Von Justin Janning

Es war ein Sonntagnachmittag, als es an der Tür klingelte. Vom Läuten der Klingel irritiert, unterbrach Norman sein Cellospiel und ich stellte meine Teetasse ab, um an die Tür zu gehen. Wir erwarteten weder Besuch, noch sollte die Post an einem Sonntag eintrudeln, doch entgegen meiner Erwartung empfing mich eine klobige Holzkiste auf unserer Türschwelle. Ein Lieferant war weit und breit nicht auszumachen. Norman war ebenso verdutzt wie ich, als wir das unerwartete Lieferstück in unser Wohnzimmer verfrachteten und vergeblich versuchten einen Absender zu identifizieren.

Die Kiste sah aus, als wäre sie aus beliebig herumfliegenden Holzplanken bedürftig zusammengehämmert worden. Rostige Nägel guckten an mehreren Stellen aus dem teils morschen, teils abgesplitterten Holz hervor. Vergilbte und unleserliche Etiketten in allen Formaten und Größen verklebten einen Großteil der eigenartigen Fracht.

Wir brachen sie auf. Eine aus Staub, Ruß und toten Fliegen zusammengesetzte Wolke ergoss sich in unser Wohnzimmer. Noch während ich über diese Überraschung fluchte, machte sich mein Mann daran, den restlichen Inhalt zu inspizieren. Zum Großteil bestand dieser aus zerknitterten, wahllos umherfliegenden Zetteln, die ebenso vergilbt und in Mitleidenschaft gezogen waren, wie die Etiketten auf der Außenseite der Kiste. Weiterhin fanden wir ein halbes Dutzend altmodischer Aktenordner, die ihrerseits das Sammelsurium der Zettelei erweiterten. Das Prunkstück aber lag ganz unten. Ein zerfressenes Tuch, das aus mehr Löchern als Stoff bestand und dazu verwendet worden war, etwas zu verhüllen. Eine kastanienbraune Violine mitsamt Bogen kam darunter zum Vorschein.

Die Zettelwirtschaft enthielt, soweit ich es beurteilen konnte, nichts weiter als Notenpapier. Die horizontalen Balken waren bis auf den letzten Millimeter handschriftlich mit Noten ausgefüllt worden. Für das Musizieren habe ich kein höheres Verständnis, aber auf Norman verfehlten die Notenblätter und das beiliegende Musikinstrument ihre Wirkung keinesfalls. Obwohl er nicht Violine, sondern das Cello spielte, schienen die Anleitungen auf dem Papier ihn beim ersten Lesen bereits so zu begeistern, als liefe die dazugehörige Musik bereits durch seinen Kopf.

In den nächsten Tagen widmete er jede freie Minute den verschmierten Noten auf den alten Papieren. Es war anscheinend kein Problem, die überlieferte Melodie auf seinem Cello wiederzugeben. Abend für Abend schloss er sich in seinem Büro im dritten Stock ein und ich hörte die sanften Töne seines Instruments, die sich so liebevoll aneinanderreihten, als wären sie vom Schicksal dazu bestimmt worden, auf dem Notenblatt nebeneinanderzustehen. Ein perfektes Gehör habe ich sicherlich nicht, doch könnte ich schwören, dass ich nach den ersten Abenden des Musizierens ein weiteres Instrument neben Normans Cello wahrnehmen konnte.

Als ich ihn eines Morgens bat, mir doch einmal dieses Lied persönlich vorzuspielen, wirkte er wütend, ja sogar entsetzt darüber, dass ich ihn bei seinem bisherigen Spiel belauscht hatte. Er wies mich an, ab dem heutigen Tag vom dritten Stock fernzubleiben, wenn er sich seinem Instrument hingab.

