiger Name. Im Zusammenhang mit der richtigen Adresse kann ich wohl davon ausgehen, dass die Familie immer noch hier wohnt.
Einem plötzlichen Impuls gehorchend schwebt mein Finger schon über dem Klingelknopf, da werde ich von einer Frau in mittleren Jahren angesprochen:

„Wenn Sie zu Frau Lupius wollen, dann haben Sie kein Glück. Sie ist um diese Zeit immer im Park.“

Die Frau kommt offensichtlich gerade vom Einkaufen. Sie stellt ihren Einkaufskorb ab, sucht den Haustürschlüssel aus ihrem Schlüsselbund heraus und sieht mich fragend an. Ich starte mein charmantestes Lächeln, aber meine Antwort ist nicht gerade geistreich:

„Oh, sie wohnen auch hier im Haus?“

„Das will ich meinen! Seit mehr als 20 Jahren wohnen wir schon im Haus von Frau Lupius. Und die Hausgemeinschaft achtet aufeinander.“

Das ist eine eindeutige Warnung. Sie macht keine Anstalten, die Haustür aufzuschließen und mustert mich unverhohlen. Als ich nicht sofort antworte fragt sie mich misstrauisch:

„Was wollen Sie denn von Frau Lupius?“

Ich beschließe, weitgehend bei der Wahrheit zu bleiben:

„Ach, im Nachlass meines Vaters bin ich auf den Namen Gerda Lupius und auf diese Adresse gestoßen. Ich wollte mich nur vergewissern, dass sie wirklich hier wohnt.“

Meine Erklärung scheint glaubwürdig zu sein, denn Gerdas Mieterin antwortet etwas milder aber mit einer immer noch durchscheinenden Warnung:

„Ja, das tut sie! Und alle ihre Mieter achten auf die alte Dame.“

Ich verabschiede mich mit ein paar Floskeln und mache mich unter den kritischen Augen von Gerdas loyaler Mieterin davon.
Aus Fräulein Gerda Lupius ist also eine alte Dame geworden. Ich bin mir fast sicher, dass sie die alte Dame auf der Bank im Park war. Anscheinend war sie nie verheiratet. Ob dieser Umstand etwas mit meinem Fund zu tun hat? Irgendetwas stört mich daran, dass diese Postkarte im Besitz meines Vaters war.
Hat er nicht als junger Mann mal vorübergehend bei der hiesigen Post gearbeitet? Und habe ich nicht vorhin noch entsprechende Beschäftigungsbelege bei seinen Rentenpapieren gesehen?
Mein Verdacht bestätigt sich. Bis zu seinem 19. Lebensjahr war er tatsächlich bei der Post beschäftigt.

Ist es denkbar, dass er die Postkarte unterschlagen hat, um einen Rivalen bei seiner Freundin loszuwerden? Wenn Gerda die Karte nie bekommen hat, dann konnte sie natürlich auch nicht für das ersehnte Zeichen sorgen. Wenn daraufhin der feinfühlige Mitbewerber um ihre Gunst sich tatsächlich ohne Rücksprache aus ihrem Leben zurückgezogen hat, ist aus dem denkbaren Vertrauensbruch meines Vaters womöglich ein großer Kummer entstanden.
Und wer hat dann das in den Baum geschnittene Herz zerstört? War es mein Vater, um für Heinrich ein krass negatives Zeichen – vermeintlich von seiner geliebten Gerda – zu hinterlassen?
Dass sie täglich in den Park spaziert und vermutlich auch manchmal auf der Bank gegenüber dem zerstörten Herzen verweilt, kann eigentlich nur bedeuten, dass sie ihrer verlorenen Liebe nachtrauert.

Ich weiß nicht wirklich, was damals geschehen ist. Aber ich kann mich nicht gegen das Gefühl wehren, dass mein Vater als junger Mann in seiner Verliebtheit zu unfairen Mitteln gegriffen hat.
Wäre es da nicht das Natürlichste von der Welt, die alte Dame zu besuchen, von meinem Fund zu berichten und so ein mögliches Unrecht wenigstens etwas gerade zu rücken?

