Von Jochen Ruscheweyh
Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter.
„Das ist nicht dein Ernst, Charly, oder?“
„Verschwinde aus meinem Leben und geh anderen Leuten auf den Sack!“, fuhr ich ihn an, noch bevor ich mich komplett umgedreht hatte.
Sein Tsk, Tsk, Tsk hatte die Qualität eines undichten Wasserhahns, nur, dass die Tropfen nicht in ein darunterliegendes Waschbecken plitschten, sondern direkt auf meine Psyche, offensichtlich mit der festen Absicht, sie zu höhlen.
„Ein Praktikum in der Kita? Jetzt komm, Charly. Bastelkleber schnüffeln ist sicher ganz spaßig, aber den Kick kannst du auch weniger stressig bekommen. Herrgott nochmal, Junge, du bist Autor und Künstler, verschwende dein Talent nicht zwischen Bibi Blocksberg und Bob, der Baumeister.“
Ich fuhr mit dem Servietten falten fort, während ich ihm vorhielt: „Talent? Ha! DU hast doch keine Gelegenheit ausgelassen, mich spüren zu lassen, was du von meinem künstlerischen Talent hältst. Apropos Talent: ich kann deine ständigen Alliterationen nicht ausstehen!“
„Nun ja“, entgegnete er, blies einen roten Luftballon auf und legte ihn in die Box mit den bereits fertigen. „Lass es mich so ausdrücken: In dir schlummert etwas, aber aktuell ist es noch kein Rohdiamant, den man schleifen könnte.“
„Was dann?“
Er blies einen weiteren, diesmal blauen Ballon auf, bevor er sagte: „Eher deutscher Eierkohlen-Bruch.“
„Jan-Luca, kannst du nachher am Gebäckstand helfen?“, hallte die Frage der Gruppenleitung durch den Raum.
„Ja, alles klar, mach ich gerne“, gab ich zurück. Und an den inkognito auf der Kita-Party anwesenden Weltbestsellerautoren: „Gib das her!“
Aber er war bereits mit meinem Notizbuch in der Hand aus dem Fenster in den Garten gestiegen.
Nach einer Stunde am Gebäckstand, während der ich so illustre Kinder-Bestellungen wie ein Stück Walfischkuchen oder eine bewundernswerte Dinkel-Möhren-Schnitte entgegennahm, machte ich Pause, setzte mich etwas entfernt vom Geschehen auf den Rasen und packte mein auf acht Millimeter geschnittenes Sechskornbrot aus.
Wenn man noch nie mit Kindern gearbeitet hat, weiß man nicht, welchem Geräuschpegel Erzieherinnen und Erzieher täglich ausgesetzt sind. Ich aß mein Brot und genoss die Ruhe.
Bei meinem letzten unfreiwilligen Klinikaufenthalt hatte man mir Meditieren als Stressreduktor vermittelt; eine Technik, die ich immer noch zu schätzen wusste.
Es fiel mir besonders dann leicht, mich fallen zu lassen, wenn ich mich auf einen konkreten Gegenstand konzentrieren konnte. Ein kapitaler, Champignon ähnlicher Pilz auf der Wiese kam mir da wie gerufen. Ich fokussierte meinen Blick auf seine Kappe, so stark, bis er sich immer weniger von der Wiese abzuheben, quasi eins mit ihr zu werden schien. Ich konnte die kühle Struktur seiner unterseitigen Lamellen nahezu fühlen, als sich irgendetwas aus dem Hintergrund löste und mit großer Geschwindigkeit auf den Pilz zuhielt.
Es klang einem Schnalzen ähnlich, als der inkognito auf der Kita-Party anwesende Weltbestsellerautor den Fungiten mit dem Spann traf und über ein Gebüsch hinweg gen Himmel kickte.
„Verdammt, was sollte das denn jetzt wieder?“, brüllte ich ihn an, bereits in der Erwartung, keine befriedigende Antwort zu erhalten.