Sowie er das Haus verließ, begab ich mich in das oberste Stockwerk unseres Hauses und sah mich in seinem Büro um. Das spärliche Zimmer im Dachgiebel war über und über mit den gelblichen Notenzetteln tapeziert worden und auch das Parkett war nahezu komplett mit den Zetteln ausgelegt. Lediglich vor dem runden, gardinenbehangenen Fenster machte die Papierflut halt. Ein Hocker und das Cello von Norman standen in der Mitte des Raumes, von hier konnten alle Zettel gleichermaßen gut eingesehen werden. Auf dem ebenfalls verzettelten Schreibtisch sah ich die alte Holzkiste wieder und daneben die alte Violine, ohne das Tuch, in das sie einst eingewickelt war.

Der Anblick bereitete mir Sorgen, es wirkte wie das Spielzimmer eines Verrückten. Ich entschied mich noch einmal einen Blick in die Holzkiste zu werfen. Die Aktenordner lagen noch darin, doch waren die meisten davon nun komplett entleert. Ich nahm den einen, der noch ein Blatt enthielt, in die Hand und öffnete ihn. Es war das erste Schriftstück, das keine Noten, sondern Buchstaben aufwies. Mit schwachem Bleistiftstrich aufgetragen, konnte ich noch Spuren von Wörtern ausmachen. Zweifelsohne war der Zettel keinen Tag jünger als die Notenblätter. Ich konnte keinen zusammenhängenden Sinn erkennen, lediglich ein Satzfragment überhaupt entziffern: „… der Engel der Musik Tru’nembra. Am Ende beginnend…“.

Meine Entdeckung in Normans Büro verunsicherte mich zutiefst. Ich konnte mir keinen Reim aus dem Verhalten meines Ehemannes machen, den ich bisher so gut zu kennen geglaubt habe. Mir blieb nichts weiter übrig, als auf seine Rückkehr zu warten und ihn zu konfrontieren. Irgendeine Erklärung für seine Besessenheit mit dieser Melodie musste es geben. Als er schließlich heimkehrte, war seine Wut über meine Nachforschungen noch größer als am Morgen. Ich hätte davon keine Ahnung und solle mich heraushalten. Im Angesicht dieses irrationalen Verhaltens hatte ich tatsächlich keine Ahnung, wie ich mich gegenüber Norman verhalten sollte. Diese Angelegenheit bereitete mir Kopfweh und ich verfluchte den Tag, als die Holzkiste unser Heim erreichte.

In dieser Nacht fanden die Ereignisse, die mit dieser Melodie Einzug in mein Leben gehalten hatten, ihren Höhepunkt. Die Musik aus Normans Büro begann wieder in ihrem lieblichen Klang anzuschwellen. Ich saß auf der Treppe zum dritten Stock und lauschte besorgt mit geschlossenen Augen. Das Cello spielte Töne, die mal dröhnend, mal zurückhaltend wie eine Gezeitenwelle vor und zurück wichen. Ich saß eindeutig auf der Treppe, doch ich fühlte mich als wäre der Boden unter mir in Bewegung, als würden die Töne mich ziehend, schleppend tragend in Bewegung setzen. Ein musikalischer Wind schien mich anzutreiben, mitzunehmen und fortzureißen, ohne dass ich mich physisch bewegte.

Ich schlug meine Augen auf und sah die Musik. Mein Körper versuchte die himmlischen Töne so gut er konnte zu verarbeiten und wo mein Gehör allein scheiterte, mussten meine Augen aushelfen. Ein turbulentes Sternenmeer spendete mir Licht in der Dunkelheit, die mich so plötzlich umgeben hatte. Titanische Wolkenherde und archaische Lichtbögen, die noch kein Mensch je bezeugen konnte, flogen an meiner Wahrnehmung vorbei, wie auch jene Melodie. Mit dem Voranschreiten des Liedes wurde ich mir eines gewahr: Die Reise hatte ein Ziel, eine ultimative endgültige Destination. Die Vorstellung, allein diese zu erreichen, machte mich wahnsinnig.

