Von Bernd Kleber

 

                                                                                            …Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn
Und dann werden tausend Märchen wahr….

 Bruno Balz, Michael Jary

 

„Ick bin dann zur Polizei jegangen. Der Mann war ja nicht mehr anzusehen, so hatte er abjenommen und jelitten. Seine Frau, die Hilda, war spurlos verschwunden.“

Meine Ellenbogen schmerzen. Die geklöppelte Tischdecke hat ein rotes Muster tief in die Haut geprägt, wie mit einem Brenneisen.

„Von Hilda hast du noch nie erzählt!“, stelle ich fest. Die Ferien bei meiner Oma sind immer spannend und wunderschön. Ich liebe ihre Geschichten einer fernen Zeit.

„Ach weest de, diese Hilda war mir wirklich eine gute Freundin, und unsere Nachbarin. Offiziell wurde sie nie jefunden.“

„Was ist passiert?“

„Dat is ne lange Geschichte.“

„Erzähl Oma, erzähle!“, ich rutsche auf der Couch hin und her. Meine Omi sitzt im großen Klubsessel und blickt mich lange an.

„Hilda war die erste Frau in Brandenburg, die Hosen trug. Dat war so was, was man heute Skandal nennen würde.“

„Wieso? Marlene Dietrich trug doch auch Hosen.“

„Ja, das war auch ein Skandal und die Dietrich war offiziell undeutsch und Vaterlandsverräterin. Die war ja rechtzeitig abjehauen.

Also diese Hilda hatte stahlblaue Augen und einen kurzen blonden Bubischnitt und trug eben Hosen. Sie sah aus wie een Mannequin. Und wenn se bei uns die Straße runterlief, drehten sich alle nach ihr um. Die meisten Kerle waren verrückt nach ihr. Ihr Mann war ein so netter lieber Zeitgenosse, immer anständig, nie ein böses Wort. Samstags klingelte er bei uns, setzte sich zu mir inne Küche und war traurig, dass er ein so schlechtes Zuhause habe. Ick bin dann rüber, habe an de Tür geklopft und jerufen: Mensch Hilda, du dumme Kuh, dein Kerl sitzt wieder bei mir und flennt. Was machst de mit dem, komm und sei ihm lieb. Hilda öffnete die Tür, lachte und wedelte mit einem Lappen vor meener Nase rum, meinte, der solle sich mal nich´ so haben. Samstags ist Putz- und Frauentag.

Alle Stühle war´n hochjestellt, die Teppiche beiseite jerollt, und überall roch es nach Bohnerwachs und Soda. Mensch Hilda, hab ick dann jesagt, dein Mann will it doch nur jemütlich haben, nun mach doch nicht jede Woche son Federlesen hier. Und wat bedeutet´it eigentlich, dass er bis Abend nicht wieder rein darf inne jute Stube?

Da hat mich die Hilda umarmt, janz fest und mir einen Kuss auf meinen Hals jegeben, dort wo die Halsschlagader pulsiert und der Puls hat den Kuss als eine Gänsehaut bis zu meinen Pobacken geschleudert. Ick habe mich freijeschüttelt und Hilda! jerufen, da flüsterte sie in mein Ohr, ick könne ja auch mal zum Mädchenabend rüberkommen. Mir wurde janz schwindelig und unheimlich.“

Omas Wangen glühen.

„Sie war ´ne tolle Frau, sie lachte und sang alle Schlager nach. Sie imitierte die Leander und die Röck. Sie steppte sojar für uns. Dem Karl küsste se dann sinnlich uff de Stirn und zog an seinem Schlips, wie die Dietrich, und man sah dann Karls Leuchten, der keinen Blick von seiner Frau ließ. Wir waren eben befreundet. Otto und Karl sprachen viel über Politik. Mein Otto wollte den Kaiser zurück und Karl eine Arbeiterkommune wie in Russland.

Allet war schön, wir waren eine nette Nachbarschaft und hatten keene Geheimnisse. Bis uff det eene eben. Wenn Hilda Samstag Putz- und Frauentag hatte, dann waren wir raus aus de Nummer. Auch Karl.“

„Was bedeutet das, raus aus der Nummer, Oma?“, ich kaue meine Unterlippe. Und verrate nicht, dass ich ihr Schwindligsein nach dem Kuss mit der Gänsehaut auch nicht verstanden habe.

