Von Thomas Gärtner

 

McIntosh verfehlte den Ball nur um Haaresbreite. Sein Schläger schlug mit großer Gewalt ins Leere, mit einer solchen Gewalt, dass es ihn vornüber riss und stürzen machte.

 

Da lag er nun im Staub wie ein zur Strecke gebrachter Tiger, vernahm, wie das Publikum erregt aufheulte, sah, wie es die Barrikaden niedertrat und den neuen Champ umringte, sah, wie die zahlreichen Verehrerinnen Blumensträuße und heiße Küsse verabreichten und hörte eine Lautsprecherstimme verkünden:

 

„Das Spiel ist aus, meine Damen und Herren! McIntosh ist geschlagen! Der neue Weltmeister heißt…“

 

McIntosh war nicht mehr Weltmeister. Er würde nie wieder Autogramme austeilen, weil niemand mehr scharf darauf war. Er würde von keinem Reporter mehr ausgefragt. Er war nicht mehr der Mann, auf den die Menschen zeigten, wenn er die Straße überquerte, und dann sagten: „Da geht der Große McIntosh.“

 

McIntosh war gar nichts mehr. Er war ein Versager. Und sonst nichts. Einfach nur ein Versager.

 

Im Grunde nahm er es nicht schwer, wie er nichts im Leben schwer nahm. Dennoch blieb er am Boden liegen, auch nachdem sich der Platz geleert hatte. McIntoshs Niederlage war so vollständig, dass es ihm unlogisch erschien, wieder aufzustehen.

 

Das Gehirn spielte ihm in rascher Folge Bilder vor, stets dieselben. Nicht etwa die Szenen, in denen er brillierte und seinen Gegner vorführte. Sondern immer nur die eine Szene. Eben die entscheidende, in der sein Schläger so jämmerlich daneben schlug und ein lautes und gerade deshalb so lächerliches „Wusch!“ hervorbrachte. Die Szene, in der er zu Fall und am Boden zum Erliegen kam.

 

Es bestand nun allerdings keine Veranlassung, sich deshalb Vorwürfe zu machen. Im Gegenteil, es hatte so kommen müssen, wenn nicht heute, so irgendwann später. Das wusste McIntosh, und das wussten alle. Es gab immer einen, der besser war als man selbst.

 

„Sie sind der ehemalige Weltmeister, nicht wahr“, hörte er die Stimme des Pförtners hinter sich sagen. McIntosh antwortete nicht. Er musste auch nicht antworten. Vielmehr konzentrierte er sich auf eine kleine Blume hinter dem Netz, das der neue Champ wohl hatte fallen lassen. Und diesem Blümchen sah er nun zu, wie es alterte und verwelkte.

 

„Sie können ja jetzt schon aufstehen, das Spiel ist doch vorbei“, sagte der Pförtner. Wieder sah McIntosh sich ausholen und zuschlagen, spürte, wie er seine gesamte Kraft in diesen einen Schlag legte, um dem Spiel ein Ende zu bereiten. Das hatte er dann ja auch tatsächlich geschafft, allerdings in einem anderen als dem beabsichtigten Sinne.

 

„Ich sehe, Sie möchten sich noch ein wenig erholen vom Spiel. Erholen Sie sich nur. Aber bitte nicht zu lange. Spätestens in einer halben Stunde muss ich die Ein- und Ausgänge zugesperrt haben. Sie müssen dann verschwunden sein, sonst bekomme ich Ärger.“

 

McIntosh lag am Boden, unwiderruflich, mit dem Schläger in der Rechten. Deutlich erkannte er das Gesicht seines Gegners, das sich nach seinem Sturz zu einer grinsenden Fratze verzogen hatte.

 

Es war keine Schande, unterlegen zu sein und zu verlieren, durchaus nicht. Sondern vielmehr eine Erfahrung, die jedermann zu jeder Tages- und Nachtzeit machte: Auf der Straße und in der eigenen Wohnung, im Büro, am Fließband, vor der Schulklasse, auf der Bühne, in der Kita, im Altersheim und auf dem Friedhof. Immer gab es Sieger und Besiegte, fast nie aber einen gerechten Kampf. Das Leben bestand geradezu aus einer Anhäufung kleiner und großer Niederlagen, kleiner, die man rasch vergaß, und großer, die sich tief einprägten und auf das weitere Leben einen nachhaltigen, schädigenden Einfluss ausübten. Auch der neue Champ würde eines Tages diese Erfahrung machen, würde hart aufschlagen, nicht wieder aufstehen und eine Lautsprecherstimme sagen hören: „Das Spiel ist aus, meine Damen und Herren! Wandenga hat versagt! Der neue Weltmeister heißt…“

 

Ja, wie hieße der neue Weltmeister dann eigentlich? McIntosh ging in Gedanken die Liste der möglichen Kandidaten durch. Smöre-Smörensen. Vielleicht würde es Smöre-Smörensen sein. Aber nein. Den hatte McIntosh bereits dreimal abgefertigt, und es war jedes Mal ein sehr kurzes Match gewesen. Nein, Smöre-Smörensen kam nicht infrage. Er verfügte nicht über das nötige Format.

