Von Sabine Rickert
Charlie hatte verschlafen. In der letzten Nacht herrschten Rekordtemperaturen von neunundzwanzig Grad, die ihn lange wach hielten. Er hechtete in die Küche, um das Tierfutter vorzubereiten. Seine Mitbewohner hatten Vorrang, bevor er zur Arbeit fuhr. Bonifatius, der Zwergpinscher, hatte eine Allergie und benötigte schockgefrorenes Hundefutter. Er hatte vergessen, es gestern Abend aus dem Gefrierfach zu holen. Jetzt wurde es schock-aufgetaut, das übernahm die Mikrowelle. Der Kakadu Habakuk bekam heute frische Äpfel, zu seinem üblichen Futter aus Samen und Nüssen. Das war nichts gegen die Futtervorbereitung für Tallulah. Er brauchte zwar nur eine Dose öffnen, aber es war wichtig, die richtige Wahl zu treffen. Im Grunde wählte Madame selbst aus. Entweder fraß sie es, oder verschmähte das Mahl mit einem verächtlichen Blick, der Charlie jedes mal bis ins Mark traf. Sie hinterließ bei ihm ein Gefühl der Unzulänglichkeit, welches wiederum an seine Berufsehre kratzte, denn er war Tierpfleger, und zwar Leiter des Hauses für Großkatzen. Wenn die Futterwahl falsch war, rächte Tallulah sich mit irrwitzigen Aktionen. Charlie hatte oft eine Ahnung, was sie, wann genau bevorzugte. Die Fehlerquote lag aber bei fünfzig Prozent. Heute wird ein heißer Sommertag. Mittlerweile fünfunddreißig Grad Celsius, klarer Himmel, wolkenlos. Das bedeutete, Fischtag für die Diva.
„Warum ist sie nicht hier? Ich habe mich nur leicht verspätet, das wird doch nicht so ein Drama sein“, sinnierte er.
Er stellte den fertigen Napf an ihren Platz und eilte ins Bad.
Die Mikrowelle war im Einsatz, somit hatte er Zeit für eine erfrischende Dusche. Boni war ein Langschläfer.
Urplötzlich hörte Charlie ein durchdringendes Quieken, ein Aufschrei von Bonifatius. Es schepperte laut in der Küche. Die Maine Coon war eingetroffen, schätzte Charlie. Nachdem er sich schnell abgetrocknet hatte, schaute er vorsichtig aus dem Bad und sah, wie die Edelkatze den Pinscher in ihrem Maul hielt. Er rannte sofort zu ihr, doch sie hatte nicht die Absicht, Boni loszulassen, sondern flitzte mit ihm durch die Hundeklappe in den Garten. Tallulah war zu groß für einen Spielkameraden wie Boni. Er war eindeutig früher aufgewacht und an den Katzennapf gegangen. Er ist nicht die hellste Kerze auf der Pinschertorte. Das nahm sie ihm übel.
Charlie rannte in den Garten, um die Streithähne zu trennen. Tallulah schaffte es bis zum Jägerzaun, da ließ sie den Pinscher los und sprang hinüber. Boni war völlig fertig, hatte aber keine Verletzungen. Die Katze apportierte das Hündchen immer wie ein Katzenkind.
Charlie nahm den Kleinen auf den Arm und trug ihn zur Terrassentür.
„Schitt, ich habe den Riegel nicht hochgeschoben, damit sie sich aufdrücken lässt. Nachts ist sie logischerweise zu.“
Der Ersatzschlüssel war auf der anderen Straßenseite, in dem Haus seines Bruders und dessen Familie. Ohne Kleidung, mit einem traumatisierten Pinscher auf dem Arm, stand er im Garten und versuchte, eine Lösung zu finden. Durch die Scheibe sah er den Kakadu. Grinste ihn da Habakuk aus seinem Käfig an und schob sich dabei genüsslich einen Apfel in den Schnabel? Unverschämt!
Charlie lief in Richtung Arbeitsschuppen, dort hoffte er, etwas zum Überziehen zu finden. Seine Latzhose für die Gartenarbeit wäre jetzt ideal, dann war er gleich für die Arbeit angezogen. Er brauchte nur hinüber auf die andere Straßenseite. Bonifatius war zu klein, um seine Blöße zu verdecken.
Im Schuppen durchwühlte er den Spind, er erinnerte sich, dass er die Latzhose im Zoo gelassen hatte. Und jetzt? Mal schauen, ob etwas Nützliches in der alten Truhe lag, die schon auf den Sperrmüll wartete. Kleidung, ein Bettlaken oder wenigstens ein Handtuch würde ihm reichen.
Er zog einen Kaninchenmantel heraus. Das war`s, nur dieser Mantel nahm die ganze Truhe ein. Er hatte, seit seinem Einzug, nie in das alte Teil reingeschaut. Die hatte jemand vergessen.
Ein Patchworkmantel, der aussah, als hätte ein Kaninchenfreund seine Lieblinge zu einem Mantel verewigt. Echt schräg! Er zog ihn an und versuchte, den muffigen Geruch auszublenden. Der Mantel war lang, er reichte ihm bis über die Waden. Charlie nahm Boni auf den Arm, der sich in die Kaninchenarme kuschelte und sah zu, dass er zum Haus seines Bruders kam. Er hoffte, dass ihn draußen auf der Straße so schnell keiner erkannte. Ein frommer Wunsch, das ganze Dorf schien auf den Beinen zu sein. Er hörte seinen Namen, lautes Gelächter und witzige Bemerkungen. Es hatte sich schon eine lange Schlange vor der Bäckerei gebildet. Dort gab es jeden Morgen frische belegte Brötchen und Coffee to go. Er ignorierte die Rufe und konzentrierte sich auf sein Ziel. Drüben angekommen klingelte er mehrfach und klopfte mit Nachdruck gegen die Haustür.
