Von Sabine Reifenstahl

Fortuna betätigt sich gern als launische Begleiterin mit einer lausigen Art von Humor. Diese Lektion lernte ich auf schmerzhafte Weise; nach Lachen war mir nicht zumute. Und beten? Niemals! Bevor ich kniefällig im Staub krieche, sterbe ich lieber stehend. Jedenfalls behauptete ich das gern im jugendlichen Übermut und rechnete nicht mit dem sichelschwingenden Freund Hein.

Als Heide lebte es sich ganz gut, die Pfaffen konnten ihren Kirchenzehnt woanders einstreichen, mir fehlte zeitlebens der Bezug zu Gott – oder vielmehr zur Kirche. So wurde ich vollkommen unvorbereitet vom Schnitter heimgesucht, an eine letzte Ölung war ja ohnehin nicht zu denken. Aber eines nach dem anderen – und zuvorderst der Spaß.

Um den zu haben, brauste ich am Morgen der Frühlings-Tagundnachtgleiche eine einsame Landstraße entlang. Mit Fauns melodischem Pagan-Folk stimmte ich mich aufs Fest der Ostera ein: Freunde treffen, Erfahrungen austauschen, zu Ehren der Göttin meine Fruchtbarkeit zelebrieren … So genau stand der Plan nicht fest, aber ein paar verlockende Wicca würden dort aufschlagen und mit mir ums Feuer tanzen. Die Vorfreude heizte die Regionen abwärts des Gürtels an. Ein Kerl sollte seine Gesellschaft nicht nur an eine Frau verschwenden, wenn er viele glücklich machen kann! Nicht grundlos statteten die Götter mich mit den Attributen eines Adonis aus, der sich vor Verehrerinnen kaum retten konnte. Mein Zwinkern ließ Frauenherzen wie Bassboxen hämmern. So versprach ich mir einen vergnüglichen Tag und wurde vom vorzeitigen Ende vollkommen überrascht. Wer rechnet auch mit einem dämlichen Hasen, der nichts Besseres zu tun hat, als im Gebüsch auf der Lauer zu liegen, um mir im schlechtmöglichsten Moment vors Auto zu hoppeln? Dem langohrigen Gesandten der Ostera konnte ich schlecht ein Reifenprofil ins Fell prägen.

Ohne Nachdenken verriss ich das Lenkrad. Mit erschreckender Langsamkeit kam der einzige Baum weit und breit auf mich zu: eine knorrige, weit verzweigte Esche, deren Wurzelwerk zum Teil oberirdisch lag und meine letzten Meter irdischen Daseins ausgesprochen holprig und qualvoll gestaltete. Dann krachte es ohrenbetäubend – Blech auf Baum. Mir schien, Yggdrasil selbst empfänge mich mit zornigem Ächzen.

So kam es, dass ich mein Leben an einem Möchte-Gern-Weltenbaum aushauchte, ohne dem namenlosen Adler in der Krone, dem in den Wurzeln sein Unwesen treibenden Drachen Nidhöggr oder dem zwischen beiden hin- und hereilenden Eichhörnchen Ratatöskr zu begegnen. Die Götter hatten einfach mein Licht ausgeknipst! Mir blieb nicht mal Zeit zur Vorbereitung auf den Weg nach Hel; ein Nachleben in Walhalla mit ruhmreichen Kämpen, viel Met und guter Laune konnte ich getrost abschreiben. Mein ruhmloses Ende würde keine Walküre auf den Plan rufen, höchstens die hässliche germanische Totengöttin Hel.

Danke, ihr Nornen, die ihr meinen Schicksalsfaden zum ungünstigsten Zeitpunkt durchtrenntet! Ich hatte noch so viel vor! Zuerst einmal Janine, Nadine und Yvette mit der Fülle meiner Lenden beglücken. – Verflucht noch mal, eine Ewigkeit mit diesem angestauten Füllhorn von Lust wird kein Vergnügen.