 

O’Kelly, der Belgier? „Ich gehe jetzt“sagte der Pförtner in McIntoshs Überlegungen hinein. „Die Security ist verständigt und wird sich in spätestens einer halben Stunde um Sie kümmern. Tut mir leid, aber dies hier ist ein Tennisplatz und keine Obdachlosenunterkunft.“

 

Was der Pförtner da sagte, führte McIntosh zu einer interessanten Überlegung. Was wäre, wenn er jetzt tatsächlich aufstünde und nach Hause ginge, so, wie der Pförtner es verlangte? Würde Andrea ihn dann noch wiedererkennen? Würden die zwei kleinen Süßen ihn noch wiedererkennen? Es hieß ja, dass man nach Titelverlust gleich um mehrere Jahrzehnte alterte, noch vor der eigenen Haustür. Das Mindeste, was er zu erwarten hatte, waren Äußerungen des Typs:

 

„Was immer du jetzt auch sagst: Nenne bitte das, was ich da soeben im Fernsehen von dir gesehen habe, nie wieder Tennis.“

Ihm war klar, dass sich Andrea dem neuen Champ an den Hals werfen würde, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergab. Mit einem Loser liiert zu sein, war nicht ihr Ding, wohl aber, in Geld zu schwimmen.

 

Was also war mit O’Kelly? Gewiss, ein guter Mann.er spielte nicht schlecht Aber fahrig, Mal genial, mal wie ein blutiger Anfänger. Nein, O’Kelly würde auf Dauer nicht bestehen, so viel stand fest. Der rückhandschwache Gallager? Der ein Drittel seiner Aufschläge ins Netz setzte? Indiskutabel. Blieb noch Sulzfisch, der Deutsche. In jeder Hinsicht das Gegenstück zu Galager. Spielte sauber und präzise wie eine Maschine. Aber eben nur wie eine Maschine, ohne Ideen und ohne Phantasie. Sulzfisch war zu leicht aus der Fassung zu bringen, weil er auf neue Spielsituationen nicht zu reagieren wusste. Nein, Sulzfisch würde nicht der neue Weltmeister sein, dann schon eher der Pförtner.

 

McIntosh lachte lautlos in sich hinein, als er sich bildhaft vorstellte, wie Sulzfisch, der große Tennis-Profi, im Pförtner-Häuschen hockte und verdutzt umherschaute, als begriffe er die neue Situation nicht. Und sein Tennisschläger hinge dann selbstverständlich an einem schäbigen, verrosteten Nagel neben der Tür. Der Pförtner hingegen stünde, nicht minder bestürzt, unter freiem blauen Himmel, ganz in Weiß, umzingelt von Fernsehkameras und bedrängt von Pressemenschen, die ihm Erklärungen abverlangten, die er überhaupt nicht geben konnte.

 

McIntosh erkannte immer klarer: Kein Kandidat taugte zum Weltmeister. Die Tennis-Szene bot zur Zeit ein Bild des Grauens, eine Ansammlung von Halbkönnern, Aufschneidern und Schmalspur-Profis. Es fehlte die große Spielerpersönlichkeit, es fehlte das Genie.

 

Auch Wandenga war im Grunde ein Betrüger, Er hatte McIntosh um den verdienten Sieg gebracht – mit üblen Taschenspieler-Tricks, nicht aber mit seriösen Spielzügen. Es war McIntosh gewesen, der das Spiel über große Strecken hinweg dominiert und den Gegner ausgespielt und vorgeführt hatte, wie er es wollte! McIntosh war der große Hexenmeister; ihm allein gebührte der Titel und sonst keinem!

 

An diesem Punkt des Bewusstseinsstroms entschloss sich McIntosh zu einer drastischen Maßnahme. Es hatte alles mit einer Fähigkeit zu tun, die er fast schon vergessen hatte, weil er sie nie wieder einsetzen wollte. Vielleicht hatte er sie auch längst verloren. Es war eine teuflische Fähigkeit und vermutlich eine Gottesprovokation. Aber es war notwendig.

 

Nur noch ein Mal. Nur noch ein letztes Mal!

 

McIntosh spulte zurück zu der Szene, in der er Wandengas Schlag parierte und änderte seine Antwort in ein erfolgreiches Return ab. Er machte von dieser höchst eigentümlichen und unerklärlichen Gabe, sein eigenes Leben als einen Film zu sehen und einzelne Szenen darin gezlelt ansteuern und ändern zu können, nur äußerst selten Gebrauch. Im Grunde war dies hier jetzt das zweite Mal. Es war auch mordsgefährlich, denn keiner konnte vorhersagen, welche Folgen solch eine Änderung zeitigen würde, am wenigsten er selbst. Es könnten katastrophale sein.

 

Der Return war gut. So gut, dass es Wandenga beim Versuch, ihn zu parieren, vornüber riss und stürzen machte. Da lag Wandenga nun im Staub, und zwar für eine gefühlte Ewigkeit.

 

Das Spiel ging weiter, der Pokal rückte in greifbare Nähe.