„Pilze sind die Ohren Gottes hier auf Erden, ohne sie wäre er taub und würde nicht mitbekommen, was wir reden.“
„Wen interessiert, ob Gott lauscht? Wenn’s einen stört, soll er sich von mir aus beim Papst beschweren.“
Er legte mir beinahe väterlich den Arm um die Schulter und weihte mich ein: „Gott, Jesus und Reinhard Mohn arbeiten da oben“ – er zeigte auf den leicht bewölkten Himmel – „an einer neuen Bibel und ich habe keine Lust, dass mein geistiges Sprecheigentum da ungefragt miteinfließt. Soviel Copyright muss sein.“
„Dein Ego verursacht mir Brechreiz“, stellte ich klar.
„Schwerkraft/Fliehkraft/Bremskraft, bin ich Physiker?“, las der inkognito auf der Kita-Party anwesende Weltbestsellerautor wohl als Replik mit betont verstellter Stimme aus meinem Notizbuch vor. „Figurenskizze: Typ zieht sich beim Einfahren des Zugs in den BHF einen Schuh aus und steht jetzt einbeinig (etwas aus dem ausgezogenen Schuh fummelnd) da. Zug bremst. Er kommt ins Straucheln. Rudert relativ unbehände mit den Armen. Fängt sich wieder. Sieht mit einem Auge den Bus an der Haltestelle. Aber wohl nicht richtig. Versucht, durch dynamische Bewegungen an dem Typen, der vor ihm am Eingang steht, vorbeizugucken, stößt dabei mit seiner Kappe gegen das Haltestellendisplay, die daraufhin runterfällt. Versucht Kappe mit der (der unterstrichen) Hand aufzuheben, in der er den ausgezogenen Schuh hält. Tür öffnet, er brüllt hey mein Bus, was der Fahrer nicht hören kann. Charly, Charly, das ist noch nicht mal Eierkohlen-Bruch, wenn überhaupt, dann ist das verpökelte Grillholzkohle.“
Ich riss ihm mein Notizbuch aus der Hand und ließ ihn stehen.
Wieder auf dem Weg zum Gebäckstand entdeckte ich die definitive instagram-influencer-queen of all times to come auf einem dieser Kita-Mini-Hocker. Wäre sie nicht so groß und ihr Gesicht mir bekannt gewesen, hätte ich auf ein neues Integrationskind getippt, da sie hektisch versuchte, sich mit der flachen Hand ins Gesicht zu schlagen. „Charlie, Charlie Hannover!“, rief sie, als sie mich entdeckte, „Dich schickt der Himmel. Heute ist Selfpunishment-Day und ich brauche unbedingt ein Selfie, wie ich mir eine Ohrfeige gebe, aber es will einfach nicht funktionieren. Weißt du, Charly, ich glaube, der Gedanke hinter IOS und Android ist pure Liebe, und die Entwickler wollten nicht, dass wir uns selbst wehtuen. Und deswegen klappt es nicht mit der Ohrfeige. Kannst du mir helfen?“
Ich sah davon ab, ihr zum wiederholten Male zu erklären, dass mein Name nicht Charly Hannover war, wandte stattdessen ein: „Aber ist es dann noch ein Selfie?“
„Oh, das ist so typisch für dich, Charly! Immer projizierst du deine fehlende Assoziationsfähigkeit auf andere.“
„Hör zu, ich bin weder …“
Aber sie war bereits dabei, sich selbst zu videoclippen, wie sie ihren Kopf in behutsamer Geschwindigkeit, offenbar damit der Clip nicht verwackelte, gegen die Wand schlug und dabei sagte: „Hier ist eure Tory Famous und wir haben Selfpunishment-Day!“
Während meiner Gebäck-Schicht dachte ich darüber nach, wieso ich mich immer schlecht fühlte, wenn jemand meine Texte kritisierte.
Ich schrieb bereits so lange und hatte mich kontinuierlich verbessert, dass mir eigentlich egal sein konnte, was andere darüber dachten.
Insbesondere ein inkognito auf einer Kita-Party anwesender Weltbestsellerautor.