Danke, ihr boshaften Weibsbilder!

»Dich hat’s ja bös erwischt!«, riss eine amüsierte Stimme mich aus den selbstmitleidigen Betrachtungen in die schändliche Wirklichkeit zurück.

Obwohl ich nichts fühlte, sah ich ganz schön ramponiert aus. Kurz kam mir die Frage in den Sinn, wie ich mit dem zerschmetterten Bein überhaupt gehen konnte, sah dann zu meinen Füßen einen in verschiedenen Farben schimmernden Weg, ähnlich einem Regenbogen. Bifröst?

»Siehst nicht aus, als hättest du die letzte Ölung bekommen, Bursche. Dann mach dich mal auf die Reise in die unteren Etagen gefasst«, kicherte der Greis im gepflegten Nachthemd und spazierte fröhlich pfeifend vor mir her. Ihn besuchte der Schnitter wahrscheinlich am Lebensabend gnädig im Bett, während er mich unbarmherzig aus meiner saftstrotzenden Jugend riss.

Seltsame Klänge drangen an mein Ohr. Es dauerte eine Weile, bis der Groschen fiel: himmlische Harfenklänge. Na prima!

Da tauchte sie auch schon aus dem Nichts auf, riesig, goldbeschlagen, mit wundersamen, ständig wechselnden Schnitzereien, die lebendig wirkten. Das ist dann wohl die Himmelspforte und der freundlich lächelnde alte Knacker davor vermutlich Petrus.

Mir lief ein Schauer eiskalt den Rücken hinab, und zum ersten Mal wurde mir angst und bange. Mein Leben lang verleugnete ich Kirche und Gott, blätterte nur aus Neugier in der Bibel. Ausgerechnet vorm himmlischen Gericht zu landen, brachte meinen Paganismus gewaltig ins Wanken.

»Na, Hose voll?«, lästerte der Alte, bevor er sich vor dem goldlockigen Herrn im schneeweißen Wallegewand tief verneigte. »Hier bin ich, ein gottesfürchtiger Mann. Ich ging regelmäßig zur Kirche, hab all meine Sünden gebeichtet. Im letzten Jahr durchquerte ich die Heilige Pforte, und der Pfarrer gab mir die Sterbesakramente. Ich bin gut auf den Himmel vorbereitet!«

Der blonde Herr trat näher, warf mir einen seltsamen Blick zu, verdrehte die Augen und zuckte die Achseln. Mit ein paar Schritten umrundete er meinen Begleiter. »Martin Alfred Treulos, wahrlich hast du alles getan, um einen Platz im Himmel zu erschleichen! Doch Gott ist nicht bestechlich, weder durch Ablass noch Reliquien!«

Der Angesprochene erbleichte. Obwohl kaum möglich, übertraf seine Totenblässe das helle Linnen des bauschenden Hemdchens. »Ich hab mich immer gottesfürchtig …«

»Das zu beurteilen überlass mir!«, unterbrach Petrus. »Als Kind hast du Katzen zum Spaß die Schwänze angezündet und deinen Mitschüler gequält, bis er die Schule wechselte. Du hast gehurt, gelogen, betrogen und deine Frau geschlagen. Investmentbanker landen selten im Himmel. In der Regel besitzen sie ein kaltes Herz und eine schwarze Seele, woran weder Beichte noch großzügige Spenden etwas ändern. Du bist Schuld am Bankrott vieler Firmen, an der Armut unzähliger Menschen, während du dir jeden nur möglichen Vorteil verschafftest. Denkst du, Gott gefällt das?«

Der Greis schluckte mehrmals und schnappte hilflos nach Luft. »Ich hab gebeichtet! All meine Sünden sind mir vom Priester vergeben worden. Der Platz im Himmel ist mir sicher!«

Hinter der Tür grollte es wie bei einem Gewitter.