Aber soll ich die Verantwortung für meinen Vater übernehmen und dem vermutlichen Opfer in diesem Drama Auge in Auge gegenübertreten? Wenn es wirklich so abgelaufen ist wie in meinen schlimmsten Befürchtungen, dann muss ich mich für meinen Vater schämen. Es wäre mir unerträglich, stellvertretend für ihn einen zerstörten Lebensentwurf zu verantworten.
Also doch besser nicht rühren an der Vergangenheit und alles dem Sperrmüll überlassen? Vielleicht ist die Geschichte ja auch ganz anders abgelaufen und meine Einmischung reißt unnötigerweise alte Wunden auf.

Schließlich finde ich eine Möglichkeit, die sowohl mein Gewissen beruhigt als auch der möglichen Verantwortlichkeit meines Vaters etwas Humor entgegensetzt.

Einige Tage später liefert die Post ein Päckchen an Gerda Lupius. Die alte Dame ist überrascht. Vor allem der Absender irritiert sie. Neugierig öffnet sie die unerwartete Sendung und liest verblüfft den obenauf liegenden Brief:

Liebe Frau Lupius,

mein Vater, Jürgen Grothe, ist kürzlich verstorben. Bei der Durchsicht seines Nachlasses bin ich auf Dinge gestoßen, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.
Die Ansichtskarte vom Gardasee hat Sie möglicherweise nie erreicht.
Bei einer Flaschenpost kann es schon mal passieren, dass eine tückische Strömung dafür sorgt, dass sie sogar unmittelbar vor dem Ziel noch festhängt und nur durch ein erschütterndes Ereignis wieder freigespült wird. Sollte es in diesem Fall so sein, dann bedauere ich das sehr, denn nahezu 60 Jahre sind selbst für eine Flaschenpost eine unentschuldbare Verzögerung.

Hochachtungsvoll
Thomas Grothe

Gerda Lupius schüttelt befremdet den Kopf. Natürlich hat der Hinweis auf Jürgen Grothe etwas ausgelöst bei ihr, aber das liegt schon so weit zurück. Diese Zeit mit Jürgen ist längst verblasst. Und was erzählt sein Sohn da von einer Ansichtskarte und Flaschenpost?
Verwundert kramt sie nach weiteren Hinweisen zwischen dem Verpackungsmaterial. Das kleine Fotoalbum lässt verschüttete Erinnerungen wieder aufleben. Einige Fotografien erkennt sie. Und dann ist da noch eine sauber gespülte Milchflasche, in der sich eine gerollte Postkarte an die Glasfläche schmiegt. Der Flasche sieht man an, dass sie niemals im Meer, ja nicht einmal in einem Fluss getrieben sein kann. Die große Öffnung ist nicht einmal verschlossen.
Geschickt kann sie die Karte mit einer Pinzette aus ihrem gläsernen Sarg befreien.

Die Karte klärt endlich jahrzehntelange Ungewissheit. Alles ist wieder da. Die schwierige Zeit, als Heinrich, ihre große Liebe, sie ohne ein Wort mit seinem ungeborenen Kind allein gelassen hat. Als sie ihren Sohn gegen alle Widerstände alleine großziehen musste, in einer Zeit, als dass noch ein unauslöschlicher Makel war.
Auch heute noch gönnt sie sich bei ihrem täglichen Spaziergang im Park manchmal eine Rast auf dieser Bank und denkt an die tiefe Enttäuschung, die sie damals das in die Rinde geschnittene Herz zerstören ließ. Eine Träne bahnt sich den Weg über ihre Wange. Es ist eine Träne des Bedauerns, aber auch der Freude. Gleich morgen wird sie ein gelbes Band um den Baum binden. Es ist zwar viel zu spät, aber das ist nicht mehr so wichtig.

V2