„Bitte, bitte lass sie da sein“, flehte er innerlich.
Die Tür öffnete sich und seine kleine Nichte stand vor ihm. Sie starrte ihn mit großen Augen von oben bis unten an, bevor sie fragte: „Onkel Charlie, sind das echte Tiere?“
„Ja, Kaninchen!“
Sie streichelte mit ihren kleinen Fingern über den Mantel.
„Annabelle, rufst du mal die Mama, ich habe es eilig?“
„So weich, wie das Kaninchen von meiner besten Freundin. Welche Namen haben sie?“
„Nicht jetzt Annabelle, hol die Mama! Wieso öffnest du überhaupt die Tür, du bist erst fünf?“
„Ich werde bald sechs und bin ein Schulkind. Ich will einen Namen“, forderte sie forsch.
„Flauschi, hier unten rechts. Hol die Mama!“
„Mamaaa, Onkel Charlie ist hier, mit vielen Kaninchen und eins heißt Flauschiii.“
„Das wird Margit garantiert antreiben“, hoffte er.
Charlies Schwägerin raste vom Keller hoch zur Haustür und rief laut: „Charlie, bloß keine Tiere, Annabelle du sollst doch nicht die Tür … .“
Sie stand neben der Kleinen und starrte ihn an.
„Welcher davon ist Flauschi?“ Ihr Gesicht verzerrte sich langsam, glucksende Geräusche kamen aus ihrem Hals. Dann fing sie fürchterlich an zu lachen. Sie krümmte sich und setzte sich auf die Eingangstreppe.
„Bitte Margit, ich brauche meinen Ersatzschlüssel, ich habe mich ausgesperrt und mir ist sehr, sehr heiß.“
„Onkel Charlie, zieh doch den Mantel aus, ich kümmer mich gerne um die Kaninchen.“
„Nein, Annabelle, ich brauche sie im Moment selbst.“
„Das verstehe ich, ich würde Molly auch gerne überall mitnehmen, aber ich darf nicht.“
Molly war Annabelles Meerschweinchen. Charlie hatte sie ihr zum fünften Geburtstag geschenkt, den Rudolf zu Weihnachten und die Hanna zu Ostern. Mit Erlaubnis der Eltern, die sie ihm nach dem Osterfest verwehrten.
„Wenn ich einen Mantel aus ihnen mache, kann ich sie überall mit hinnehmen.“
Der Schweiß rann Charlie mittlerweile unaufhaltsam von der Stirn. Mit dem Ärmel abwischen war keine Option, da der Mantel irrsinnig fluste. Er versuchte schon die ganze Zeit, die Flusen aus seinem Mund zu entfernen. Annabelle streichelte weiter intensiv die Patchworkstücke, dabei fielen unten zwei ab.
„Onkel Charlie, das wollte ich nicht, darf ich die behalten? Ich pass auch ganz gut auf sie auf. Du musst mir nur die Namen alle sagen.“
„Später Annabelle, du kannst sie haben.“
Jetzt fing Bonifatius einen Kampf mit dem Kaninchenärmel an und riss ihn von der Schulter ab. Der Mantel war so brüchig, dass der Ärmel gleich in einige Stücke zerfiel.
„Bitte Margit, gib mir den Schlüssel oder zumindest eine Hose von meinem Bruder, bevor Boni und Annabelle sich den Mantel teilen. Ich habe nichts drunter.“
„Das ist das dritte Mal in diesem Monat, war es wieder Tallulah?“
Charlie nickte.
„Die Katze hat dich voll im Griff, sie hat es raus, wie sie dich morgens aus dem Haus bekommt.“ Sie unterdrückte eine weitere Lachsalve und atmete ruckartig durch die Nase aus. Sie drückte ihm den Schlüssel in die Hand, was so wirkte wie ein Startschuss zum Hundert-Meter-Lauf. Charlie gab alles, um auf die andere Straßenseite zu kommen. Den Schlüssel schon im Anschlag, um keine kostbare Zeit zu verlieren. Doch er hatte wiederum nicht mit Tallulah gerechnet. Sie stand an seiner Hausecke und sprang ihn von hinten an, kaum das er an der Haustür angekommen war. Der Mantel löste sich von der rechten Schulter, wo der Ärmel fehlte, herüber zur Linken und hing dort an seinem Arm.
Charlie überlegte kurz: „Opfere ich Boni und setzte ihn auf den Boden, wo Tallulah schon auf ihn wartet, oder lass ich den Kaninchenumhang komplett fallen?“
Was ihn in diesem Moment des Grübelns völlig aus dem Konzept brachte, war der schrille Schrei seiner Nichte. Er drehte sich um, der Mantel fiel vom Arm und er stand, wie Gott ihn geschaffen hatte vor seinem Haus. Mit einer übergroßen Katze, die ihm erwartungsvoll um die Beine kreiste und einem Pinscher, der mittlerweile vor lauter Angst schon auf seiner Schulter saß. Die Schlange vor der Bäckerei links gegenüber klatschte Applaus. Charlie war völlig perplex und rief: „Hat mal einer einen Latte?“
„Klar doch!“, kam prompt die Antwort von einer jungen Frau, die schon auf ihn zu lief.
„Für den Vogel mit dem frühen Wurm.“ Dabei schaute sie demonstrativ auf sein bestes Stück.
Charlie grinste und nahm dankbar den Latte macchiato entgegen. Er prostete Tallulah zu und meinte: „Wir werden immer besser, du sprudelnde Quelle voller Ideen. Beim letzten Mal gab es nur ein trockenes Brötchen für uns und davor war es ein alter Muffin.
V3
9355