Petrus nickte, als habe er eine Nachricht erhalten und zog an einem Klingelseil. »Am Ende zählen deine Taten und wie du gelebt hast! Du müsstest doch am besten wissen, wie wenig man haltlosen Versprechen trauen kann. Statt ehrlich zu bereuen, legtest du nur pflichtschuldig die Beichte ab. Deine Seele ist verdorben und muss geläutert werden!«

Der Boden tat sich unter Martin Alfred Treulos auf, und Sekunden später purzelte er hinab in ein flammendes Inferno.

Ich hörte Rockmusik und wildes Lachen. Erleichtert atmete ich auf. Ganz so schlimm kann’s da nicht sein! »Machen wir es kurz, Petrus, zieh gleich noch mal. Ich bin Heide und war nie Christ, nur ein paar Mal in der Kirche, weil ich die Architektur bewunderte.«

Der weißgewandete Mann umrundete mich und berührte dabei Arme, Beine, Bauch. Ehe ich mich versah, trug ich statt zerrissener Jeans und blutigem Shirt ein knöchellanges Nachthemd. Ein besserer Begriff fiel mir für das himmlische Wallegewand nicht ein.

»So siehst du schon manierlicher aus, Christian. Du bist also ein schlechter Mensch?«

Angestrengt überlegte ich, dachte über mein Leben nach. Weder flambierte Katzen noch drangsalierte Mitschüler gehen auf mein Konto, aber ein Unschuldsengel bin ich nicht! Nahm mit, was ich kriegen konnte, genoss das Leben in vollen Zügen! »Das können nur andere beurteilen!«, wich ich einer direkten Antwort aus. »Aber ich feiere die alten Feste, huldige heidnischen Göttern …«

»Denkst du wirklich, es interessiert Gott, wie du ihn nennst, oder ob du ihn regelmäßig anbetest? Wir messen die Seelen an ihren Taten, die Herzen am Gewicht der Gefühle! Und der kleine Ratatösk hat uns nichts Nennenswertes über dich gezwitschert. Du scheinst ein rechtschaffenes Leben geführt zu haben, hast nur selten gelogen, niemandem willentlich geschadet, nicht betrogen und keinen verletzt. Im Gegenteil, du bist Vegetarier, kämpfst fürs Tierwohl, warst immer für deine Freunde da, gabst den Armen, auch wenn du selbst nicht reich bist! – Nun, es war nicht sonderlich klug, sich über die Himmelsmusik auszulassen. Aber im Vertrauen, niemand kann den ganzen Tag Harfengeklimpere ertragen. Also sei dir vergeben! Tritt ein!«

Damit öffnete sich die Pforte lautlos. Zu meiner Überraschung kamen mir ein paar tanzende Jugendliche mit Rastazöpfen und bunten Strickmützen entgegen.

Mit rigorosem Knall krachte das Tor zu, und ich saß fest auf Wolke Sieben. Als Erstes erhielt ich Harfenunterricht, vermutlich als Strafe für meine Lästereien. War weniger schlimm als befürchtet. Sphärische Klänge erheben die Seele! Auch ansonsten fiel mein Abgang ganz anders aus, als ich ihn mir immer vorgestellt hatte. Jedenfalls landete ich weder in Helheim noch Walhall, sondern an dem Ort, den ich am wenigsten erwartete. Und statt Langeweile bekam ich mächtig zu tun. Ich musste mich um Heiden kümmern, die den Umzug hierher deutlich schlechter verkrafteten als ich. Für manche stürzte das gesamte Weltbild zusammen, und sie brauchten eine Weile zum Eingewöhnen. Erst, wenn sie diesen Ort akzeptieren, dürfen sie den Rest erfahren: die Wahrheit über Ragnarök, dem Schicksal der Götter und wie das alles ins christliche Weltbild passt.

Abends sitze ich häufig mit Baldur beim Schach. Der schöne Gott erzählt von den alten Zeiten, als ein Mistelzweig ihn versehentlich tötete – und mit leuchtenden Augen von seiner Auferstehung …

Doch das ist eine ganz andere Geschichte!