Nachdem ich das letzte Stück Marmorkuchen mit Sahne an eine Laktose-intolerante Helikopter-Mutter („Seien sie unbesorgt, Jan Luca, ich nehme gleich die Pille, oh, das war jetzt etwas doppeldeutig.“) ausgegeben hatte, entschloss ich mich, ihn zur Rede zu stellen.
Statt ihn fand ich jedoch nur sein Jackett im für Regen komplett gedeckten Gruppenraum der kleinen Großstadttiger vor.
Ich schaute mich um.
Niemand in Sichtweite.
Also griff ich in die Innentasche, in der Erwartung, irgendetwas Persönlichem von ihm habhaft zu werden.
Zum Vorschein kam ein Din A6 großes Buch, dessen Cover vor Blumen und geschwungenen Schriften nur so überquoll, die ihrerseits ein Portrait des inkognito auf der Kita-Party anwesenden Weltbestsellerautors umrandeten.
Ich entdeckte ihn selbst schließlich im Garten und konfrontierte ihn mit meinem Fund.
„Edward Prickharty schreibt als Fabiene van Oyster?“, fragte ich, „was zur Hölle soll das?“
„Ein erotischer Haushaltsratgeber. Manchmal muss man sich neu erfinden und manchmal findet ein neues Topic einen. That’s what it is all about.“
„Aber warum die Pseudonym-Verschachtelung?“
„Frauen lieben Männerphantasien, aber können das natürlich nicht zugeben, daher der Umweg über das Doppelpseudonym.“
„Das ist doch Effekthascherei, ausgemachter Blödsinn und ein Frauenbild aus den frühen 50ern.“
„He, die Kaffeetafel ist kein Ouijaboard, Sportsfreund, also hör auf, hier alles hin und herzuschieben, sonst sorg ich dafür, dass deine Eltern dich nie mehr abholen kommen und du in diesem Dreckskindergarten verschimmeln kannst“, blaffte der inkognito auf der Kita-Party anwesende Weltbestsellerautor einen kleinen übergewichtigen Jungen an, den ich in der Parallelgruppe wähnte.
Etwa zeitgleich schob sich ein mir unbekanntes bebrilltes Kind in den Vordergrund, öffnete seinen Hosenschlitz und urinierte zu unseren Füßen. Dann sagte es: „Das Kaninchen riecht den falschen Hasen!“
„Tja, Kindermund tut Autorenqualität kund“, spiegelte mir der inkognito auf der Kita-Party anwesende Weltbestsellerautor.
Woraufhin der bebrillte Junge mir unterstellte: „Und deine Schreibe hat Mixomatose.“
„Ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst“ entgegnete ich.
„Das wissen Sie doch ganz genau. Sie gehören halt zu denen, die zehn rote Fäden aus zehn Romanen in einer Kurzgeschichte unterbringen wollen, ja, genau so einer sind Sie.“
Einen Moment später ging das Kind auf den inkognito auf der Kita-Party anwesenden Weltbestsellerautoren zu und hielt die Hand auf. Letzterer zog einen offensichtlich druckfrischen Schein aus seiner Brieftasche und legte diesen in dessen Hand, bevor er: „Danke, Stewart-Mortimer Junior!“ anfügte.
Der Schein zerknitterte unter dem Griff des Jungen und wanderte in dessen Tasche. Dann dreht er sich zu mir um: „Und nur damit du es weißt: das hätte ich auch ohne Bezahlung gesagt.“
Ich suchte noch nach einer Antwort, als Junior unter meinem skeptischen Blick auf die Größe einer Handpuppe schrumpfte, die der inkognito auf der Kita-Party anwesende Bestsellerautor in der Innenseite seines Sommer-Jacketts verschwinden ließ. „Ach“ seufzte er, „ich liebe meinen Taschen-Lektor, ich finde, jeder sollte einen haben.“
Wie zur Legitimation seiner Existenz tönte es aus dem Jackett-Inneren: „Deine Prämisse ist Pisse!“