„Na dir muss ick doch nischt mehr erklär´n, oder? Sie hatte es mit Frauen! War kesser Vater! Aber wie der olle Fritz schon jesacht hat: Jeder soll nach seiner Façon selig werden. Mir war dit egal, denn schließlich liebten sich Karl und Hilda sehr, dat merkte man immer wieder. Aber diese Sucht nach Frauen, die hatte sie auch. Sie hat einmal zu mir jesagt, sie fühle sich dann frei wie der Wind, frei wie die kleinen Fallschirmsamen der Pusteblume, wenn sie über Sommerwiesen geblasen werden. Und darum hat se jeden Samstag den Alten rausjeschmissen, geputzt wie der Teufel und dann kam ihr Besuch, Damenbesuch. Dann verwandelte sie sich von der jelben Butterblume in die luftige Pusteblume und fühlte sich frei. Und wie laut dit manchmal drüben war. Karl hockte dann bis inne Nacht bei uns und aß bei uns auch Abendbrot. Deine Mutter war so alt wie du jetzt und ließ sich von ihm Märchen vorlesen. Hilda und Karl hatten ja keene Kinder.“

„Was hat die Hilda denn dort gemacht? Und warum bist du zur Polizei?“

„Ach Mäxchen, dat verstehst de wohl doch noch nich… „

„Bitte Omi, erzähl, wieso war Hilda weg?“

„Herrjeh, irgendein anderer Nachbar hat sie scheinbar anjeschissen. Es gab so viele Verblendete und Verwirrte, so viele böse Menschen hatten plötzlich wat zu sagen. Mein Otto hat immer jesagt, das Deutschland jetzt ein Land ist, indem die Sadisten die Macht haben. Und andere wurden denunziert. Ick fürchtete immer, irgendwer könnte Otto mal hören und anzeigen. Er nahm einfach keen Blatt vorn Mund.  Na und die Hilda war nun weg… an einem dieser Samstage war sie spurlos verschwunden.

Karl war gegen zehn Uhr abends rüber jegangen und kam fünf Minuten später wieder klingeln. Ick dachte schon, mich laust der Affe. Als ick öffnete, stand da ein Häufchen Elend, bibberte und rief, Gertrud, Otto, kommt schnell und seht. Otto und ick sind dann rüber, da waren alle Stühle umjerissen, einige kaputt, in der Küche das Fenster eingeschlagen, Blut auf dem Terrazzo-Boden. Eene Scheibe in der Wohnzimmertür auch hin.“

„Was war passiert?“, ich bin so angespannt, dass eine Nadel mich zum Platzen bringen könnte wie einen Luftballon.

„Dat wussten wir ja nich, mein Junge. Wir hatten im Garten-Zimmer Radio jehört und Wein jetrunken, wir haben nicht jehört, wat nebenan passiert ist.“

„Was hat Karl dann gemacht?“

„Der Karl war nur noch ein Jammerlappen seiner selbst und ick bin nächsten Tag mit Otto uff de Wache.“

Mein Jott haben die da wieder een Gedöns jemacht. Ick wees dat wie heute. Otto war ja so stur, der hat ja nie den deutschen Gruß jemacht, ick habe immer jesacht, Otto, die holen dich eines Tages noch ab … er hat dann nur jewettert, diese braune Sch… wird sich sowieso nich halten, was für eine Schande für unser Reich.“

Ich muss kichern, weil Oma das Wort Scheiße nicht ausgesprochen hat.

„Ick habe ihn dann immer sofort unterbrochen und jesagt, er soll ruhig sein. Na jedenfalls, wir in die Wache rin, da kam so ein ganz Strammer. Hätte mein Sohn sein können. Scheitel mitn Beil jezogen, Nacken, Schläfen abrasiert. Mensch, der Junge sah aus, wie´n Zuchthäusler, knallte die Hacken zusammen, riss den Arm hoch und brüllte: ‚Heil Hitler!‘.

Mein Mann wieder so leichtsinnig: ‚Für Gott, Kaiser und Vaterland!‘, ich wedelte mit der Hand und mein Herz pochte.