Da hörte ich es eindeutig. Zwischen die Wogen von Normans Cello hatte sich das schrille Spiel einer herrischen Violine gemischt. Wie in einem Tanz, bei dem die Partner um die Führung kämpfen, verflochten sich die kontrastierenden Töne und erzeugten ein manisches Duett, von dem ich nicht entscheiden konnte, ob ich es bezaubernd oder übelerregend finden sollte.

Es regte allerdings meinen Willen an, etwas zu tun. Ich befahl meinem Körper seine verbliebenen Sinneskräfte zu sammeln und aufzustehen. Als wäre mein Tastsinn von der Überbeanspruchung von Gehör und Sehen geschwächt, hatte ich Probleme, die Treppe und das Geländer zu spüren, aber es war eindeutig noch da. Langsam stolperte ich die Stufen hinauf und trat an Normans Bürotür, während um mich herum das universale Chaos tobte, das versuchte mich in sein Zentrum zu ziehen. Die Tür war nicht abgeschlossen, aber dennoch nicht zu öffnen. Die bloße Präsenz des musikalischen Ausstoßes schien von innen dagegen zu drücken. Wenn ich von draußen bereits so stark zu kämpfen hatte, so wollte ich mir nicht vorstellen, in was für einen aussichtslosen Kampf Norman verwickelt war.

„Beginn am Ende!“, rief ich ihm zu. Dieser eine kryptische Hinweis, den ich auf dem fleckigen Notizblatt hatte entziffern können, jagte mir durch den Kopf. Es war die einzige Idee, die ich hatte, um diese manische Fuge zu stoppen. Zunächst geschah nichts, doch dann änderte sich der Ton des Cellos. Als hätte es bei voller Geschwindigkeit eine Vollbremsung und dann eine Kehrtwende gemacht kreischten seine Saiten auf. Die Melodie, die sie jetzt spielten, war vollkommen anders als zuvor, sie klang nicht ansatzweise so lieblich wie bisher und nur annähernd musikalisch. Es war, als hätte man bei einem Plattenspieler die verkehrte Drehzahl eingestellt.

Die Violine reagierte darauf mit einem tonalen Sprung, den ich nur als Verärgerung beschreiben kann, die kurz darauf einer ausgewachsenen Panik Platz machte. Sie wagte noch ein paar klägliche Notensprünge, bevor sie in den Wellen des Cellos ertrank und verstummte.

Urplötzlich kehrte die Normalität in unser Haus zurück. Mit einem Rumpeln verstummte die Musik in Normans Büro, meine Umgebung sah wieder aus, wie das mir bekannte Treppenhaus und die Tür gab mir endlich nach. Das absolute Chaos hatte sich im dritten Stock breitgemacht. Die Notenblätter hatten sich von den Wänden gelöst und quer im Raum verteilt, das einzige Fenster des Raumes war von seiner Glasscheibe befreit. Sowohl Normans Cello als auch die unheilvolle Violine lagen qualmend auf dem Boden. Die kastanienbraunen Instrumente waren stellenweise angeschwärzt und ein ätzender Brandgeruch lag in der Luft. Mein Mann selbst lag neben seinem Hocker auf dem Boden, seine Arme fuchtelten wie von einem Puppenspieler kontrolliert umher, als würden sie noch immer versuchen, ihr Instrument zu bedienen.

Der Tag, an dem wir die verhängnisvolle Kiste erhielten, jährt sich heute zum ersten Mal. Normans Zustand hat sich seitdem wieder gebessert, aber er ist noch nicht wieder vollends genesen. Katatonie nennen es die Ärzte. Cello kann er nicht mehr spielen und ich bin mir sicher, dass er das gar nicht mal bedauert. Die einzige Melodie, die heutzutage an Sonntagnachmittagen noch in unserem Haus zu hören ist, kommt aus dem Radio. Norman hört nach wie vor gerne klassische Musik, wenn aber mal ein Violinkonzert zu hören ist, schalte ich es lieber aus.

 

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