Von Marco A. Rauch

 

In einer Welt, in der nichts ist, wie es sein soll, kann nichts sein, wie es ist.

 

Leise fließt das Wasser über den Sand, zieht sich zurück, hinterlässt weißlichen Schaum. Ein weiteres Mal kehrt es zurück, bedeckt meine nackten Füße bis zum Knöchel und entfernt sich. Wie ein anfangs scheues Begrüßen wandelt es sich zu einem neckischen Spiel zwischen Vertrauten. Versonnen wandert mein Blick in die Ferne, zu den rötlich glühenden Streifen, die sich überlagern und ineinanderfließen. Wie von verträumten Engeln gemalt, schmücken sie den Horizont und erwecken ein Gefühl unendlichen Friedens. Die milde Brise legt mit sanfter Hand eine Haarsträhne in mein Gesicht, spielt mit ihr und lässt sie wieder frei. Unter meinen Händen spüre ich warme Körnchen, die behütend meine Haut erwärmen und die Hände bis zum Gelenk bedecken. Ich schließe meine Augen, spüre Wärme unter den Waden, höre das leise Rauschen der Brandung, die unendliche Ruhe, die mich umhüllt wie weiche Decken den Säugling in der Wiege.

Ganz langsam ziehen sich meine Mundwinkel nach oben, mein Gesicht widerspiegelt den Wunsch, diesen Moment auf ewig zu bewahren, ihn festzuhalten und in ein Kästchen zu legen. Als Zufluchtsort für andere Tage. Langsam wölbt sich mein Bauch und zieht die Abendluft tief in meine Lunge. Ein leises Seufzen entweicht meinem Hals, während ich ausatme. Ich lege meinen Kopf in den Nacken, sinke nach hinten in den warmen Sand und genieße mit entspanntem Blick die funkelnde Unendlichkeit ferner Träume. In meinem Herzen herrscht tiefe Dankbarkeit, dass ich hier leben darf, weil unser Bootsverleih gut läuft und weil Nadia und ich so glücklich sind.

»Hey mein Süßer, schläfst du schon?« Lachend setzt sie sich auf mich, legt beide Hände auf meine Wangen und küsst mich zärtlich. Langsam richte ich mich auf, nehme meine Hände aus dem Sand und lege sie an ihren wohlgeformten Hintern, der nur von einem knappen Bikini verdeckt wird. Genüsslich streichle ich darüber, dann wandern die Hände hinauf. Schnell ist das Oberteil verschwunden. Während unsere Zungen innig miteinander spielen, streicheln meine Hände ihre kleinen Brüste, erspüren meine Daumen die Erhebung ihrer Erregung, gleiten sanft zu den Hüften. Kurz darauf sind wir nackt in der kleinen, gut verstecken Bucht, Nadia sitzt auf mir und stöhnt lustvoll, als wir uns vereinen. Mit rhythmischen Bewegungen steigern wir uns tiefer und immer tiefer in einen Rausch an diesem Ort, der dem Wort Paradies nicht im Entferntesten gerecht wird.

Er ist das oberste Stockwerk des wahrhaftigen Himmels, der höchste Punkt auf Wolke sieben, der sinnlichste Traum eines Garten Eden, der einst unser war und wieder ist. Nach dem letzten Aufbäumen rollen wir auf den Rücken und beobachten mit zufriedenen Gesichtern das andächtige Schimmern über uns, während die letzten der verträumten Engel zartrote Striche am Horizont zeichnen. Ich spüre eine Form von Magie, die mich vollkommen in sich aufnimmt. Nackte Haut, unten erwärmt durch weichen Sand, oben vom leichten Wind zärtlich gestreichelt. Das muss das absolute Sein sein, ein Aufenthalt in der Präsidentensuite am höchsten Punkt des Himmels, von Gott und seinen Engeln persönlich eingerichtet und betreut. Langsam schließen sich meine Augen, erhaschen ein letztes Funkeln, schließen sich.

Als ich erwache, glänzt der Morgen schon in prachtvollem Gewand. Ich wische die feinen Körnchen von meinen Händen und reibe über meine Augen. Was ist das an meinem rechten Fuß? Ein altes Fischernetz? Irritiert sehe ich zum Strand und traue meinen Augen nicht. Überall liegt Zeug. Ein roter Fünfliterkanister, Papiere, einige Bücher. Wo kommt der ganze Müll her? Neugierig gehe ich den Strand entlang und betrachte die weit verstreuten Sachen, als Pablo auf mich zukommt.

»Heiko, gut dass du da bist. Ein Fischerboot ist auf ein Riff gelaufen. Hilfst du mir?«

»Ein Fischerboot? Ist das hier schon mal passiert?« Mühsam krame ich in meinen Erinnerungen. In den letzten 15 Jahren, seit Nadia und ich hier sind, kann ich mich nicht an so etwas erinnern.