Da schrie der Zinnsoldat, das sei kein deutscher Gruß und die Zeiten des Kaisers seien lange vorbei, ob Otto schon von der Bewegung etwas mitbekommen hätte. Ick hatte solche Angst.

Mit der flachen Hand stramm gegen den Himmel, so geht der deutsche Gruß … was wir denn wollen, fragte er dann so von oben herab.“

„Und was war dann, Omi?“, ich war froh, dass sie mir lebendig gegenübersaß.

„Naja, ick habe dann die Vermisstenanzeige uffjejeben, Otto saß neben mir, immer seine Hand auf meener Schulter, sagte aber keen Wort mehr.“

„Und dann?“

„Dann haben die uns wieder nach Hause jeschickt.“

„Und Hilda?“

„Hilda kam nicht. Wir warteten Tage und Wochen.“

„Und Karl?“

„Bleib´ ruhig, ick erzähl´ dir das ja allet. Max, der Mensch ist ein Rudeltier und die meisten streben der Masse nach. Man kann sich dat nich´ vorstellen, wie bestialisch und verroht Menschen sein können. Und wenn dann jemand aus der Art jeschlagen is, spiegeln die Dummen ihre Ängste auf diese Person. Die Frau hat niemandem etwas jetan, ihr Mann hat sie jeliebt, so wie se war. Dass sie Freundinnen einlud, war ihre kleine Freiheit, die Freiheit der Pusteblume, einmal im Wind über das Feld zu schweben …“

Ich sehe in das gütige Gesicht meiner Großmutter, die sicher keine Heldin war und nicht im Widerstand, bin aber auch froh, dass sie nicht verhaftet wurde.

„Und wie ging es weiter?“

„Meinst du, nachdem wir die Vermisstenanzeige aufgegeben hatten?“

Ich nicke.

„Mein Otto hat immer jewarnt, dass diese braune Brut zu allem fähig ist und Deutschland beschmutzen wird, wie wir es uns nich´ vorstellen werden. Hatte er doch am Ende Recht. Er wurde noch kurz vor dem Untergang idiotischer Weise zum Volkssturm einberufen.“

„Er war an der Front?“

„Nein, er jing im Rahmen des Volkssturms ins Zuchthaus und musste eenen Tach beim Köpfen helfen.“

Ich halte mir die Hände vor den Mund und starre meine Oma an.

„Er kam am Abend grau und klein zurück, konnte kaum gehen, redete keen Wort. Am nächsten Tach stand der alte Preuße nich´ uff. Ick habe ihn abjemeldet am Tor vom Zuchthaus und Doktor Wanger jerufen. Otto war krank und wurde ausgemustert! Een Glück!“

Meine Oma sieht nach unten, wackelt mit dem Kopf und kramt nach ihrem Taschentuch. Rosa Häkelspitze reibt über ihre Augen und ich frage mich, ob das nicht kratzt.

„Was hat Karl gemacht?“

„Ach dat war ooch son Jammer, der hat sich am Fensterkreuz uffjehängt.“ Oma schluchzt auf.

„Was?“, rufe ich.

„Ja, dat war eine widerliche Zeit.“

„Schrecklich!“

 „Diese braune Diktatur! Erst nach dem Krieg haben wir erfahren, dass man Hilda als Lesbe ins T4 jesteckt hatte. Die GESTAPO hat drüben in der Wohnung jewütet, als wir hier Wein tranken.“

„Was ist denn T4?“

„Ach meen Junge, das ist eine der unmenschlichsten Erfindungen dieser braunen Schweine, benannt nach der Tiergartenstraße 4, wo sie erdacht wurde. Nervenkranke, geistig Behinderte und sogenannte Perverse wurden einjesperrt und umjebracht, sie nannten dit Euthanasie. Sogar ´nen dämlichen Film haben se jedreht, der monatelang in allen Kinos lief: Ich klage an … “

Omas Kopf wackelt wieder, sie schiebt eine Karte über den Tisch. Auf der steht: „Liebe Trude, mir geht es gut hier in Ravensbrück, Eure Hilda“. Mehr steht da nicht.

„Die Karte bekamen wir nach Kriegsende, Hilda kam nie wieder.“

V3/9973