»Nein, nicht dass ich wüsste.« Er wirkt ebenfalls erstaunt, so etwas hat es hier noch nie gegeben.

Pablo ist der Strandwart dieses Abschnitts, natürlich helfe ich ihm. Nadia kann das Geschäft auch zwei Stunden alleine führen. Doch es dauert bis zum Abend, all das Zeug vom Strand zu entfernen.

Zum Dank lädt Pablo uns in die angesagte Strandbar Sweet-Isle ein. Der Inhaber glänzt jeden Tag mit einem neuen Rezept, eines besser als das andere. An diesem Abend jedoch probiere ich etwas so Sonderbares wie noch nie zuvor. Ein Cocktail namens Holy Cow. Eierlikör, karibischer Rum, Gurkensaft, Zitronensaft, etwas Zimt und ein Schuss Erdbeersaft. Das zweite Glas schmeckt eindeutig besser als das erste. Wir amüsieren uns, genießen den atemberaubenden Sonnenuntergang und das Gefühl unendlicher Freiheit nahe dem Rauschen des Meeres.

Irgendwann später verabschieden wir uns und gehen nach Hause. Der Tag war lang und anstrengend, so landen wir schon bald im Bett und kurz danach im Reich der Träume.  

»Nummer 432 hat eine Fehlfunktion, sofort prüfen!«

Meine Augen öffnen sich, warum bin ich unter Wasser? Arme und Beine, ich kann sie nicht bewegen, auf meinem Gesicht eine Maske. Atmen kann ich, aber was ist das hier? Hektisch drehe ich den Kopf, sehe ovale Scheiben. Hinter ihnen ein Sternenhimmel mit kaltblau schimmernden Punkten. Mühsam versuche ich zu erkennen, was außerhalb des Gefäßes ist, in dem ich gefangen bin. Ein Licht nähert sich von unten, ich beginne zu erkennen, es ist … ein Flugzeug? Es kommt näher, immer näher, erhellt die Umgebung. Ich erkenne mit Schrecken, da sind tausende von Kabinen übereinander und nebeneinander, aus allen kommen dicke Leitungen. Ein riesiges Gewölbe oder eine Halle. Entsetzt blicke ich nach rechts, mein Nachbar in der nächsten Kabine, er scheint zu schlafen. Linke Seite gleiches Bild. Über mir rumpelt es, ich höre ein Kreischen, Klopfen, Geklapper. Plötzlich spüre ich starken Schmerz an meiner Wirbelsäule, als würde etwas Dickes darin stecken. Und urplötzlich erinnere ich mich an den Tag, als sie auf die Erde kamen. Entsetzen peitscht durch meine Eingeweide wie eine neunschwänzige Katze. Schon im nächsten Moment spüre ich unendliche Müdigkeit, gefolgt von tiefer Behaglichkeit. Scheiße, was haben die mir gegeben? Das Zeug ist echt …

Mit lautem Schrei patsche ich nach dem Schalter der Nachttischlampe, bis sie angeht. Nadia schreckt hoch, ergreift mein Gesicht. »Heiko, was ist los? Ein Traum?«

Ich spüre ihre Hände, den Schweiß auf meinem Körper, mein Herz im Galopp. Entsetzt taste ich meinen Rücken entlang, lege beide Hände aufs Gesicht, stöhne, fahre durch meine Haare. Großer Gott! Aufgeregt erzähle ich, was ich gesehen habe, zerrissen zwischen hier und dort. Nadia nimmt mich in den Arm, streicht meine Wahrnehmung mit sanften Worten glatt, lässt meine Sinne Boden finden und gibt meinem Herzen einen Hafen. Ich spüre, wie ich langsam ruhiger werde, mein Zittern lässt nach. Ihr Geruch, ihre Stimme und die vertraute Umgebung bilden einen Hort, der uns sanft umschließt. Die Erinnerung verblasst, langsam kehrt Ruhe in mir ein, es war ein böser Traum. Etwas später steht sie auf und geht nackt in Richtung Bad. Wie automatisch folgt mein Blick ihrem süßen Hintern, beobachtet ihn, seine Bewegungen, das kleine Elfen-Tattoo. Und einen Moment ist mir, als würde es flackern.

 

Derweil, irgendwo ganz weit oben.

»Sieh, Gabriel, wieder eine Rechnung von Luzifer. Die behelfsweise Aufbewahrung der Neuankömmlinge in den Übergangskammern dort unten verschlingt ein Vermögen. Immer wieder gibt es Fehlfunktionen, die das Erleben der Seelen trüben. Steckt unser transzendentes Heimkehrsystem immer noch fest?«

»Ich fürchte, überall fehlt Fachpersonal.«

 

 

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